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Der Nürnberger Bahnhof bedeutete das Ende von irgendetwas. Vielleicht der Zeit. Oder des guten Geschmacks.

Von außen war es natürlich immer noch ein hübsches Ding. Ein neubarockes Gebäude mit einer schönen harmonischen Fassade aus gereinigtem Muschelkalk. Kecke kalkmuschelige Spielereien und Verzierungen waren überall eingearbeitet und auf dem Portal des Mittelteils tummelten sich ein paar Figuren. Im Sonnenlicht gab er ein freundliches, einladendes Bild ab, ein bisschen zu rosa vielleicht. Innen sah er aus wie ein Bahnhof in Hamm oder Saarbrücken auch aussehen könnte. Dort hatte man ihn gehörig zurecht gestutzt und ihm seine Grenzen aufgezeigt. Man sollte gewarnt sein, wenn man mal zufällig von einem der Architekten zum Käsefondue in der Privatsauna eingeladen werden würde.

Das letzte Stück dorthin hatte Muffi alles aus dem Motor herausgeholt und die Schulterschraubzwingen hatten sich nach der kurzen Raserei verflüchtigt. Er hielt seinen Wagen auf der Zufahrt zu den Parkbuchten an, stieg aus und ging zu einer Frau, die gerade im Begriff war, das Geld für den Parkautomaten abzuzählen. Er sagte:

»Zehn Euro für Ihren Parkplatz.«

Die Frau trug ein graues Kostüm, das in der frühen Hitze des Tages wie die Winterkleidung einer Thüringer Bratwurst wirkte. Die blonden, zu einem Signal forschen Tatendrangs geschnittenen Haare lagen unbeeindruckt kühl und abwartend auf dem Kopf. Kühl und abwartend sagte die Frau:

»Bitte? Für wen halten Sie mich?«

Muffi sagte: »Ich denke, dass Sie ganz schön kühl und abwartend sind. Ich gebe Ihnen fünfzig Euro.«

»Mmh.«

»Was? Das sind fünfzig Euro für einen Parkplatz.«

»Mmh.«

In Muffis Blickfeld tauchte ein älteres, weißhaariges Paar auf. Beide trugen bunte, flattrige Hemden und der Mann schwenkte einen Autoschlüssel munter hin und her, als ob er gerade einen besonders großen Hirschen erlegt hätte. Der Blick der Frau im Winterkostüm wanderte langsam zu dem fröhlichen Mann und seiner beherrschten Frau, dann wanderte er wieder zu Muffi zurück.

»Gut«, sagte die Frau.

Muffi gab ihr das Geld. Die Frau lächelte, tätschelte ihm gönnerhaft die Wange, setzte sich ins Auto und fuhr davon.

Muffi parkte ein, sparte sich das Bezahlen, und ging in den Bahnhof.

Er stellte sich in die Mittelhalle gegenüber der großen Tafel mit den abfahrenden Zügen. So konnte er das ganze Hauptgebäude bis zu den Gängen, die zu den Bahnsteigen führten, überblicken. Irgendwie fühlte er sich aufgebracht und zügellos, ein wenig wie der Schatzmeister eines Swingerclubs. In seinem Gesicht lag eine kalte, flattrige, ungesunde Hitze. Für einen Augenblick genoss er es, sich selbst zu beobachten, und sein Ziel, wie es gerade dabei war sich selbst zu jagen, ohne nach den Kosten zu fragen. Er ließ seinen Blick umherwandern. Drehte seinen Kopf zur linken Seite der Haupthalle, dann zur rechten. Noch einmal. Noch einmal. Dabei mischte er seinem Verhalten etwas Theatralisches bei, ähnlich einem Vater der eine Tochter erwartete, die gerade im Internat durch die Abiturprüfung gefallen war.

Unter der elektronischen Anzeigetafel stand eine kleine Gruppe von fünf oder sechs jungen Frauen. Ein Teil von ihnen trug schwarzrandige Nerdbrillen, der andere Teil tat so, als ob er schwarzrandige Nerdbrillen trug. Aus dem Pulk kam eine Stimme, die sich nicht zwischen dem metallischen Frohsinn einer Kundenbetreuerin und der metallischen Gelassenheit entscheiden konnte, wie man sie sich im Sommer in Saint-Tropez antrainieren konnte. Die Stimme drang in Muffis Schädel wie eine Kreissäge und durchtrennte ein paar Nervenverbindungen im Vorbeisägen.

Er wählte das klobige Mobiltelefon der Ordnungs an.

»Braucht ihr noch lange?«

Ordnung junior anwortete mit einer gepressten Stimme, die vollkommen ohne Luft auskam:

»Keine fünfzehn Minuten. Ich habe Fredinger angerufen. Ich habe es geschickt angestellt, dass Tuffi nicht misstrauisch wird.«

Mit dem Wort geschickt aus Ordnungs Mund schoss Muffi dann doch ein wenig Magensäure spitz und beissend in die Speiseröhre. Er schluckte und biss sich hart auf die Unterlippe.

