Читать книгу Zur Hölle mit uns Menschen - Herbert Lenz - Страница 13
ОглавлениеUNION ERDE
Die ernüchternde Bestandsaufnahme am Anfang des 21. Jahrhunderts zwingt im Anthropozän zu mutigen, im Moment als unwahrscheinlich geltenden Ideen und Konzepten für eine globale Wende.
Ich möchte einige Vorschläge machen, die als Steilvorlage aus dem eigenen Scheuklappen-Denken und nationaler Kleinstaaterei hinausführen.
Vorgaben kommen bereits aus dem zukunftsgläubigen Silicon Valley, wo Heilslehren in Hightech umgesetzt werden. Der Facebook-Vordenker Mark Zuckerberg postuliert: »Wir müssen die Infrastruktur bauen, damit die Zivilisation die nächste Stufe erreicht und wir die Stammesfehden der Gegenwart hinter uns lassen können.« Obwohl Informationen überall und Daten alles sind, wird es nicht ohne Staat gehen.
Wohlgemerkt: »Staat«, Einzahl! Staaten machen nur Ärger. Deshalb: Ich fordere eine Weltregierung!
Eine disruptive globale Entwicklung könnte sein:
Stärkung der Vereinten Nationen mit der Zielsetzung einer WELTREGIERUNG der UNION ERDE (Vorbild wären die Vereinigten Staaten von Amerika oder die Europäische Union, unter Vermeidung der bisher gemachten Fehler).Eine global agierende FINANZ-AGENTUR koordiniert die Abschaffung des virtuellen digitalen Finanzsystems mit seinen zockenden Global Players. Fiat Money, also virtuelles Geld, wird nur noch kontrolliert von der UNION- ERDE-Zentralbank generiert.Verbot des Investment-Bankings, Schließung der Börsen. Dafür mehr Spielcasinos.Banken sollen wie im alten Florenz einfach wieder Geld sicher aufbewahren, überweisen und zu maßvollen Zinsen verleihen. Risiko-Absicherungen werden durch UNION- ERDE-Bürgschaften oder – wie gehabt – durch private Rückversicherungen abgedeckt.Errichtung einer VERY BAD BANK, in die die weltweit aufgelaufenen Staatsschulden von 202 Billionen (202 000 Milliarden) Dollar verschoben werden.Ein Endlager wird noch gesucht.
Zerschlagung der Food-Giganten (Nestlé, Unilever, Danone, Coca-Cola, PepsiCo, Mondelez International, Kraft Heinz) durch die planetare ERNÄHRUNGS- AGENTUR, um eine nachhaltige und gesunde Versorgung der Erdbevölkerung sicherzustellen. Die Konzerne machen uns mit überzuckerten, sinnfreien Labor- und Marketingprodukten übergewichtig, krank und entmündigen uns als Verbraucher zu Konsumenten. Das Ganze in einem Massen-Billigmarkt, der eine natur-und artgerechte Nahrungsmittelherstellung ausschließt.Diese Entflechtung und Straffung des Lebensmittelangebotes geschieht in Kombination mit einer Land- reform: Landgrabbing wird verboten, Großgrundbesitz in regionale, kleinere Einheiten zurückgeführt sowie Subventionen gerechter – sprich kleinteiliger – verteilt. Damit wird die Existenz von Millionen von Bauern besonders in den Ländern der Dritten Welt sichergestellt.Die Massentierhaltung wird artgerechten Vorgaben unterworfen. Die Anwendung der Gentechnik bei Tieren und Pflanzen wird weltweit abgestimmt, geregelt, kontrolliert und sanktioniert. Ebenso werden Monopolbildungen bei der Agrochemie für Saatgut, Düngung und Schädlingsbekämpfung (Bayer/Monsanto, Dow Chemical/ Dupont, ChemChina/Adamo/Syngenta) aufgelöst und der ERNÄHRUNGS-AGENTUR unterstellt.Dass sich großes, übermächtig Erscheinendes filetieren oder zerschlagen lässt, zeigt rückblickend das Beispiel »Standard Oil«. 1870 vom skrupellosen John D. Rockefeller gegründet, war es Ende des 19. Jahrhunderts das größte Erdölraffinerie-Unternehmen der Erde. 1906 ging die Regierung unter Präsident Theodore Roosevelt gegen die einflussreiche Monopolstellung vor. Es kam zur »Entflechtung«, ein Meilenstein der amerikanischen Rechtsgeschichte.
