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Оглавление»Analoge Pissrinne!«
Muffi hatte dem Älteren das schöne Taschentuch mit den Verzierungen aus dem Mund gezogen und das erste was Letzterem eingefiel, war
»Analoge Pissrinne!«
Es gefiel ihm so gut, dass er es einfach wiederholte.
Der Ältere hatte das wohlgeformte, mit intelligenten Falten durchwirkte Gesicht von Menschen auf den Titelseiten von Apothekenzeitschriften. Das sind Menschen, die zwar von zahlreichen Krankheiten befallen sind, die aber dennoch ihr eigenes selbstbestimmtes Leben ohne Beeinträchtigungen führten und sehr schön waren. Tuffi, so hieß der Ältere, war eigentlich kerngesund. Er trug gewöhnlich feine, teure Anzüge, aber nicht hier. Jemand musste ihn mit einer unnachsichtigen Arroganz für modische Belange in eine sackähnliche, ausgeleierte Latzhose gesteckt haben, und wer Tuffi kannte, wusste natürlich sofort, dass dieser Hosensack die größere Demütigung für ihn war, als der Knebel, den er gerade noch im Mund gehabt hatte. Diese Latzhose war etwas, was Lehrer in ihrer Freizit trugen, wenn sie sich fein herausputzen wollten. Tuffi war kein Lehrer, er hatte einen ganzen Konzern in seiner Hand. Tuffi hatte kurz geschnittene, schöne graue Haare und seine Augen leuchteten, als ob ihm während seines Aufenthalts auf dem Wagenboden eine interessante Erkenntnis gekommen wäre. Er sah zu Muffi nach oben, und drückte seine erweiterte Erkenntnis noch einmal mit einfachen Worten aus:
»Du bepisste Pissrinne! Eine Sanofair Pissrinne auf irgendeiner Autobahnraststätte hat mehr Ausstrahlung als du.«
Muffi lachte. Aus vollem Herzen. Er hatte schon immer den Humor seines Schwiegervaters gemocht. Erheitert griff er in seine Hosentasche und zog ein Syderco Perrin Klappmesser aus der Tasche, ließ die Klinge aus dem Schaft springen, beugte sich konzentriert nach unten und schnitt die Fuß-und Handfesseln auf. Dann verebbte sein Lachen, eine fadenscheinige Spur davon blieb ihm als Grinsen im Gesicht.
»Bitte, Tuffi«, sagte er mit der Freundlichkeit eines Plastischen Chirurgen.
Tuffi klopfte sich neben dem Auto stehend die Latzhose ab, als ob er damit die demütigende Hässlichkeit daraus vertreiben könnte. Er streckte die Glieder, und Muffi beobachtete ihn dabei mit Augen, die ihm wie schräggestellte Kürbiskerne unter der Stirn lagen. Als Tuffi fertig war, die antike Hose dadurch aber natürlich in keiner Weise irgendetwas gewonnen hatte, sagte er:
»Kannst du mir mal sagen, was das alles soll? Fährst mich – wie lange eigentlich – durch die Gegend. Welche Gegend? Wo sind wir hier überhaupt?«
»Es waren drei Stunden. Drei Stunden gen Süden. Was meinst du, wo könnten wir sein? «
»Kackmist! Was soll das? Soll das Wer weiß denn sowas sein?«
Muffi schwieg volllippig.
»Also was soll das, du Pissrinne? Soll das irgendein dummes Spiel werden, irgendein psychologischer Kram? Was willst du erreichen mit diesem Mist?«
»Mmh.«
Muffi schwieg nachdenklich, als ob er darüber nachdachte, zu was das alles führen sollte. Er sah in die Sonne, blinzelte, machte eine lustige, quirrlige Bewegung mit den Lippen, und schwieg einfach weiter.
»Und?«
»Ich bin dein Schwiegersohn, schon vergessen?«
»Eine Pissrinne bist du, Arschloch. Du bist auf dem Papier mein Schwiegersohn, das stimmt schon. Aber du hast es bis jetzt nicht geschafft, dass ich mehr darin sehe als eine gesellschaftliche Niederlage. Eine gesellschaftliche Niederlage bist du. Wenn da nicht meine Tochter wäre, die sich aus romantischen Gründen für dich entschieden hätte, wärst du einfach nur eine Null.«
Er lachte einmal kurz auf. Er schien erleichtert.
»Aber natürlich, eine Null«, wiederholte er mit sichtlicher Erleichterung, wie als hätte er gerade eine schwere Rechenaufgabe gelöst. Die Gewissheit, eine verwendungsfähige Lösung gefunden zu haben, ließ ihn lächeln.
Tuffi sprach klar, mit einer tragenden Stimme wie vor der versammelten Führungsmannschaft seines Unternehmens. Das Wort Null brachte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, und er begann sich zu entspannen.
»Dass du mich hasst gefällt mir irgendwie«, sagte Muffi.
»Hassen? Eine Null? Wie kommst du da drauf? Ich mag diesen hässlichen Anzug nicht, in den du mich gesteckt hast. Das ist alles.«
»Lassen wir das.«
»Ja, lassen wir das Ganze«
»Bis auf ein Detail«
»Was?«
»Ich will den Erzherzog-Josef Diamanten.«
Tuffi lachte ein morbides, trockenes Lachen, dass auf einer Beerdigung nicht als anstößig empfunden worden wäre.
