Читать книгу Gesammelte historische Romane: Quo Vadis? + Die Kreuzritter + Mit Feuer und Schwert + Sintflut + Pan Wolodyjowski - Henryk Sienkiewicz - Страница 65
Drittes Kapitel.
ОглавлениеZbyszko vermochte seinen Knappen nicht einzuholen, denn Hlawa gönnte sich weder Tag noch Nacht Ruhe und rastete nur so lange, als es unbedingt nötig war, damit die Pferde nicht verendeten, welche dadurch, daß sie nur Gras zu fressen bekamen, immer kraftloser wurden und nicht so rasch vorwärts zu kommen vermochten, wie in den Gebieten, in denen sie mit Hafer gefüttert werden konnten. Ebensowenig aber, wie der Böhme sich selbst schonte, ebensowenig nahm er Rücksicht auf das vorgerückte Alter oder auf den Schwächezustand Zygfryds. Der bejahrte Kreuzritter litt entsetzlich, denn der gewaltige Macko hatte ihm bei dem Ueberfalle gehörig zugesetzt. Am meisten peinigten ihn aber die in den sumpfigen Wäldern schwärmenden Fliegen, deren er sich nicht zu erwehren vermochte, da seine Hände gefesselt und seine Beine unter dem Bauche des Pferdes festgebunden waren. Der Knappe erdachte freilich keine neue Marter für ihn, allein jedes Mitleid für Zygfryd fehlte ihm, und er ließ dessen Rechte nur dann von den Banden befreien, wenn zur Essenszeit Halt gemacht ward. »Friß mit Deinem Wolfsmaul, damit ich Dich lebendig zu dem Gebieter von Spychow bringen kann,« so lauteten die Worte, mit denen Hlawa den Kreuzritter zum Essen zu ermuntern pflegte. Gleich bei Beginn der Fahrt hatte Zygfryd sich entschlossen, den Hungertod zu sterben, als jedoch der Böhme erklärte, er werde ihm die Zähne mit einem Messer auseinander brechen und ihm mit Gewalt Nahrung zuführen lassen, da gab der Komtur den Vorsatz auf, damit in ihm nicht die ritterliche Ehre, die Würde des Ordens beschimpft werde.
Hlawa setzte alles daran, vor dem jungen Ritter nach Spychow zu gelangen, wollte er doch seine angebetete Herrin vor dem für sie peinlichen Zusammentreffen mit Danusia bewahren. Wenn er auch nur ein schlichter Edelmann war, begriff er bei seiner Klugheit und bei seiner Kenntnis der ritterlichen Sitte gleichwohl, wie demütigend für Jagienka ein Zusammensein mit Zbyszkos Weib in Spychow sein müsse. »Wir können ja dem Bischof aus Plock sagen, der alte Ritter aus Bogdaniec sei als Schützer des Mägdleins bestellt worden und habe es deshalb mit sich genommen, verlautet es aber erst, die Herrin stehe unter der Obhut des Bischofs und es falle ihr außer Zgorzelic auch noch von seiten des Abtes eine beträchtliche Erbschaft zu, dann wird wohl selbst eines Wojwoden Sohn sich nicht zu hoch für sie dünken.« Diese Erwägung gewährte ihm immerhin etwas Trost auf der beschwerlichen, langen Fahrt und schwächte die ihn quälende Empfindung einigermaßen ab, daß die frohe Kunde, welche er nach Spychow bringen solle, für seine Herrin Unheil bedeute.
Und wenn er dann auch gar noch die Tochter der Sieciechowa im Geiste vor sich sah, wenn er sie vor sich sah mit Wangen so rot wie ein Apfel, dann drückte er die Sporen in die Flanken seines Rosses und trieb es selbst auf dem unwegsamsten Pfade zur Eile an.