Einrichtung einer ENERGIE-AGENTUR, die weltweit Produktion und Versorgung mit regenerativem Strom finanziert und koordiniert. Parallel erfolgt eine drastische Rückführung der Verstromung aus Atomkraft und fossilen Energieträgern (Erdöl, Gas und Kohle). Zielsetzung ist, dass die heute noch vorhandenen CO2-Speicher möglichst im Boden verbleiben – zumindest nicht mehr für die Verbrennung verwendet werden.Die ENERGIE-AGENTUR erhebt auch eine Energiesteuer auf alle Energiequellen (also auch für Sonne, Wasser und Wind sowie Atomkraft und fossile Ausgangsstoffe). Naturnutzung darf nicht mehr kostenlos sein.
Eine zentrale AGENTUR FÜR BODENSCHÄTZE verwaltet die Vorkommen wichtiger Mineralien weltweit. Bodenschätze (Eisen, Kupfer, Seltene Erden, Phosphat, Erdöl, Erdgas, Kohle etc.) werden dem Zugriff durch private Unternehmen, Staaten, Kriegsparteien/Milizen und Zwischenhändlern entzogen und dem planetaren Gemeinwohl unterstellt. Wer sagt denn, dass Beduinenstämme, Warlords, Despoten oder Konzerne die Verfügungsgewalt über menschheitsrelevante Rohstoffe haben sollen – wie bisher?
– | Beispiel Saudi-Arabien: Ein Herrscherhaus (vor zwei/ drei Generationen waren es noch Nomaden) finanziert mit seinen Ölmilliarden nicht nur eine prächtige Hofhaltung, mischt im internationalen Geldgeschäft mit und verbreitet den Wahhabismus – eine puristisch- sunnitische Auslegung des Korans –, sondern führt auch noch Krieg gegen seinen Nachbarn Jemen, von den indirekten Interventionen in Syrien, dem Irak und Katar abgesehen. |
– | Beispiel Venezuela: Das Land mit den größten Ölvorkommen der Erde versinkt im Chaos. Der verstorbene Präsident Hugo Chávez, der seinen Machtwillen unter dem Deckmantel des Sozialismus zu verbergen suchte, hatte sein Volk an den Tropf gehängt. Gefallene Ölpreise machten das Land zum Armenhaus. Wenn die Geschichte anders gelaufen wäre, müsste Caracas heute wie Dubai aussehen. Mit glitzernden Hochhäusern, Shoppingmalls und gigantischen Fontänen. Jetzt liefert das Land ein Lehrstück zum Thema: »Wie ruiniert man ein Ölreich?« |
– | Beispiel Russland: Auch hier führen die reichen Rohstoffvorkommen zu einer Junkie-Abhängigkeit, an der sich eine politische Elite sowie eine Oligarchen- Clique bereichern. Das leichte Devisen-Kapital verhindert den Aufbau einer produktiven Volkswirtschaft, die dem globalen Wettbewerb gewachsen ist. – Egoistisch und dumm werden so die Reichtümer der Erde verschleudert. Das mit ihnen erwirtschaftete Geld landet in privaten Taschen, anstatt der Weltgemeinschaft zugutezukommen. |
Um einen Eindruck zu vermitteln, über welche Mengen an Rohstoff und Geld wir gerade reden:
Die tägliche Rohölproduktion (in Barrel = 159 Liter) der Länder
Saudi-Arabien | 10 Millionen Barrel |
Venezuela | 2,4 Millionen Barrel |
Russland | 11 Millionen Barrel |
Geht man von einem bescheidenen Barrel-Preis von 50 US-Dollar aus, dann ergeben sich – täglich – beachtliche Summen, mit denen die UNION ERDE sicher viel Gutes tun könnte.
Eine GERECHTIGKEITS-AGENTUR, die für die Umverteilung des Reichtums der Ersten Welt an die Armutsländer der Dritten Welt sorgt. Die Zielsetzung der UN-Agenda 2030, die eine Abschaffung von Hunger und Armut vorsieht, muss in eine institutionelle Form gegossen, die Institutionen müssen mit konkreten Befugnissen und Mitteln ausgestattet werden. Sie sind auch verantwortlich für den Aufbau klein- und mittelständischer Betriebe in den Entwicklungsländern, die eine Existenzgrundlage schaffen. Große Ungleichheit destabilisiert die planetare Balance.
