Читать книгу Nur der See sah zu - Herbert Dutzler - Страница 9
Die dritte Station
ОглавлениеLeitet und sichert einander wie dieses Geländer. Wir halten wieder inne. Eigentlich nur, weil ich neuerlich verschnaufen muss. Keuchend will ich auf den Blick hinweisen, auf dieses prachtvolle Panorama, will etwas über den Achensee mit seinem fast karibisch türkisblauen Farbspiel erzählen, der zehn Kilometer lang und bis zu 133 Meter tief ist, Trinkwasserqualität hat und exzellente Windverhältnisse für Surfer und Segler bietet, aber da sehe ich unten am Hang einen, der sich in den Bäumen verhakt hat. Kein Freestyle-Wanderer, der abseits des Weges gestolpert ist und sich jetzt Halt suchend in eine Birke verkrallt hat, sondern ein – aufgrund der Gliedmaßenverrenkung – sichtlich Toter, der wohl den Hang hinuntergekullert wurde und versehentlich hängen blieb. Es ist der Rothaarige im Flanellhemd, dem es nicht schnell genug gehen konnte. Jetzt nur keine Panik in der Gruppe. Meine Schäfchen dürfen nicht hysterisch werden. Sonst laufen noch alle in Panik zurück, womöglich stürzen die Älteren und brechen sich die Hüfte. Nein, ich muss ruhig und besonnen vorgehen. Das ist das A und O einer guten Wanderführung.
Bevor einer den Toten bemerkt, zum Beispiel der Bommelmützenmann mit der Kamera, zeige ich rasch hangaufwärts, wo es eigentlich nichts weiter zu sehen gibt. „Die Flora und Fauna der Achenseeregion“, jubiliere ich gekünstelt, „Naturparadies der Alpen, unvergleichliches Refugium für Tiere und Pflanzen, Rückzugsgebiet für höchst bedrohte Arten, wie Sie sie dort sehen.“
„Ich sehe nichts“, ruft die Kniehosenseniorin mit dem schlechten Gehör.
„Doch, da!“, insistiere ich und zeige wahllos ins Grün. „Die höchst seltene Almrose, die nur noch im Karwendelgebirge zu finden ist.“
„Ich bin Biologin, meine Guteste, und da ist nichts Seltenes zu sehen“, widerspricht die Alte hartnäckig. „Und das, worauf Sie da zeigen, ist ein Baum, und zwar der hier für die Region ganz typische Bergahorn.“
Ich schaue die anderen schulterzuckend an. Ach, diese senilen Alten, was die immer so reden, will mein Schulterzucken sagen.
Blöderweise interpretiert das auch die Alte korrekt. „Sie machen das hier nicht oft, oder?“, fragt sie frech.
Sie hat ja recht. Aber taktlos ist es trotzdem.
Na, wenigstens hat keiner die Leiche bemerkt.
Schmollend rufe ich: „Und wir gehen weiter!“, und stapfe los.