Aufs Geratewohl, auf dem ersten besten Wege rückten sie vor, manchmal ging’s auch mitten durch den Wald, immer vorwärts, immer geradeaus, wie der Strich beim Mähen mit der Sichel. Der Böhme wußte nur, daß wenn er sich stets einmal ein wenig westlich und dann wieder ein wenig südlich halte, er schließlich Masovien erreichen werde, und daß sich dann alles zum Guten gestalten müsse. Tagsüber richtete er sich nach dem Stande der Sonne, des Nachts sah er nach den Sternen. Zuweilen dünkte ihn, die Waldwildnis nehme kein Ende, habe keine Grenzen. Die Tage waren häufig so düster, daß sie den Nächten glichen. Mehr als einmal sagte sich Hlawa, der junge Ritter könne unmöglich sein Weib lebend durch diese menschenleere Wildnis bringen, wo nirgends Nahrung zu finden war, wo man des Nachts die Pferde vor Bären und Wölfen schützen mußte, wo man bei Tage von Büffel-und Bison-Herden vom Wege vertrieben ward, wo grausenerregende wilde Eber ihre krummen Hauer an Fichtenstämmen wetzten, und wo ein jeder, welcher nicht durch einen Pfeilschuß oder durch einen Speerstoß ein gesprenkeltes Rehkalb oder ein junges Wildschwein erlegte, auf Tage hinaus ohne Speise blieb.
»Was wird er beginnen?« fragte sich Hlawa. »Wie kann er mit dem zu Tode gemarterten, in den letzten Zügen liegenden Weibe die Fahrt vollenden?«
Immer von neuem mußte der Böhme mit seinen Begleitern breite Moräste oder tiefe Schluchten umreiten, aus denen wilde, durch die heftigen Frühjahrsregen angeschwollene Bäche hervorschossen. In diesen Wäldern mangelte es auch nicht an Seen, auf denen bei Sonnenuntergang ganze Rudel von Elentieren und Rehen auf dem rötlich gefärbten, stillen Gewässer umherschwammen. Zeitweise bemerkte Hlawa auch aufsteigenden Rauch, ein Zeichen, daß er sich nicht weit von menschlichen Behausungen befinden konnte. Sobald er sich indessen diesen Waldansiedelungen nähern wollte, stürzten ihm wildaussehende Mannen entgegen, die Felle auf dem bloßen Leib trugen, mit Bogen und Keulen bewaffnet waren und unter den zottigen Pelzen so drohend hervorschauten, daß sie Wärwölfen glichen, und daß die Begleiter Hlawas, das Staunen jener über den unerwarteten Anblick der Reiter benutzend, es sich angelegen sein ließen, so rasch wie möglich aus deren Bereich zu kommen.
Zweimal zischten die Pfeile dicht hinter dem Böhmen und immer wieder tönte der Ruf an sein Ohr »Wokili« (Deutsche), doch er zog die Flucht jeder Erklärung vor, wer er sei. Endlich, nach Verlauf vieler, vieler Tage glaubte er die Grenze überschritten zu haben, aber erst durch polnisch sprechende Jäger erhielt er die Gewißheit, daß er sich auf masovischer Erde befand.
Von jetzt an kam er rascher vorwärts, trotzdem das ganze östliche Masovien eine Wüstenei war. Bewohnte Plätze blieben auch nun eine Seltenheit, allein erreichte Hlawa da und dort eine Ansiedelung, so zeigten sich die Bewohner durchaus nicht unzugänglich – einesteils vielleicht deshalb, weil sie weniger von dem Feinde gelitten hatten, andernteils wohl aus dem Grunde, weil der Böhme sich ihnen verständlich machen konnte. Lästig fiel nur die unersättliche Neugierde der Leute, welche, die Reiter umringend, mit Fragen nicht müde wurden und stets, sobald sie erfuhren, daß der Gefangene ein Kreuzritter sei, zu sagen pflegten: »Ueberlaßt ihn uns, o Herr, wir wollen die Strafe an ihm vollziehen.«
Und so hartnäckig bestanden sie auf ihrem Verlangen, daß der Böhme häufig aufbegehren mußte und sich zu der Erklärung genötigt sah, er überbringe den Gefangenen dem Fürsten Janusz. Erst dann wurde er nicht weiter bedrängt. Kaum gelangte er indessen in eine bewohntere Gegend, so hatte er sich gegen Edelleute und Bauern zu wehren. Der Haß gegen den Orden loderte dort in hellen Flammen auf, denn allenthalben wurde die Erinnerung an die Treulosigkeit der Kreuzritter wach, welche in Friedenszeiten den Fürsten in Zlotorya überfallen und ihn zum Gefangenen gemacht hatten. Wohl verlangte keiner, die Strafe an Zygfryd vollziehen zu dürfen, allein der oder jener kühne Edelmann meinte: »Löst ihn von seinen Fesseln. Ich will ihm ein Schwert geben und ihn auf Tod und Leben in die Schranken fordern.« Einem jeden suchte daher der Böhme immer von neuem die Ueberzeugung beizubringen, die Rache müsse dem unglücklichen Gebieter von Spychow überlassen werden, keinem Menschen stehe es zu, Jurand dieses Rechtes zu berauben.