Eine ABRÜSTUNGS-AGENTUR initiiert, verhandelt und kontrolliert die weltweite Abrüstung. Dies umfasst die konventionelle, biologische, chemische wie atomare Rüstung. Parallel dazu wird die Herstellung von Waffen aller Art und deren Handel verboten.
Nur die SICHERHEITS-AGENTUR verfügt über 100 000 bewaffnete Elitesoldaten, die auf allen kontinentalen Verwaltungseinheiten stationiert und direkt der Regierung der UNION ERDE unterstellt sind.
Die FLÜCHTLINGS-AGENTUR koordiniert die weltweiten Flüchtlingsbewegungen, ausgelöst durch Naturkatastrophen oder kriegerische Konflikte. Sie kann Staaten Kontingente zuteilen und Unterbringungs- sowie Integrationskriterien vorgeben. Auch sie ist mit den entsprechenden Befugnissen und unterstützenden Mitteln ausgestattet.
Eine HANDELS-AGENTUR koordiniert die weltweiten Handelsbeziehungen, wobei der freie Handel der ordnenden Hand der Agentur und nicht mehr einzelnen Staaten unterworfen ist. Basis ist eine erweiterte Welthandelsorganisation, WTO.
Eine AGENTUR FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG koordiniert die weltweiten Aktivitäten von Universitäten, Institutionen und Unternehmen. Vorgaben sind klare Rahmenbedingungen, an die sich alle zu halten haben. Zügelloser Forschungstrieb und Profitdenken sollen eingehegt werden. Das gilt insbesondere für die wichtigen, aber auch hochriskanten Bereiche der Gentechnik (CRISPR) und der Entwicklung von künstlicher Intelligenz, KI, Robotik sowie virtueller Realität.
Ausbildung und Bildung muss allen Menschen – abgestimmt auf ihre kulturellen Wurzeln – zugänglich gemacht werden. Koordiniert wird dies von der AGENTUR FÜR BILDUNG UND KULTUR, die von der Erdgemeinschaft mit den notwendigen, großzügigen Mitteln ausgestattet wird. Lehrer sind die Generäle der nahen Zukunft.
Die AGENTUR FÜR SPIRITUALITÄT koordiniert die »Ethik der Zukunft«. Zielsetzung ist ein fruchtbarer Austausch von Religionen, Philosophie und Ideologien. Spiritualität wird als hohes Gut anerkannt. Rahmenbedingungen sind der gegenseitige Respekt und die Ausschließlichkeit von Alleinvertretungsansprüchen sowie Fundamentalismus.
Zugegeben: Aus heutiger Sicht erscheinen diese Zielsetzungen mehr als ambitioniert, um nicht zu sagen utopisch. Sie setzen unglaubliche Umwälzungen voraus. Die Strukturen global agierender Organisationen (UN, OECD, Weltbank, WHO, UNICEF etc.) sind aber bereits vorhanden. Das größte Hindernis wird die festgefügte Souveränität von Staaten – immerhin 193 an der Zahl – sein, die bei einer UNION-ERDE-Lösung ohne Grenzen natürlich drastisch eingeschränkt wird.
Das enge Denken in Rassen, Hautfarben, Vaterländern oder Nationalitäten und Religionen hätte aber ein Ende. Alles schwerer Ballast, der in der Vergangenheit nur für Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen gesorgt hat. Genau dieses Leben in Angst, Bedrohung und Schrecken wollen wir nicht mehr! Die planetare Wende schafft einen neuen Ansatz. Der Mensch darf weder Feind des Menschen noch des Planeten sein.
Die bisherigen Bemühungen zu einer friedlichen Völkergemeinschaft waren zu zaghaft und gingen meist von den falschen Voraussetzungen aus. Sie dokumentieren aber auch die gewaltigen Interessenskollisionen einer in Nationalstaaten zersplitterten Menschheit.
Exkurs: Am 8. Mai 2017 erschien in der Süddeutschen Zeitung in der Reihe »Globalisierung am Ende?« folgender Artikel:
Die Internationale der Technokratie
Alle Länder lösen gemeinsam die Probleme dieser Welt?
Wie die schöne Nachkriegs-Idee der Völkergemeinschaft von krassen Widersprüchen blockiert wird.
