Читать книгу Zur Hölle mit uns Menschen - Herbert Lenz - Страница 10
ОглавлениеDISRUPTION
Weniger radikal, aber doch in einem überschaubaren Zeitfenster von 20–50 Jahren können sich durch die Unterbrechung laufender Prozesse, Zeitgeistverschiebungen oder die Veränderung technischer Standards völlig neue Blickwinkel und Gegebenheiten manifestieren. Was selbstverständlich, schicksalhaft gegeben oder eben nur mach- und denkbar erschien, verändert sich in kurzer Zeit. Nicht revolutionär und unter dramatischen Umständen, sondern Schritt für Schritt, aber zügig und unaufhaltsam.
Bei der Disruption (to disrupt – unterbrechen, zerreißen) geht es nicht nur um Technologien, sondern auch um Denkweisen, Prozesse, Systeme und ganze Kulturen. Bestehende traditionelle Strukturen werden durch einen disruptiven Prozess abgelöst und teilweise vollständig verdrängt. Das in einem engen Dekaden-Zeitfenster, im Gegensatz zur Transformation, die meist eine längere, generationsübergreifende Entwicklung umfasst.
Nachdem wir im Moment bereits 60 Prozent mehr des regenerativen Angebotes unseres Lebensraumes Erde verbrauchen und wir uns in entscheidenden Bereichen völlig irrational-destruktiv verhalten, bleibt für eine langsame Transformation keine Zeit mehr.
In grauer Vorzeit löste ein hölzerner Hakenpflug, als er die erste Furche in die Erde kratzte, einen disruptiven Veränderungsprozess aus. Damit hatten die Jäger und Sammler Konkurrenz bekommen. Die Idee des Ackerbaus setzte sich schnell durch, brachte sie doch große Vorteile mit sich. Von der Erfindung der Schrift, dem Rad und der Dampfmaschine ziehen sich disruptive Entwicklungssprünge durch die historisch überschaubaren letzten 7000 Jahre der Menschheitsgeschichte. Was damals jeweils im Hier und Jetzt State of the Art war, zeigte sich dem Zeitgenossen am anderen Tage plötzlich in einem ganz anderen Licht. Einer seiner Mitmenschen hatte sich etwas einfallen lassen – eine Idee oder ein Handwerkszeug –, einige Nachbarn fanden das gut und schon kam eine Entwicklung in Gang, die unvorstellbare Veränderungen nach sich zog.
Ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, eine belebte Straßenkreuzung im Zentrum von London. Kreuz und quer sind Pferdekutschen und Fuhrwerke unterwegs. Wegen der Pferdeäpfel und des Urins der hart arbeitenden Vierbeiner muss es streng gerochen haben.
Keine 10 Jahre später riecht es nicht mehr nach Pferdemist, sondern nach Benzin. Auf der Kreuzung ist kein einziges Pferd zu sehen. Dafür zahlreiche sogenannte »Automobile«. Kurz zuvor, 1885, hat Carl Friedrich Benz auf dem europäischen Festland ein dreirädriges Gefährt mithilfe eines schiebergesteuerten Einzylinder-Viertaktmotors mit 0,67 PS fortbewegt. Der Beginn eines neuen Mobilitäts-Zeitalters. Ein klarer Fall einer disruptiven Veränderung, in kurzer Zeit und vor allem friedlich.
Strom direkt von der Sonne. Vor 20 Jahren war es noch gar nicht erlaubt, Fotovoltaik-Kollektoren aufs heimische Dach zu schrauben. Heute glitzert es im ganzen Land. 2016 stieg der weltweite Solarausbau gegenüber dem Vorjahr um 50 Prozent. Die installierte Kapazität verdoppelt sich alle 2 Jahre. Rechnerisch wären wir dann in 7 Jahren bei 100 Prozent. Führend bei Neuinvestitionen ist China, gefolgt von den USA, Japan, Großbritannien und Indien. Das hat das deutsche EEG (Erneuerbare-Energieeinspeise-Gesetz) geschafft, das Werk von Träumern und »Spinnern«, die anfangs
Zum Thema ein kurzer Exkurs in die nahe Zukunft
Stellen Sie sich einen Ihrer Lieblings-Staus vor oder eine besonders viel befahrene Innenstadt-Tangente – meinetwegen vierspurig. Verbrennungsmotoren dröhnen und stinken vor sich hin. Durchschnitts-PS-Zahl: 150. CO2 satt. Feinstaub-Ausstoß sowieso. Stickoxid obendrauf.