Die Fahrt ging indessen jetzt leichter von statten, kam man doch auf gebahntere Wege und konnten die Pferde doch mit Hafer und Gerste gefüttert werden. Hlawa trieb auch zu immer größerer Eile an, es wurde kaum irgendwo Halt gemacht, und zehn Tage vor dem Fronleichnamsfeste ward Spychow erreicht.
Gegen Abend langte der Böhme an seinem Ziele an, gerade wie einst, als ihn Macko von Szczytno aus mit der Kunde zurückgeschickt hatte, daß er, der alte Ritter, nach Samogitien ziehe, und gerade wie damals erschaute Jagienka den Knappen von ihrem Fenster aus und stürzte ihm entgegen. Er aber, geraume Zeit unfähig, ein Wort hervorzubringen, warf sich ihr zu Füßen. Allein sie hob ihn rasch empor und gebot ihm, ihr unverweilt in die Burg zu folgen, denn es widerstrebte ihr, ihn vor seinen Begleitern auszufragen.
»Was hast Du Neues zu berichten?« begann sie dann sofort, mühsam Atem holend und vor Erregung zitternd. »Sind sie am Leben, sind sie gesund?«
»Sie sind am Leben und sind gesund.«
»Und jene – hat man sie gefunden?«
»Sie ist gefunden – sie ist befreit.«
»Gelobt sei Jesus Christus!«
Allein trotz dieser Worte nahmen Jagienkas Gesichtszüge plötzlich einen völlig starren Ausdruck an, zerfiel doch das, was sie erhofft hatte, in Staub und Asche. Nichtsdestoweniger hielt sie sich aufrecht, verlor sie keinen Augenblick die Geistesgegenwart, ja, schon nach wenigen Minuten hatte sie wieder vollständig die Herrschaft über sich gewonnen und fragte abermals: »Wann werden sie hier eintreffen?«
»In einigen Tagen. Es ist schwer, eine solche Fahrt mit einem kranken Weibe zurückzulegen.«
»Ist sie krank?«
»Sie ist gar grausam behandelt worden. Durch all das, was sie erduldete, hat ihr Geist gelitten.«
»Barmherziger Jesus!«
Ein kurzes Schweigen trat nun ein, nur Jagienkas bleiche Lippen bewegten sich wie im Gebete. Endlich hub letztere von neuem an: »Und kam sie durch Zbyszkos Anwesenheit nicht wieder zum Bewußtsein?«
»Das mag wohl sein, doch ich weiß darüber nichts. Ich machte mich so rasch wie möglich auf den Weg, denn ich wollte Euch, o meine Herrin, rechtzeitig von der Ankunft des jungen Ritters mit seinem Weibe unterrichten.«
»Gott lohne Dir. Erzähle mir jetzt alles genau.«
In kurzen Worten berichtete nun der Böhme alles, was er über die Befreiung Danusias, über die Gefangennahme des riesenhaften Arnold und Zygfryds wußte und erklärte schließlich, er habe Zygfryd nur deshalb nach Spychow gebracht, weil der junge Ritter diesen der Rache Jurands überlassen wolle.
»Ich muß mich jetzt zu Jurand begeben,« bemerkte Jagienka, nachdem Hlawa zu Ende gekommen war.
Doch der Knappe blieb nicht lange allein. Kaum hatte sich Jagienka entfernt, so kam Anielka aus einem der Gelasse zu ihm herbeigestürzt, und er, sei es nun, daß er durch die erlittenen Beschwerden und Mühseligkeiten nicht mehr Herr seiner selbst blieb, sei es, daß ihn die Sehnsucht beim Anblick der Maid übermannte, genug, er umfaßte sie, preßte sie an seine Brust und küßte sie in einer Weise auf Wangen, Lippen und Augen, als ob er ihr schon längst seine Liebe gestanden hätte.