Nach dem Fall der Berliner Mauer schien die Globalisierung unaufhaltsam zu sein. Für Befürworter wie für Kritiker wurde sie zum Begriff unserer Epoche. Eine Serie im SZ-Feuilleton fragt, ob die weltweite Verflechtung in der Ära von Donald Trump, von Populismus und neuem Nationalismus nunmehr ins Stocken gerät – und ob sich die Zukunft überhaupt noch von der Weltgemeinschaft gestalten lässt.
VON ANDREAS ZIELCKE
Alle bedeutenden Friedensordnungen der Neuzeit entstanden nicht aus freien Stücken, sondern unter dem Leidensdruck verheerender Kriege. Nach dem Dreißigjährigen Krieg errichteten die westfälischen Verträge ein Friedenssystem gleichberechtigter Staaten. Nach den jahrzehntelangen Koalitionskriegen gegen das napoleonische Frankreich erlegte der Wiener Kongress dem Kontinent eine neue Ordnung auf, die allerdings nicht auf Souveränität baute, sondern auf das Gleichgewicht der Großmächte.
Die Monstrosität des Ersten Weltkrieges war es dann, die das klassische Ideal eines völkerrechtlichen Friedenskonzepts wiederaufleben ließ, jetzt in Gestalt eines Völkerbundes, wie ihn bereits Hugo Grotius 300 Jahre zuvor entworfen und nachher Immanuel Kant in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« als »durchgängig friedliche Gemeinschaft der Völker« ausgearbeitet hatte. Schließlich forcierte der Zweite Weltkrieg – obwohl er den Völkerbund auf schlimmstmögliche Weise ad absurdum geführt hatte, den nächsten Anlauf, die Nationen in einer Rechts- und Friedensunion zu vereinen. Noch während des Krieges wurden die Vereinten Nationen geplant und schon im Juni 1945, noch vor Japans Kapitulation, von 50 Staaten vereinbart.
Doch wie schon bei den früheren Friedenssystemen sind auch die UN geprägt von der Signatur des Krieges, aus dem sie hervorgingen. Sie bannen die militärische Aggression, bleiben aber den kriegsgeborenen Hegemonien und Allianzen verhaftet. Was beim Wiener Kongress unverhohlene Methode war – die Siegermächte plus das restaurierte Frankreich oktroyierten sich als herrschendes Friedenskartell –, wurde bei den Vereinten Nationen teils negiert, teils offen inszeniert. Auch wenn ihre Gründer erneut das Loblied auf Kants Vision sangen, erschufen sie eine Ordnung von hybrider Natur, die die nationale Selbstbestimmung und die Dominanz der Sieger unter einen Hut zu bringen sucht.
Im Prinzip mischten sie die realpolitische Logik des Wiener Kongresses mit den Idealen des Völkerbunds. Jeder Mitgliedstaat trägt die globale Union gleichberechtigt in der Generalversammlung mit, aber den Siegermächten ist mit ihrem Exekutiv- und Vetorecht im Sicherheitsrat die Führungsgewalt vorbehalten. 1815 waren es die fünf europäischen Großmächte; seit 1945 die fünf (teils ehemaligen) Weltmächte. Treffend beschrieb es der in die Gründungsverhandlung involvierte britische Diplomat Charles Webster in seinem Tagebuch als »Allianz der großen Mächte, eingebettet in eine universelle Organisation«.
Bis heute schleppen sich die UN mit dieser Crux herum, die ihnen heillose Funktions- und Legitimitätskrisen beschert. Die andere Crux rührt aus dem in ihre Charta eingeschriebenen Widerspruch zwischen der Autonomie der Mitgliedsstaaten, garantiert durch das Einmischungsverbot, und den Menschenrechten. Die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 entstellte diesen Konflikt zur Kenntlichkeit. Seither hat er an Schärfe nicht verloren, auch wenn man mit der »humanitären Intervention« und der internationalen »Schutzverantwortung« für Entrechtete (»responsibility to protect«) seit den Neunzigerjahren wenigstens für extreme Menschenrechtsverletzungen einen neuen Ansatz gefunden hat. Von einem Durchbruch kann aber keine Rede sein.
