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ОглавлениеMuffis Blick hatte wieder die Haupthalle im Griff.
Und da kamen sie.
Kamen durch den Haupteingang reinspaziert mit der Überzeugungkraft der Führungsriege eines Kleintierzüchterverbands. Die Ordnungs. Das alles hatte allerdings wenig von den Ordnungs, wie Muffi sie das letzte Mal gesehen hatte. Es hatte etwas von Auferstehung oder Erweckung.
Aus den Mundwinkeln, aus dem ganzen Gesicht von Max Ordnung waren alle vermoderten Überzeugungen verschwunden. Überhaupt waren alle Überzeugungen verschwunden, und übriggeblieben war eine kalte Überlegenheit, die einen ganzen Staat hinter sich wusste. Er hatte sich in der Zwischenzeit die gesamte Kinnpartie mit Eisenwolle, Stacheldraht oder etwas Ähnlichem aufgefüllt. So genau konnte man das nicht sehen. Aber es war jetzt ein Kinn, das zu jeder Verletzung oder Erniedrigung bereit war. Die braunen, traurigen Augen flackerten nun blau und angriffslustig.
Der Vater lief neben ihm so stolz daher wie ein zerschlissener Spielzeugteddy nach erfolgreicher Auferstehung durch eine Psychoanalyse. Zwei überreife Himbeeren glühten ihm in den Augenhöhlen und das Rückgrat war steifgeschlagen. Beide schwankten vor Wichtigkeit schief wie Windhosen auf Wanderschaft. Vielleicht hielten sie das, was sie da machten, sogar für unaufällig. Die Uniformen kehrten aus beiden etwas tief Verborgenes hervor, und zwar Stolz und Diensteifer für einen Staat, den sie eigentlich ablehnten. Es war wie immer, Kleider machen Leute.
Jeder trug eine dieser beigen Polizeihosen und darüber eine geöffnete moosgrüne Polizeijacke. Über dem Hosenbund hing ein Einsatzgürtel mit Waffe und Schlagstock. Auf dem Kopf balancierten sie moosgrüne Polizeikappen mit dem charakteristischen, schmalen schwarzen Schirm. Es war so irreal wie ein Sofa im Einkaufsrausch. Niemand schien sich allerdings darum zu kümmern. Vielleicht weil man sie für wirkliche Polizisten hielt, oder weil man sowieso kein großes Interesse für seine Umgebung hatte.
Muffi fühlte sich augenblicklich unwohl. Er hatte das Gefühl, dass hier etwas schneller als erwartet schiefgehen würde. Der kräftige Mann mit dem Hut sah wie beiläufig zu den beiden hinüber, aber mit einem irren Flackern in den Augen. Es war das irre Flackern der Erkenntnis.
Muffi trank seine leere Tasse leer. Er zwang sich ruhig zu bleiben. Kontrolliert stand er auf und spazierte die wenigen Schritte zur Rolltreppe hinüber. Als sie ihn sahen, fielen sie ein wenig in sich zusammen. Nur ein wenig. Einem Soufflé hätte es überhaupt nicht geschadet. Es war nur so etwas wie ein winziger, frischer Luftzug der Realität, der sie gestreift hatte.
Die Ordnungs vollzogen eine zackige Wendung nach rechts und stellten sich unter die große Informationstafel. Dort tänzelten sie dann mit einem feinen, kaum wahrnehmbaren, richtungslosen Tänzeln herum.
Muffi lehnte sich an das Geländer vor der Rolltreppe. Sein Kopf war jetzt ruhig und wie festgeschraubt, und seine Augen bewegten sich flink hin und her. Vor ihm ging der Matrjoschkaverkäufer vorbei, sah abwägend zur Informationstafel hinüber, ging dann weiter zu einem Laden mit Reisesouvenirs. Die Menschen liefen unbeteiligt im Bahnhof hin und her und schienen alle eine Richtung in ihrem Leben zu haben. Muffi sah zum wiederholten Mal zur Anzeigentafel hinauf. Am unteren Rand erschien gerade ein Zug nach Berlin, mit dem ersten Halt Jena Paradies. Bei dem Wort Paradies musste Muffi lächeln. Er stellte sich das Paradies eingeschlossen in einen Diamanten vor.
