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Es geht los!

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„Meine Damen und Herren, ich darf Sie sehr herzlich be…“

„Lauter!“, ruft eine Seniorin in altmodischen Kniehosen.

Ich hole tief Luft und brülle: „Ich darf Sie sehr herzlich auf unserer heutigen Führung über den Besinnungs-Dien-Mut-Weg begrüßen. Der Weg will Sie einladen, zu sehen, zu hören und zu sinnen.“

Sinnen, kein sehr gängiges Verb mehr. Von allein wär ich auch nicht drauf gekommen, aber es steht im Faltblatt, also lese ich es einfach ab. Um ehrlich zu sein, ist das meine allererste Führung. Überhaupt. Die will ich natürlich mit Bravour bewältigen. Aber das wissen die rund zwanzig Menschen nicht, die sich eingefunden haben. Ein bunt gemischter Haufen, der sich untereinander nicht kennt, was mir nur recht ist, einen Kegelverein hätte ich hier und heute nicht haben wollen. Sie schauen mich alle erwartungsvoll an. Erwartungsvoll und – im Fall der Seniorin – jetzt schon skeptisch.

Dennoch unerschrocken ziehe ich mein Programm durch. „Für die Gestaltung dieses Besinnungsweges hat sich der alte Bärenbadweg als sehr geeignet erwiesen. Er wurde im Ersten Weltkrieg von italienischen Kriegsgefangenen angelegt. Sind Italiener unter uns?“

Einer streckt die Hand hoch und erklärt, seine Großmutter mütterlicherseits sei Achtelsitalienerin gewesen. Ich entschuldige mich im Namen der Täter bei seiner Großmutter und will jetzt von der Notburga erzählen, zu deren Ehren der Besinnungsweg angelegt wurde, aber die Gruppe hört sichtlich nicht zu, sondern rechnet aus, wie viel südländisches Blut man mit einer achtelsitalienischen Großmutter noch in den Adern hat. Ein Hunderttausendstel? Es würde helfen, wenn wir einen Mathematiker bei uns hätten, der uns das rasch mal eben ausrechnet, haben wir aber nicht.

„Hm“, räuspere ich mich lautstark und fahre – Aufmerksamkeit einfordernd – fort. „Die heilige Notburga ist die beliebteste Heilige Westösterreichs und lebte im 13. Jahrhundert an den Gestaden des wunderschönen Achensees“, lese ich von meinem Faltblatt ab. Auswendig kann ich das natürlich nicht. Ich höre heute, ehrlich gesagt, auch zum ersten Mal davon. Mit Heiligen kenne ich mich nicht so aus … „Notburga war im besten Sinne eine emanzipierte Frau und ließ sich von ihrem hartherzigen Dienstherrn nicht von ihrer sozialen Arbeit für Geringverdiener und chronisch Kranke abbringen. Mutig verteidigte sie Feierabend und Sonntag, das allein muss sie einem doch schon sympathisch machen.“ Letzteres lese ich nicht ab, das ist meine ehrliche Meinung.

Die Gruppe knipst die Stellwand, von der ich das ablese, mehrheitlich mit der Handykamera, nur ein älterer Mann mit Bommelmütze hat eine japanische Hochleistungskamera dabei.

Gott belohnte sie mit dem Wunder der Sichel, steht noch daneben, aber keiner achtet darauf.

Ein Fehler, wie im Nachhinein gesagt werden muss.

„Notburga …“, fahre ich fort und werde unterbrochen.

„Geht das nicht lauter?“, ruft die Kniehosenseniorin. „Man versteht ja gar nichts!“

Ich zähle innerlich auf zehn.

„Notburga wurde als einfache mittelalterliche Bauernmagd zu einer Heiligen, zu der vor allem Dienstmägde und Knechte andachtsvoll aufblickten. Sie war eine von ihnen. Daher übrigens auch der Name dieses Weges, dienmuot, das ist mittelhochdeutsch und steht für Mut zum Dienen.“

„Mut zu was?“, ruft die schwerhörige Seniorin. „Jetzt sprechen Sie doch mal lauter!“

Zugegeben, der Verkehr rauscht relativ laut am Parkplatz unten vorbei, aber so leise rede ich nun auch wieder nicht. Soll sie sich halt ein Hörgerät zulegen!

Dennoch drehe ich etwas auf. „Notburgas letzter Wunsch war es, dass man ihren Leichnam auf einen Karren mit zwei Ochsen legen und sie dort begraben möge, wo der Karren stehen bleibt. Die Ochsen zogen den Karren bis vor die Kirche in Eben am Achensee, also dort hinten.“ Ich strecke den Arm ungefähr in die Richtung, wo ich Eben vermute, und alle Köpfe folgen ihm.

Eine hagere Frau, sicher Lehrerin, widerspricht. „Laut meiner Karte liegt Eben in der anderen Richtung.“

Ich werde muffig. „Wollen Sie die Führung übernehmen?“, frage ich spitz. „Dann los!“

Sie schüttelt den Kopf.

„Was? Geht’s jetzt los?“, ruft die Seniorin. „Wird ja auch Zeit.“

Das kann ja noch heiter werden, denke ich, sammle mich – OM! – und erläutere: „Unser Besinnungsweg erstreckt sich über circa zwei Kilometer. Wir werden an mehreren Stationen vorbeikommen, die zur Besinnung einladen. Und am Schluss kehren wir dann alle in der Rodlhütte ein. Sie sind auf einen kleinen Imbiss eingeladen. Und wir gehen weiter!“

Ich zeige auf das enge Holztor mit der Aufschrift Geh durch das enge Tor, es führt zum Leben. Für manche von uns trifft das nicht zu, ganz im Gegenteil, aber das wissen die Betroffenen noch nicht. Alle schreiten fröhlich voran.

Das Tor – bezeichnenderweise gestiftet von Sport Wöll – ist nicht nur niedrig, sondern auch schmal. Der lange Schlacks mit den karierten Golferhosen muss sich fast in der Mitte knicken, um hindurchzugelangen, das adipöse Ehepaar aus Amerika passt beim besten Willen nicht hindurch. Die Frau versucht es noch, bleibt aber stecken, und ihr Mann und ich müssen sie an den Armen rückwärts herausziehen. „Sie können über den Parkplatz und dann außen herum gehen“, sage ich und deute. „Wir machen etwas langsamer, da holen Sie uns bequem ein.“ Die beiden gucken nicht glücklich, und wären wir in Amerika, würden sie jetzt schon in Gedanken die Klageschrift vorbereiten von wegen Diskriminierung übergewichtiger Wanderer. Leichter kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Dicker auf den Besinnungsweg.

Die beiden Amerikaner kehren in Richtung Parkplatz um. Wir sehen sie nicht wieder und gehen alle davon aus, dass sie beleidigt sind und jetzt lieber allein am See entlangspazieren, wo man so breit sein kann, wie man will. Ein Irrtum, aber das weiß ebenfalls noch keiner.

„Und wir gehen weiter!“, rufe ich und führe meine Herde an.

Nur der See sah zu

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