Doch am Anfang war dies weit mehr als nur ein Prinzipienkonflikt, es war eine Lüge – wie so häufig in der Rechtsgeschichte. So wie man in den USA trotz des Bekenntnisses der Unabhängigkeitserklärung, »dass alle Menschen gleich geschaffen sind«, unangefochten die Sklaverei fortsetzte, so wie man trotz des französischen Revolutionsversprechens der »Egalité« den Frauen 150 Jahre lang das Wahlrecht verwehrte, so verabschiedete man die UN-Charta und Menschenrechtserklärung ungerührt davon, dass damals mindestens zwei der fünf Großmächte, Frankreich und Großbritannien, gar nicht daran dachten, ihren Kolonialismus aufzugeben. Was also konnte die »Selbstbestimmung der Völker« für kolonisierte oder annektierte Bevölkerungen bedeuten? Offenbar sind universale Rechtsgarantien historisch zuerst nur als falsche Versprechen zu haben, bevor die Betroffenen in der Lage sind, sie wirksam einzufordern. Ironie gibt es im Recht nicht, sehr wohl aber Zynismus.
Trotz alledem wiederholt sich die Geschichte nicht, die UN degenerierten nicht wie der Völkerbund zum politischen Zombie. Und läge der Beweis nur darin, dass es bislang zwar zu vielen regionalen Kriegen kam, aber zu keinem neuerlichen Weltkrieg. Doch welches Verdienst daran auch immer die UN haben, unterhalb des worst case eines Weltbrandes bestand so gut wie nie Einigkeit darüber, was denn unter der Praxis einer verbindlichen Weltgemeinschaft überhaupt zu verstehen ist.
Diejenigen, die von einer Weltpolizei träumten (nicht zuletzt der britische Premier Winston Churchill, der eine eigene UN-Kampftruppe forderte), wurden durch fehlende Durchsetzungsorgane der UN ernüchtert. Ohnehin machte der Kalte Krieg jede Illusion einträchtiger Ordnungsakte der Großmächte hinfällig. Aber von Eintracht waren die Großmächte auch in ihrem Inneren weit entfernt. Den Zwist, der die Lager ideologisch teilte, vor allem innerhalb der USA, gibt es bis heute: Waren die einen Politiker gewillt, Amerika trotz seiner »Exzeptionalität« in eine multilaterale Politik einzugliedern, verlangten die anderen, auch die Weltorganisation den Interessen Washingtons unterzuordnen.
In der Tat stellt sich die Frage, wie Nationalstaat und Internationalismus zu vereinbaren sind, für Großmächte anders als für den Rest der Welt. Sollen sie ihre hegemoniale Stärke in den Dienst der Weltunion stellen? Oder umgekehrt diese Union für ihre Zwecke instrumentalisieren? Zweifellos verlangt der kantianische Idealismus den kleineren Mächten weniger Selbstdistanz und Vernunft ab als den ganz großen. Die beiden Weltmächte USA und Sowjetunion haben sich meist für die zweite Variante entschieden, wenn auch oft rhetorisch kaschiert. Allerdings setzte Washington selbst in den Phasen, in denen hier die Unilateralisten politisch die Oberhand hatten, den Eigensinn zumindest in den ersten Jahrzehnten nicht derart rabiat durch wie Moskau. Allein in den ersten sechs Jahren nutzten die Sowjets ihr Vetorecht 47 Mal, die USA innerhalb von 20 Jahren gar nicht.
Aber die beiden Großmächte kollidierten nicht nur im Sicherheitsrat. Besonders in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wetteiferten sie aggressiv um eine neuartige Imperialstrategie. Neuartig, weil die beiden nicht mehr, wie beim Imperialismus des 19. Jahrhunderts, Länder der südlichen Hemisphäre kolonisieren wollten, sondern weil sie nun ganz im Gegenteil den Freiheitskampf noch immer kolonisierter Bevölkerungen mit allen, auch militärischen Mitteln unterstützten, um die jungen Nationen auf ihre jeweilige Seite zu ziehen. Im Namen eines auf Weltfrieden ausgerichteten Internationalismus schürte man in Afrika und Asien das Feuer des Befreiungsnationalismus. Um die Welt zu vereinen, spaltete man sie auf.
Doch unfreiwillig trugen die Supermächte damit zum Erstarken und Selbstbewusstsein der »Dritten Welt« bei, die sich ihrerseits bald von ihnen zu emanzipieren suchte und, als »Bewegung der blockfreien Staaten«, die UN aus ihrer Blockstarre löste. Mit der weiteren Folge, dass die UN-Generalversammlung sich immer öfter mehrheitlich gegen die fünf Vetomächte positioniert. Was die Völkergemeinschaft wiederum noch frustrierender blockiert.