Muffi trat ein paar Schritte zurück und winkte verhalten zu den Ordnungs hinüber. Im gleichen Augenblick spürte er einen starken Druck in seinem Rücken, irgendwo unter dem Rippenbogen. Es fühlte sich metallisch an, rund, und hätte so etwas wie das Ende eines Wasserhahns sein können. Aber wieso sollte ihm jemand in einem Bahnhofsgebäude mit einem Wasserhahn in den Rücken pieksen und sagen:
»Ruhig bleiben. Atmen ja, andere Bewegungen, nein.«
»Was ist denn das? Ihr kleiner Finger?«
Der Mann in Muffis Rücken entließ seinen Unmut über die Dummheit der Welt in einem resonanzvollen Schnauben. Der Mann begann einen kleinen Vortrag, in bestem Hochdeutsch:
»Bevor wir uns jetzt in eine falsche Richtung aufmachen, will ich dir mal einen kleinen Vortrag in bestem Hochdeutsch halten. Zum Ersten, das ist nicht mein kleiner Finger. Meinen kleinen Finger klappe ich nur aus, wenn ich ein Glas Sekt in der Hand halte, und dann wird es richtig ungemütlich. Jetzt drückt eine etwas in die Jahre gekommene, aber sehr gut erhaltene SIG P220 in deinen Rücken. Sowas bekommt man von der Schweizer Armee geschenkt. Die Schweiz ist gemütlich, diese Waffe ist gemütlich. Lassen wir es bei dieser Gemütlichkeit, also spiel nicht den harten Mann. Du bist kein harter Mann. Da wo du so lebst, gibt es keine harten Männer mehr. Deine Frau ist ein harter Mann. Da hast du doch alles richtig gemacht, dass du dir die geschnappt hast. ‘N weicher Bursche wie du muss auch sehen, wo er bleibt, und wenn du dich dann an eine harte Frau ranmachst, die auch noch viel Geld hat, also meinen Respekt hast du. Jetzt aber auf einmal den Harten mimen, das wäre wie ein Monat Weihnachten am Stück – kann schön sein, kann aber auch unglaublich nerven mit der Zeit. Wahrscheinlich nervt’s eher. Hast du das bis jetzt begriffen?«
»Ja, ja, sicher. Aber vielleicht würdest du gar nicht schießen, mitten in diesem Bahnhof?«
»Wieso nicht? Alles verfliest. Abwaschbar. Dein Blut wär schnell weg. Nochmal, du bist ein Weichei, ich sehe das auf die Distanz von drei Fußballfeldern. Ich habe mal in den 1980er Jahren Theater im Olympiastadion gesehen. In Berlin. Auf die Distanz konnte ich noch jeden Schweißtropfen in den Gesichtern der Schauspieler sehen. Und jetzt kann ich schon deinen Angstschweiß sehen, den du noch gar nicht schwitzt, weil du immer noch denkst, dass ich ein Komiker bin. Ich heisse Bronco. Dummer Name, was? Vielleicht der Name eines Komikers. Vielleicht auch der Name eines Mannes, der nicht viel mehr zu verlieren hat als seine Verzweiflung. Aber für einen Matrjoschkaverkäufer reicht es. Nicht umdrehen, ja, ja, ich bin der Matrjoschkaverkäufer aus dem Café. Ich hätte mir einen anderen Namen geben können, aber ich hatte keine Lust. Nicht im Geringsten. Hartsein ist ein lustloses Geschäft. Aber ich arbeite für Tuffi, das macht es wenigstens einträglich.«
Muffis Augen weiteten sich ein wenig, er begann langsam zu verstehen.
Bronco sagte: »So ganz verstehst du mich noch nicht, oder?«
»Dass du den Namen Tuffi ohne zu Stottern aussprechen kannst, zeigt mir, dass du ihn vielleicht kennst. Aber wie kommst du ins Spiel?«
Bronco lachte ein gequältes Lachen. Es war so lustlos, wie er sich selbst beschrieben hatte.
»So ganz kannst du deine Pose noch nicht aufgeben, was? Na ja, hast ja recht, gehört dazu heutzutage. Aber bild dir nur nicht ein, dass du mich mit irgendwas täuschen kannst. Da drüben stehen die Ordnungs in ihren lustigen Kostümen.«
Er räusperte sich und nahm einen neuen Anlauf. »Irgendwo in einem Wald oder auf einem Feld vor den Toren dieser Stadt erwacht jetzt vielleicht gerade ein ehemaliger Bauer mit dem Namen Fredinger. Er hat kein Auto mehr, kein Portemonnaie, kein Mobiltelefon. Und rate mal, wer das jetzt alles hat.«
»Kackmist.«
»Ah, jetzt hast du begriffen. Ich arbeite für Tuffi. Er zahlt gut, und so schlage ich wenigstens Profit aus dieser unangenehmen Härte.«
Der dumpfe, metallische Druck verschwand aus Muffis Rücken, und wurde eine winzige Sekunde später durch einen Druck von etwas Spitzem ersetzt. Von etwas sehr Spitzem.
»Ich sage dir jetzt, was die höchste Form des Pragmatismus ist. Es ist das Schweigen. Es hilft vielleicht nicht alles zu ertragen, aber es hilft, alles hinzunehmen. Und ein Stilett – das ist das, was ich jetzt in der Hand halte. ‘Tschuldige, ich hatte es erst in dieser großen Tasche nicht gefunden. Es ist einfach besser in dieser Umgebung. Leiser. Du brauchst dir jetzt keine Sorgen mehr um laute Pistolenschüsse oder dein Trommelfell zu machen.«
Bronco erhöhte den Druck, und dieses sehr Spitze drang durch Muffis Kleidung, bis zur Haut, bis fast unter die Haut. Etwa unter seinem rechten unteren Rippenbogen.