»Aha.«

»Er braucht auch noch so zehn Minuten, vielleicht sogar noch’n bisschen länger. Fredinger hat einen kleinen Stau gefunden und ist einfach hineingefahren.«

»Ich bin im Mittelteil des Bahnhofs«

»Äh, was machen wir eigentlich mit ihm? Wenn wir ihn überhaupt finden. Wir können ihn ja schlecht, vor all den Leuten einfach –«

»Das ist eure Sache. Lasst euch was einfallen.«

Aus dem Lautsprecher kam ein prustendes Geräusch, wie es entsteht, wenn man Fliegen mit der Schaumdüse einer Kaffeemaschine aufschäumte. Mit der verhaltenen Energie eines absichtlich zurückgehaltenen Rennpferds sagte Ordnung junior:

»Genau, das lass mal unsere Sorge sein. Du kannst dich schon mal zurücklehnen. Trink einen Kaffee, chill, Baby, chill. Wir haben das im Griff.«

Dann prusteten beide noch einen ordentlich großen Schwarm von Fliegen zu Tode. Muffi hielt erschrocken das Telefon auf Abstand. Er unterbrach die Verbindung. Er blieb einfach stehen. Mit der Zeit kamen ihm Zweifel. Er fragte sich, ob Tuffi wirklich zum Bahnhof wollte. Er kannte sicher Leute in Nürnberg, die ihm liebend gerne ein Auto geliehen hätten.

Der größere Zweifel aber war der an der Rolle der Ordnungs. Anscheinend waren sie begierig darauf Initiative zu übernehmen. Aber das war etwa so, als ob man einem kleinen Kind ein Kissen in den Mund stopfte, um es zum Sprechenlernen zu ermuntern.

Er ging zu einem Stehcafe, das sich Bauernbackstube nannte. An der Theke stand ein dünnes, blasses Mädchen, das wahrscheinlich noch nie in seinem Leben auf einem Bauernhof gewesen war. Es beschäftigte sich unterhalb des Tresens mit irgendeinem technischen Gerät. Irgendwann wandte sie sich Muffi zu und sah ihn wie aus einer fernen Welt interesselos an. Er bestellte einen Kaffee. Als sich ihre Augen zu zwei großen, fragenden 0s zu weiten begannen, sagte er schnell Tasse und die Pupillen stürzten wieder zu den zwei mageren, lichtempfindlichen Kügelchen zusammen, die sie zuvor gewesen waren.

Muffi zahlte seinen Kaffee, mit Trinkgeld. Was mit einem Blick beantwortet wurde, der zu neunzig Prozent von wahrer Dankbarkeit getragen wurde. Was in den restlichen zehn Prozent lag, konnte Muffi nicht ausmachen. An einem der Stehtischen stürzte er den halben Kaffee die erregte Speiseröhre hinunter und er wurde ein wenig lockerer.

Dann sah er auf seine Schuhe, den feinen Brogue, und wartete mit ihm. Er strich über seine Anzugjacke, glättete unsichtbare Falten. Fuhr sich ordnend durch die Haare. Wartete. Sah wieder zu beiden Seiten der Haupthalle. Ganz der fürsorgliche, erregte Vater.

Eine monströser Lederhut mit einem ledernen Zierfaden in der Krempe stülpte sich aus dem Himmel und gebar einen monströsen Mann vor dem Tresen. Oder war es umgekehrt? Der Mann jedenfalls war breit, von einer ungeübten Stärke und trug ein verwaschenes T-Shirt mit der Aufschrift I Am Not Belonging To The Group Of Yours. Seine durchdringende Stimme kroch durch die Lochzierungen von Muffis Schuhe.

»Gibbmer mal an Bodd«, herrschte er die Backstubenverkäuferin an.

Alles, was er machte, machte er mit der Aufdringlichkeit eines Auffahrunfalls. Die einzige Kundin in der Backstube sah von einer Zeitschrift über Zuchtvögel auf, und Muffi hatte Mühe, seinen Kopf weiterhin ungestört durch die Haupthalle wandern zu lassen. Der Mann ging mit seinem Hut, so geräuschvoll er konnte zu dem Tisch, an dem die Zeitschriftenseitenblätternde saß, und fragte:

»Därffmäsi do mid hiesedzn?«

Die Frau, die den Eindruck erweckte, als hätte sie gerade eine sehr wichtige Kunstaustellung kuratiert, sah belehrend über eine imaginäre Brille über alle leeren Tische hinweg. Nickte dann aus angespanntem Nacken. Der Mann setzte sich, begann an seinem Kaffee zu nippen und stieläugte auf die Zeitschrift. Muffi wartete und ließ den Kopf wandern. Der Mann dröhnte Subbeä Väichl und ließ dem ein gurgelndes, saugendes Geräusch folgen. Die Frau sah ihn mit erweiterten Pupillen wirklich überrascht an. Vielleicht glaubte sie, gerade einen vielversprechenden Performancekünstler entdeckt zu haben. Der Lederhutmann erklärte:

»Ich äss däi fier mei Lebm gern.«

Die Pupillen der Frau implodierten wie ein alte Bildröhre: Es war ein Monstrum aus einer anderen Zeit, das sie da entdeckt hatte. Das war alles. Aus einer Zeit, als es auf der Erde noch hässliche Menschen gegeben hatte.

Er holte aus einer mächtigen Umhängetasche eine Matrjoschka von der Größe des Oberschenkels eines Amateurfussballers. Über die ornamentalen Malereien hatte jemand mit einem dicken Filzstift Das 21. Jahrhundert geschrieben. Der Wilde schwenkte die Figur so wild, wie er konnte, über dem Tisch hin und her, und rief:

»Kennas kaffn. Die andern Jahrhundärdä bis zum dreißigjährigen Kriech sin a drin.«

Es war schön anzusehen, wie sich die Verbrauchtheit des gegenwärtigen Jahrhunderts in der abgestoßenen Figur mit den verblassten Farben widerspiegelte.

Der Sixpack war der Bierbauch des 21. Jahrhunderts. Gewollter und ein bisschen ansehnlicher. Da hatte der Mann mit dem Burgfrauenhütlein schon ganz richtig die Zeichen der Zeit erkannt.

Der Erzherzog-Josef Orden

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