Führte aber die parteiliche politische Befreiung in das eine Dilemma, so die Befreiung von der Armut in das andere. Immerhin hat auch hier die Lager-Rivalität nachhaltige Impulse ausgelöst und das Konzept der »Entwicklung« auf die internationale Tagesordnung gesetzt. Doch auch das von den UN im Jahr 1965 ins Leben gerufene »Development Programme« verhinderte nicht, dass man sich in die Haare bekam, diesmal über Idee und Stoßrichtung der Modernisierung »unterentwickelter« Länder – und damit über die ökonomische Integration der Welt.
Sollten diese Länder den Industrieländern nacheifern? Oder sollten sie einen eigenen Weg einschlagen, zumal der Rückstand nicht nur bei den ärmsten Nationen auf absehbare Zeit uneinholbar war? Für den industrialisierten Westen war es eine Scheinfrage, er hielt an seinem Ordnungsmuster auch für die Weltwirtschaft fest. Im Süden aber forderte man eine »neue Weltwirtschaftsordnung« mit geregelten Rohstoffpreisen und fairen, auf ihre Nöte zugeschnittenen Handelsbeziehungen. Kapitalismuskritik rüttelte in den Sechzigerjahren ja auch die westliche Öffentlichkeit auf, doch auch dieser zusätzliche Drive änderte nichts an der vorherrschenden Weltökonomie. Den armen Ländern blieb nur, sich mit ihr zu arrangieren.
Die Stunde der Wahrheit kam für sie immer dann, wenn sie Kredite bei der Weltbank oder gar beim Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnehmen mussten.
Speziell diese beiden Organe beweisen, wie sehr die Weltgemeinschaft im Vergleich zur Völkerbundzeit an Handlungsfähigkeit dazugewonnen hat. Ihre Durchsetzungskraft war gewaltig. Vor allem der IWF nötigte den Schuldnerländern durch die Konditionen, die er mit der Kreditvergabe verband, nicht nur fiskalische Rosskuren auf, sondern tief greifende Umbrüche ihrer staatlichen und privatwirtschaftlichen Struktur.
So wandelte sich die Weltgemeinschaft zu einer Paternalismusagentur: Trotz universeller Souveränitätsgarantie bevormundete man die verschuldeten Nationen, als seien sie wieder Mandatsgebiete, jetzt aber der internationalen Kreditgeber. Je weniger Rücksicht man auf andersartige Traditionen und Denkweisen nahm, desto eher gerieten viele IWF-gelenkte Länder erst recht in die Krise. Bis heute sind es fast nur Schwellenländer, die potent genug sind, um ihren Entwicklungspfad zum Globalmodell des Nordens mehr oder weniger souverän verfolgen zu können.
Noch fataler aber für den ideellen Anspruch der Völkergemeinschaft wurde, dass sowohl die beiden rivalisierenden Großmächte der Nachkriegszeit als auch das mechanische nation building à la IWF der Prämisse folgten, dass die Stabilität der politisch und ökonomisch protegierten Nationen absoluten Vorrang hatte vor einer demokratischen Struktur. Lieber autoritäre Regimes, auf die man zählen konnte, als unberechenbare Demokratien.
Stets begründet man dies auch damit, dass nur stabile Regierungen vor Zerfall, Gewalt und Krieg schützen. Doch jeder weiß um die Scheinheiligkeit dieses Vorwands. Ohne integrierende politische Teilhabe, ohne Gewaltenteilung und Rechtsstaat, also ohne innerstaatliche Friedlichkeit ist auf Dauer auch der äußere Frieden nicht zu wahren. Eigentlich eine schlichte Erkenntnis, die zudem ein erklärtes Credo des Westens ist, der sich selbst »freie Welt« nennt. Aber auch dieses Bekenntnis ist noch lange nicht beim Wort genommen.
Seit Mitte der Siebzigerjahre hat sich der Prozess der Vergemeinschaftung noch einmal heftig verschoben, bis heute. Wurde Entwicklungsökonomie bis dahin vor allem an der Frage gemessen, durch welche staatlichen und internationalen Programme man den ärmeren Nationen auf die Sprünge helfen kann, so gilt seit der neoliberalen Wende eine neue Priorität.