Vielleicht hatte er dies auch im Geiste auf seiner langen Fahrt gethan, denn er küßte sie ohne Unterlaß, er preßte sie mit solcher Macht an sich, daß ihr der Atem zu stocken drohte; sie aber wehrte sich nicht, ward sie doch nicht nur von Staunen, sondern auch von einer solchen Schwäche ergriffen, daß sie zu Boden gestürzt wäre, wenn weniger kraftvolle Arme sie umschlungen gehalten hätten. Zum Glücke wurden sie aber bald wieder aus ihrer Weltvergessenheit gerissen, denn von der Treppe her ertönten Schritte, und gleich darauf trat Pater Kaleb über die Schwelle.
Die Liebenden trennten sich rasch. Schwer atmend, vermochte Hlawa kaum zu sprechen und all die Fragen zu beantworten, mit denen Pater Kaleb ihn bestürmte, letzterer jedoch glaubte, die Erregung des Böhmen auf die überstandenen Strapazen zurückführen zu müssen, und kaum hatte er die Bestätigung der Kunde erhalten, daß Danusia gefunden und befreit sei, so fiel er auf die Knie nieder, um Gott dafür zu danken. Inzwischen kühlte sich das erhitzte Blut Hlawas wieder etwas ab, und er vermochte sich so weit zu beherrschen, daß er dem sich von seinen Knien erhebenden Priester ruhig und ausführlich die Errettung Danusias schildern konnte.
»Gott errettete sie nicht deshalb aus der Gefahr,« ergriff schließlich der Priester das Wort, »damit ihr Geist umnachtet, damit sie dunkeln Mächten anheimgegeben bleibe. Jurand wird seine gesegneten Hände auf sie legen und mittelst eines einzigen Gebetes ihr Gesunden, ihre Geistesklarheit erflehen.«
»Der Ritter Jurand?« fragte der Böhme voll Staunen. »Steht ihm eine solche Kraft zu? Kann er denn schon hienieden heilig gesprochen werden?«
»Vor Gott dem Herrn ist er jetzt schon, während seines Lebens, ein Heiliger, und nach seinem Tode werden die Menschen einen Schutzheiligen – einen Märtyrer mehr im Himmel haben.«
»Ihr sagtet aber, ehrwürdiger Vater, der Gebieter von Spychow werde seine Hände auf das Haupt der Tochter legen. Ist ihm die Rechte wieder gewachsen? Ich weiß ja, daß Ihr diese Bitte an den Herrn Jesus gerichtet habt.«
»Ich sagte ›die Hände‹, weil dies so gebräuchlich ist,« antwortete Pater Kaleb, »doch, durch die göttliche Gnade, genügt auch eine Hand Jurands.«
»Sicherlich!« entgegnete Hlawa.
In dem Ton seiner Stimme kennzeichnete sich indessen eine gewisse Enttäuschung, hatte er doch geglaubt, ein sichtbares Wunder habe sich ereignet. Jede weitere Bemerkung seinerseits wurde aber durch den Eintritt Jagienkas vereitelt.
»Ich habe ihm die Kunde so behutsam wie möglich mitgeteilt,« erklärte sie, »damit ihn die plötzliche Freude nicht töte. Nun liegt er mit ausgebreiteten Armen, in Kreuzesform, auf der Erde und betet.«
»Auch sonst liegt er ganze Nächte hindurch auf solche Weise im Gebete,« bemerkte Pater Kaleb, »jetzt wird er sich aber wohl kaum vor dem morgigen Tage erheben.«
Und so geschah es in der That. Wie oft man auch nach Jurand schaute, stets fand man ihn in der gleichen Stellung liegend, nicht schlafend, nein, tief in sein Gebet versenkt, alles um sich her vergessend. Der Wächter, welcher von der Burgwarte aus das Land umher überschaute und, der Gewohnheit gemäß, über Spychow wachte, erklärte späterhin, er habe in jener Nacht eine gar seltsame, glänzende Helle in dem Gemache seines Gebieters wahrgenommen.
Erst am nächsten Morgen, geraume Zeit nach der Mette, bedeutete Jurand der abermals nach ihm schauenden Jagienka, daß man Hlawa, sowie den Gefangenen vor ihn bringen solle. Sofort wurde Zygfryd, dessen Hände kreuzweise auf seiner Brust zusammengebunden waren, aus dem Kerker geholt und zu Jurand geführt, zu dem sich nun auch alle andern, mit Tolima an der Spitze, eilig begaben.