Selber Ort, 10 Jahre später: saubere Luft, null Emissionen. Ein leises Hintergrundrauschen liegt über dem Verkehrsstrom. Apropos Strom. Genau das ist der Grund, warum jetzt zwar weiterhin vierrädrige Gefährte unterwegs sind, sich das Szenario aber dramatisch anders darstellt. Die E-Mobilität hat sich in atemberaubendem Tempo durchgesetzt. Ein disruptiver Prozess, der sich über 20 Jahre angedeutet hatte. Es wäre noch schneller gegangen, hätten sich die Diesel-Dinosaurier und Hersteller von hochmotorisierten Benzin-Boliden nicht mit allen Tricks so lange vehement dagegen gesträubt. Sie waren eine unheilige Allianz mit der Politik und den Käufern, dem Markt, eingegangen. Die Leute kauften diese Dinger auch noch. Und wie. 3 Millionen Neuzulassungen in Deutschland 2016, davon 40000 SUVs – Stadtgeländewagen –, also Automobile, die kein Mensch wirklich braucht, völlig irrational.
Jetzt ist alles anders. China hat den Takt vorgegeben. Die hatten große Probleme mit Smog in ihren Metropolen. Einer der Verursacher war der Verkehr. Das Zentralkomitee entschied: Unser stolzes Land wird Weltmarktführer für Elektro-Autos. Und so kam es. 60 Prozent der Vehikel auf Deutschlands Straßen kommen jetzt aus dem Reich der Mitte, 30 Prozent aus Südkorea, Frankreich und den USA. Der klägliche Rest ist hausgemacht.
So geht Disruption. nur belächelt wurden. Auch von den Kern- und Kohlekraftbossen, denen heute die Felle langsam wegschwimmen. Es darf, ja muss mutig gedacht werden. Fiktion ist oft schon Realität in einer stark beschleunigten Gegenwart.
Die Neugierigen, Wissbegierigen und Oberlehrer unter uns werden noch wehmütig auf ihren Großen Brockhaus mit zwanzig Bänden im Bücherregal schauen. Heute gibt es Google und Wikipedia.
Auch die nähere Vergangenheit zeigt gute Beispiele für Veränderungen, die erst keiner wahrhaben wollte.
Das 20. Jahrhundert war geprägt von einer steten Abfolge technischer Entwicklungen. Diese bedrohten so manches traditionsreiche Geschäftsmodell. Besonders hart traf es die Passagierschifffahrt, lange Zeit das einzig interkontinentale Verkehrsmittel. Moderne Düsenjets tauchten am Himmel über dem Atlantik auf und lösten zwischen 1960 und 1970 nicht nur ihre Propeller-Vorgänger mit begrenzter Geschwindigkeit und Reichweite, sondern auch die traditionellen Liniendampfer ab. Ende einer Ära, das man 10 Jahre früher nicht einmal als Möglichkeit angedacht hatte.
Ein fabelhaftes Beispiel sind die Segnungen der Digitalisierung, die etwa zur selben Zeit einsetzte. Datenverarbeitung und Kommunikation haben Leben und Arbeiten von uns Menschen in wenigen Jahren verändert. Gerade noch steckten wir den Zeigefinger in die Wählscheibe des Festnetz-Telefons. Jetzt sind wir mit einer Wischbewegung mobil und überall »connected«. Gesprochenes Wort, SMS, getwitterte Texte, WhatsApp, Fotos und ganze Spielfilme sind im weltweiten Internet verfügbar. Vor 40 Jahren war das nicht einmal Science-Fiction.
Vorwärts in die Zukunft
Die Welt in 10 Jahren. Hatten sich die Menschen bis 2020 noch in selbstverliebter Ignoranz auf die bisher unangefochtenen Fähigkeiten ihrer organischen Intelligenz verlassen, wurde ihnen jetzt das Ruder durch die künstliche Intelligenz aus der Hand genommen. Das Zauberwort hieß »Algorithmus«, also eine schlichte Arbeitsanweisung, die durch die Speicher- und Rechnerleistung von Maschinen und ihrer Software eine völlig neue Qualität bekommen hatte. Seit die nicht organischen Dinger auch noch selbstlernend waren, gab es kein Halten mehr. Schon 1998 hatte Deep Blue von IBM den Schachweltmeister Garri Kasparow besiegt, 2015 verblüffte Googles DeepMind bei Dutzenden von Computerspielen, indem es die Spielregeln verinnerlichte und menschliche Gegner schlecht aussehen ließ, tja, und kurz darauf schlug das KI-Programm AlphaGo den südkoreanischen Go-Champion Lee Sedol mit 4:1 vernichtend. Go ist ein altes strategisches Brettspiel aus China, das noch komplizierter als Schach ist.