»Ich sag doch, Pissrinne. Dich haben sie von oben bis unten vollgepisst, du bist so nass, man könnte dich ein Dutzend mal durch ‘ne Trockenmangel ziehen, du kämst immer noch so durchweicht heraus wie ein bepisster Keks in Kuhscheisse.«
»Diese schöne Sprache höre ich sonst nicht von dir.«
»Ich verstehe nicht, was das soll. Du weißt es, jeder, der es wissen will, weiß es: Der Diamant ist verschollen. Es gibt natürlich noch ein paar alte Fotos, vielleicht geht es dir ja darum. Du kannst ihn dir auf alten Fotos anschauen, ich kann dir sogar noch die Originale geben. Dafür ist es noch nicht zu spät. Aber für dich ist es zu spät, vor allem dann, wenn ich mich demnächst um dich kümmern werde.«
Muffi setzte sich einen traurigen Blick ins Gesicht. Wie einer von diesen traurigen Clowns, die mit einem Clownsanzug in schwarz-weißen Karos auf einer Holzstange sitzen und zum Fenster hinausschauen. Sehr traurig und sehr sehnsuchtsvoll aus dem Fenster schauen. Was Muffi noch theatralischer und sehnsuchtsvoller gelang als so einem Clown mit den schwarz-weißen Karos. Vielleicht lag es daran, dass er eine Vorstellung davon hatte, wie es aussah, wenn Tuffi sich um jemanden kümmerte.
Tuffi sah über die Felder hinweg und sog die Luft ein. Er schien es sogar ein wenig zu genießen, mal kurz etwas anderes sehen zu können.
Dann schwiegen beide eine Zeit lang. Es war ein unruhiges, unaufgeräumtes Schweigen.
Irgendwann begann Muffi: »Deine Tochter.«
»Was?«
»Deine Tochter wird bald dreißig.«
»Sie ist noch so jung und sie hat schon diesen gewaltigen Fehler gemacht, eine Pissrinne wie dich zu heiraten.«
»Tuffi, kannst du mal kurz sachlich bleiben?«
»Noch sachlicher geht es ja wohl nicht.«
»Na gut. Also, ich glaube, deine Tochter hätte auch was von dem Diamanten.«
»Natürlich könnte meine Tochter den Diamanten haben, wenn Sie sich von dir scheiden lassen würde. Sofort könnte sie ihn haben. Aber – es tut schon weh, das noch einmal wiederholen zu müssen –, ich habe ihn nicht. Ein wenig Kohlenstoff weniger auf dieser Welt, er existiert nicht mehr. «
»Das ist komisch.«
»Was ist daran komisch?«
Muffi sah Tuffi an, als hätte er alle Antworten auf alle Fragen dieser Welt.
»Komisch daran ist, dass dieser Klunker zu eurem Gründungsmythos gehört. Er ist euer Gründungsmythos. Genauso wichtig für dich, wie der erste Kreuzer für Uncle Scrooge.«
»Was?«
»Dagobert Duck, Uncle Scrooge ist Dagobert Duck.«
»Hör auf mit diesem Kackmist, ich weiß, wer Uncle Scrooge ist. «
»Und?«
»Und was?«
»Dann weißt du doch, wie wichtig der Diamant für dich ist. Für deine Stellung als letzter Patriarch, für dein Selbstwertgefühl, für dein gieriges Ego, für deine Tochter.«
»Den Diamanten hat jemand in der Pfeiffe geraucht. Oder er ist längst in mehrere kleine aufgeteilt worden. Alles geht seinen Gang, ich werde daran nichts ändern können.«
War es die Sinnlosigkeit seines Tuns, die auf einmal Muffis Schultern nach unten drückte? Er stieß jedenfalls einen schweren, blechernen Seufzer aus. Ein SUV würde auf diese Art seufzen, wenn er seufzen könnte.
»Ach Tuffi, es ist ermüdend, oder?«
»Was?«
»Diese Lügen.«
»Dein Anblick, Muffi, dein Anblick ist ermüdend. Dann mal was anderes. Was hast du jetzt vor?«
»Ich bringe dich an deinen Urlaubsort. Ein paar nette Tage im Spätsommer. Auf dem Bauernhof. Du kannst dort ein wenig nachdenken – und kommst mir nicht in die Quere.«
»Pissrinne.«
»Du bist angespannt. Und du solltest deinen Wortschatz mal überholen. Ein kurzer Landurlaub kommt zu rechten Zeit.«
Tuffis Kinnlade fiel nach unten und zog die Wangenpartie und die Augenwinkel mit nach unten. Seine Nackenmuskulatur zitterte. Er schwieg und versuchte den Unglauben von sich zu schütteln: »Also so ein Mist ist mir noch nie untergekommen.«
Muffi wartet eine kurzen genüsslichen Moment. Er sah über die Felder hinweg. Irgendwo in der Mitte eines Weizenfelds bewegten sich die Halme mit den Ähren unruhig hin und her, wie als ob ein großes Tier sich darunter fortbewegte. Tuffi hatte in der Zwischenzeit seine Kinnlade wieder in Ordnung gebracht, gab aber keinen Ton von sich. Er hatte kein Interesse an schwankenden Halmen.
»Da wird’s aber Zeit, Tuffi«, sagte Muffi.