Im ersten Augenblick konnte der Böhme den Gebieter von Spychow nicht wahrnehmen, denn abgesehen davon, daß die aus ölgetränktem Papier bestehenden Fenster wenig Licht einließen, war auch der Tag sehr trübe, da schwere, einen nahen Sturm verkündende Wolken am Himmel hingen. Kaum hatten sich indessen seine scharfen Augen an die Dunkelheit gewöhnt, so staunte er über die abermalige Veränderung, die mit dem ehemals schreckenerregenden Ritter vorgegangen war. Nichts mehr an ihm erinnerte an den früheren Hünen, ein zum Skelett abgemagerter Greis saß vor ihm, mit schneeweißem Haupt-und Barthaar und mit solch bleichem Antlitz, daß er einem Toten glich, als er sich, mit geschlossenen Augenlidern, in seinen Armstuhl zurücklehnte.
Auf einem neben seinem Armstuhl stehenden Tisch befanden sich ein Kruzifix, ein Krug Wasser und ein Laib Schwarzbrot, in welch letzterem ein Misericordia stak, jener Dolch, mit dem die Ritter den Verwundeten den Gnadenstoß zu erteilen pflegten. Schon geraume Zeit hindurch nahm Jurand nichts anderes als Wasser und Brot zu sich. Ein grobes, härenes, mit einem Strohseil gegürtetes Bußhemd, das er auf dem bloßen Leibe trug, diente ihm zur Kleidung. Auf solche Weise lebte nun der einst so gewaltige und gefürchtete Gebieter von Spychow seit seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft aus Szczytno. – Nachdem der durch die Eintretenden verursachte Lärm verstummt war, schob Jurand die zahme Wölfin hinweg, welche seine bloßen Füße wärmte, und richtete sich in dem Lehnstuhle auf. Ein Augenblick der höchsten Erwartung trat ein, glaubten doch alle Anwesenden, er werde nun irgend einem von ihnen das Zeichen zum Sprechen geben, aber bleich, mit halb geöffneten Lippen, blieb er regungslos sitzen.
»Hlawa ist hier!« hub Jagienka schließlich mit ihrer einschmeichelnden Stimme an. »Wollt Ihr ihn anhören?«
Da Jurand bejahend das Haupt neigte, wiederholte der Böhme zum drittenmale seinen Bericht. Er erzählte kurz von den mit den Deutschen geführten Schlachten bei Gotteswerder, schilderte den Kampf mit Arnold von Baden, sowie die Befreiung Danusias, verschwieg jedoch, daß deren Geist durch die erlittene grausame Behandlung gestört war, weil er dem greisen Märtyrer die frohen Nachrichten nicht vergällen, weil er nicht aufs neue bange Furcht in ihm erwecken wollte.
Weil aber des Knappen Herz von Haß gegen die Kreuzritter erfüllt war, und weil er sehnlich wünschte, daß Zygfryd unerbittlich gestraft werde, verheimlichte er absichtlich weder den erbarmungswerten Zustand Danusias, noch ihre Krankheit und Schwäche, welche er als Beweis dafür anführte, daß sie gewiß eine Behandlung erduldet habe, als ob sie den Händen von Henkersknechten überliefert gewesen wäre. Sicherlich, dies erklärte er schließlich, würde sie gleich einer Blume, die dahinwelkt und zu Grunde geht, wenn sie zertreten wird, verdorben und gestorben sein, wenn man sie nicht ihren Peinigern entrissen hätte. Und während der Erzählung Hlawas wurde stets aufs neue das Grollen des Donners hörbar, und immer drohender zog sich das finstere Gewölk über Spychow zusammen.
Wenn nun auch Jurand der Erzählung so regungslos lauschte, daß es den Anwesenden dünkte, er schlafe, verstand und begriff er doch jedes Wort, denn als der Böhme die Leiden Danusias berührte, da quollen zwei große Thränen aus den leeren Augenhöhlen hervor und rannen langsam über die Wangen des beklagenswerten Vaters, dem von allen irdischen Empfindungen nur die eine geblieben war: die Liebe zu seinem Kinde.
Dann bewegten sich seine bläulichen Lippen wie im Gebete. Draußen jedoch grollte abermals der Donner, und grelle Blitze erleuchteten jeden Augenblick die Fenster. Lange, lange betete Jurand, während wieder große Zähren seinen weißen Bart benetzten. Tiefe Stille herrschte, allein nach und nach bemächtigte sich aller Anwesenden eine gewisse Unruhe, denn keines wußte, was es beginnen solle.