Das war aber nur das buchstäblich spielerische Vorspiel. KI wurde zum willkommenen Partner bei der Profitmaximierung im Finanzwesen ebenso wie in der Industrie, wo sich Arbeitsabläufe schnell ins Aberwitzige beschleunigten. Im Takt von milliardstel Sekunden kam der Homo sapiens nicht mehr mit. Ehe er sichs versah, war er wieder in eine selbst verschuldete Unmündigkeit gefallen, aus der ihn Immanuel Kant Mitte des 18. Jahrhunderts mit seinem »sapere aude« – »Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen« – versucht hatte zu befreien. Klappe zu, Affe tot. Jetzt lässt sich der Mensch im selbstfahrenden Auto chauffieren und in der Industrie sind Millionen Arbeitsplätze verschwunden. Die Interface-Schnittstelle zwischen einem pfiffigen, selbstlernenden Maschinenprogramm und unserem etwas altmodisch-trägen Gehirn bringt uns der göttlichen Bestimmung zum »Homo deus« (siehe das fabelhafte gleichnamige Buch von Yuval Noah Harari) näher. Weitere Fiction-Horrorszenarien sind Ihrer Fantasie überlassen.
Nicht vergessen: Das Ganze spielte sich innerhalb der letzten rund 50 Jahre ab.
Noch etwas Disruption im Alltag
Für Existenzialisten, Intellektuelle, Arbeiter, Künstler, kurz: für viele war Rauchen im vergangenen Jahrhundert ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. »Ich rauche, also bin ich« – und das in allen Lebenslagen. Seit 30 Jahren hat sich das weltweit drastisch verändert. Unvorstellbar! Auf Initiative von Einzelnen, Gruppen und Parteien wurde heftig über die Glaubensfrage »Rauchen« diskutiert. Die US-dominierte Zigaretten-Industrie, die ihre Desinformationskampagnen über Jahrzehnte betrieben hatte, war überführt. Ihre nikotin-und teerbelasteten Glimmstängel sind definitiv gesundheitsschädlich – auch für Nichtraucher. Der dramatische Schlusspunkt war der Tod des Marlboro-Cowboys, der, nachdem er jahrelang rauchend durch die Werbelandschaft dieser Zigarettenmarke geritten war, an Lungenkrebs erkrankte und verstarb. Das Passivrauchen und seine Folgen gaben bei uns den Ausschlag. 2007 beschloss die Bundesregierung das »Nichtrauchergesetz«. Das Qualmen in öffentlichen Räumen, wozu nach zähem Widerstand auch Kneipen und Wirtschaften zählten, ist damit verboten. Eindeutig eine Zäsur, eine Veränderung in einem kurzen Zeitfenster.
Bei Lichte betrachtet, sollten wir disruptive Veränderungen bei der Suche nach Auswegen aus dem selbst verschuldeten Dilemma des Anthropozän genauer ins Auge fassen. Disruption kann heute Undenkbares zumindest übermorgen möglich machen. Das wäre Anlass zur Hoffnung, die uns Menschen über Wasser hält.
Sarah al-Suhaimi, Vorstandschefin der saudi-arabischen Börse in Riad, brachte es in einem Spiegel-Interview auf den Punkt. Gefragt, ob sie denn in der strengen islamischen Gesellschaft ihres Heimatlandes die Gleichstellung der Frauen für realistisch halte, sagte sie: »Es geht nicht darum, ob es realistisch ist. Es muss passieren.« Das ist die richtige Einstellung, um große Herausforderungen anzupacken. Alles andere ist Wegducken und darauf hoffen, dass morgen die Sonne wieder aufgeht. Die neuen Weichenstellungen des jungen Thronfolgers Prinz Mohammed bin Salman bin Abdulaziz al-Saud weisen darauf hin, dass Frau al-Suhaimi bald recht bekommt.
Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass der Wandel, ein Entwicklungssprung auch falsche Hoffnungen wecken oder negative Folgen mit sich bringen kann. So löste die Erfindung des Verbrennungsmotors vor 130 Jahren auch eine gewaltige Blechlawine aus. 1,2 Milliarden Autos sind heute weltweit auf einem unendlichen mehrspurigen Asphaltstraßennetz laut und stinkend, häufig im Stau, unterwegs. Eine gigantische Boden- und Ressourcenverschwendung sowie Umweltverschmutzung. Das hatten sich die Automobil-Pioniere sicher so nicht vorgestellt. Höchste Zeit für eine erneute Disruption! Dabei gehört unser Mobilitätsanspruch ebenso auf den Prüfstand wie die dazu notwendigen Fahrzeuge.
Wohl wissend, dass ein zügiger Wandel auch schiefgehen kann, sollten wir uns von heute Unwahrscheinlichem, Unmöglichem und eigentlich Undenkbarem nicht entmutigen lassen.
Wir haben keine Wahl. Wir müssen das Ruder herumreißen! Es muss passieren!