»Ein Messer, das dir von unten in die Lungen dringt, bringt dich augenblicklich zum Schweigen. So viel und so gerne man auch vorher geplaudert haben mag, dann findet die Sprache ihr Ende. Und weiche Menschen wie du, brauchen die Sprache. Ohne sie sind sie nichts.«
Bronco tat noch einen Schnaufer, einen, den er selbst erfunden hatte.
»So, und jetzt reicht’s. Hast du kapiert?«
»Ja, ja, aber nur weil ich schon anfange mich zu langweilen.«
Bronco schnaubte nicht. Seufzte nicht. Legte auch nicht sein rostiges, kaputtes Lachen auf. Er konnte jetzt hören, wie Tropfen von Angstschweiß aus den Drüssen unter Muffis Achseln gedrückt wurden. Damit war er zufrieden. So zufrieden wie ein Metzger, der ein Schwein getröstet hat. Ein Mann, dem die Angst schon unter den Achseln klebt, ist leicht zu handhaben. Bronco sagte:
»Wink mal die beiden Ordnungs hierher. Lass deine Hand einfach eine sanfte, unzweideutige Bewegung machen.«
Muffi hob den Arm und machte eine Geste, die so unzweideutig und sanft war wie der letzte Atemzug eines Menschen. Sein schönes Brooks Brothers Hemd klebte ihm schwer am Körper. Die beiden Ordnungs sahen ihn verwundert an, und machten Gesichter, in denen die ganze Unwissenheit der Menscheit eingefangen war. In Muffis Rücken piekste es wieder – oder vielleicht bildete er sich das auch nur ein –, und er wiederholte die gleiche Geste noch einmal. Noch sanfter. Noch unzweideutiger. Wenn das überhaupt noch möglich war. Auch die Ordnungs wiederholten ihren unwissenden Blick, noch weicher, und noch unzweideutiger. Dabei sahen sie hilfesuchend die Haupthalle nach links und nach rechts ab. Als ihnen niemand zur Hilfe kam, setzten sie sich in Bewegung und gingen zu Muffi hinüber.
»Sag ihnen, dass sie zweieinhalb Meter Abstand halten sollen«, sagte Bronco.
»Haltet zweieinhalb Meter Abstand«, sagte Muffi.
»Erklär ihnen die Situation und warum sie auf mich hören sollen«, sagte Bronco.
Muffi schien kurz zu überlegen, so kurz, wie man eigentlich nicht überlegen kann, und sagte: »Ich habe ein Messer im Rücken. Das ist Bronco hinter mir, und er hat auch noch mindestens eine Pistole. Außerdem hat er verkäufliche Matrjoschkas in seiner Tasche. Das genau sind die Gründe, warum ihr jetzt auf ihn hören müsst.«
Ordnung junior, der einfach vergessen hatte, den unwissenden Ausdruck in seinem Gesicht durch etwas anderes zu ersetzen, hob an:
»Aber –«
Muffi unterbrach ihn mit gedämpfter Verärgerung.
»Macht einmal in eurem Leben keinen Kackmist.«
Beide blieben stehen. Ein kleines, nettes Grüppchen stand da zusammen. Zwei verlorene Reisende, die die Hilfe von zwei freundlichen Polizisten in Anspruch nahmen. Aber hatte jemals ein Polizist irgendjemandem in seiner Verlorenheit helfen können?
Bronco trat einen winzigen Schritt zur Seite, so dass er die beiden Ordnungs gut sehen konnte, und sagte: »Lüftet mal eure Jacken, da wo sie sich’n bisschen ausbeulen. Aber nur’n kleines bisschen, macht keine Balletaufführung daraus.«
Erst hob der Jüngere, dann der Ältere die Jacke etwas an. Bronco sah auf die Einsatzgürtel und lachte. Das gleiche freudlose Lachen wie zuvor. Er war wirklich sehr genügsam, was seine Gefühlsregungen betraf. Das machte Muffi noch mehr Angst.
»Eure Waffen vom Kinderfasching, nehme ich mal an. Aber im guten Zustand, dass muss ich schon sagen.«
Mit einem weiteren Lachen trieb es sich den letzten Rest von Emotion aus dem Körper, er fuhr fort:
»So, wir machen jetzt eine kleine, unauffällige Prozession. Wir gehen den rechten Gang, der zu den Bahnsteigen führt, ganz nach hinten durch. Bequem, entspannt, und all so was. Hinten raus, und auf den Parkplatz gegenüber dem Hinterausgang. Einverstanden?«
Die Frage war rethorisch gemeint. Bronco hatte das aus dem Fernsehen. Wollte einfach ein bisschen frischen Wind in die Sache bringen. Ordnung junior antwortete trotzdem mit einem krähenden ja. Aber diese Krähenimitation war ja auch eine gewisse Abwechslung.
Dann gingen alle so, wie Bronco sich das ausgemalt hatte. Zuerst die Ordnungs, dann in einem Abstand von fünf Metern, Muffi. Ihm klebte das Stilett im Rücken, und an dem Stilett klebte Broncos rechte Hand. Loslassen war hier nicht das Gebot der Stunde. Der einzige, der das ein wenig genoss, war Bronco. Aber das hier war auch das Parkett, auf dem er sich zuhause fühlte.