Endlich faßte der alte Tolima, der Gefährte Jurands in allen Schlachten und der Hüter von Spychow Mut, indem er sagte: »Vor Euch, o Herr, steht jener Verdammte, jener gottlose Kreuzritter, der Euer Kind, der Euch gemartert hat; gebt mir durch ein Zeichen kund, wie ich ihn strafen soll!«
Bei diesen Worten erhellten sich plötzlich Jurands Züge und mittelst eines Zeichens bedeutete er, man möge den Gefangenen ganz nahe zu ihm bringen.
Sofort packten zwei der Knechte den Kreuzritter unter den Schultern und führten ihn vor den Gebieter von Spychow, der, den Arm ausstreckend, mit der flachen Hand über das Gesicht Zygfryds fuhr, gerade als ob er sich dessen Züge ins Gedächtnis zurückrufen oder fest einprägen wolle, dann betastete er die Brust des Komturs, sowie die Stricke, mit denen dessen Arme kreuzweis zusammengebunden waren. Die Augenlider schließend, senkte er hierauf das Haupt.
Alle Umstehenden glaubten, er sinne über etwas nach. Wie dem nun aber auch sein mochte, lange verharrte er nicht in der gebeugten Stellung, nein, schon nach wenigen Minuten richtete er sich empor und streckte die Hand nach dem Laibe Brot aus, in dem das Unheil verkündende Misericordia steckte.
Die Anwesenden wagten kaum zu atmen. Unverwandt blickten alle auf den Gebieter von Spychow. Wohl war das Rachegefühl begreiflich, wohl war die Strafe hundertfach verdient, trotzdem rief aber der Gedanke, daß dieser schon halb dem Tode verfallene Greis mit tastender Hand einen gefesselten Gefangen töten wolle, in eines jeden Herzen Schauder hervor.
Er aber faßte den Dolch in der Mitte, streckte den Zeigefinger bis zu dem spitzen Ende des scharfen Messers aus, damit er sich vergewissern konnte, was er berühre, und begann dann langsam die Stricke an den Armen Zygfryds entzwei zu schneiden.
Von Staunen überwältigt, glaubte keines den eigenen Augen trauen zu dürfen. Nun verstanden alle mit einem Male, was er bezweckte. Doch eine solche That konnten sie nicht billigen. Hlawa murrte zuerst, seinem Beispiele folgten Tolima und die Knechte. Nur Pater Kaleb fragte mit einer vor Schluchzen bebenden Stimme: »Bruder Jurand, was ist Euer Begehr? Wollt Ihr dem Gefangenen die Freiheit schenken?«
»Ja!« bedeutete Jurand durch eine Bewegung seines Hauptes.
»Wollt Ihr, daß ihm die Strafe erlassen bleibe, daß er der Rache entgehe?«
»Ja!«
Das Murren wurde immer lauter, die Ausbrüche des Zornes, der Entrüstung steigerten sich. Da wendete sich Pater Kaleb, dem es am Herzen lag, daß ein solches Beispiel an Barmherzigkeit und Mitleid nicht vereitelt werde, zu den Murrenden und rief: »Wer wagt es, sich dem Willen eines Heiligen zu widersetzen? Auf Eure Knie!«
Und niederkniend, hub er an: »Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Wille geschehe –«
Unentwegt sprach er das Vaterunser zu Ende. Bei den Worten »und vergieb uns unsre Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« schaute er unwillkürlich auf Jurand, dessen Antlitz erstrahlte, wie von überirdischem Glanze übergossen.
Und dieser Anblick und die Worte des Gebetes übten eine besänftigende Wirkung auf die Herzen der Versammelten aus, denn selbst der alte, durch unzählige Kämpfe hart gewordene Tolima umfaßte, das Zeichen des Kreuzes machend, Jurands Füße und fragte: »Wenn wir Eurem Wunsche willfahren wollen, o Herr, müssen wir wohl den Gefangenen an die Grenze geleiten?«
»Ja!« bedeutete Jurand abermals durch ein Neigen seines Hauptes.
Grell erleuchtete jetzt ein Blitzstrahl nach dem andern die Fenster, näher und näher kam das Ungewitter.