Von nun an setzt man für den Entwicklungsschub aller Länder, und damit auch für die schwachen, primär auf den Markt statt auf staatliche Nachhilfe. Ökonomische Anreize, steuerliche Privilegien, Investorenschutz, Freihandelsverträge, Deregulierung, Präparieren für den Finanzmarkt, das waren und sind die neuen Instrumente, die allen, den wohlhabenden wie den armen Ländern, am besten nutzen sollen.
Auch hier ist guter Wille am Werk, man muss den Urhebern nicht nur Ausbeutung unterstellen, selbst Kant versprach sich von der Verdichtung der internationalen Handelsbeziehungen eine friedlichere Welt. Was er aber noch nicht voraussehen konnte, uns aber spätestens jetzt, nach jahrzehntelanger Erfahrung mit der Marktentfesselung, vor Augen steht, ist die
Tatsache, dass zwar viele Völker von der offensiven Marktintegration profitieren können; dass aber anfänglich bestehende Ungleichgewichte sich zu immer krasseren Ungleichheiten auswachsen, von neuen Abhängigkeiten ganz zu schweigen. Die Welt rückt zusammen und differenziert sich dramatisch und ungerecht aus.
Zurzeit sind keine politischen Kräfte zu sehen, die den Prozess des Zusammenfindens und Auseinanderfallens zumindest abfedern könnten. Fest steht nur, dass der Neonationalismus auf den Holzweg führt. Weniger auffällig, aber noch schwerer aufzuhalten ist ein zweiter Trend. Anstelle eines global government, einer utopischen Weltregierung, zeichnet sich real eine global governance ab. Das ist keine politische Zentrale, sondern ein loses, aber höchst wirksames transnationales Netzwerk von Fachgremien, Absprachen zwischen multinationalen Firmen, Expertenrunden, Freihandelssystemen, Schiedsgerichten, Davos-Treffen, Rating-Agenturen und vielen indirekten Lenkungsmechanismen mehr. Die Sorge, dass die Demokratien marktkonform gemacht werden, verfehlt diese Gefahr im Hintergrund. Die Internationale der technokratischen Instanzen droht zum falschen Ferment der Weltvergemeinschaftung zu werden.
Die viel beklagte Globalisierung kann gar nicht das Hauptproblem der Völkerunion sein, es ist die Entpolitisierung ihrer Steuerung. Die UN sind ein – lahmendes – Befriedungsprogramm, politisch effizient wachsen die Nationen nur zusammen, wenn sie die Globalisierung nicht als Naturgewalt über sich ergehen lassen, sondern als zu gestaltendes Projekt begreifen.
Die weltumspannende Globalisierung nahm nach dem Epochenbruch von 1989 mit dem Kollaps der Sowjetunion so richtig Tempo auf. Hinzu kamen die Kommunikationsmöglichkeiten des erdumspannenden Internets, das eine vernetzte Menschheitsgesellschaft in Echtzeit ermöglichte. Ein ökonomisches, politisches und kulturelles Zusammenwachsen schien denkbar. Die Europäische Union entwickelt sich – bei allen Schwierigkeiten – von einer überschaubaren Handels- und Währungsgemeinschaft zu einer Werte- und Rechteallianz – ein Modell im Kleinen für eine zukünftige UNION ERDE.
Die USA als Siegernation des Kalten Krieges und World-Champion in fast allen Disziplinen sind mit ihrer Rolle als Über-Nation gescheitert. Der Weltpolizist wurde von anderen immer mehr als Hegemon empfunden. 9/11 war der vorläufige Schlusspunkt dieses Alleinvertretungsanspruchs, unter dessen Ordnungsmandat sich der Rest der Welt weitgehend arrangierte. Höhepunkt dieses Rückzugs ist die bisherige Politik der Trump-Regierung, die ein multipolares Mobile in Bewegung versetzt hat.
Stefan Kornelius schreibt in der Süddeutschen Zeitung vom 13./14. April 2017: »Globalisierung ist eine politische Urgewalt. Wer sie zähmen will, müsste internationale Politik auf Augenhöhe zwischen allen Staaten treiben. Wie schwer das derzeit ist, zeigt die Endlosschleife Klimapolitik, wo tatsächlich ein weltumspannendes Netz ein Menschheitsproblem in den Griff zu bekommen versucht.«
Ebenso wie die Bedrohungen einer Klimaveränderung zwingt die Gefährdung unseres Lebensraumes durch Überbevölkerung und Übernutzung zu verantwortlichem Handeln. Am Ende seines Artikels kommt Kornelius auf den Punkt: »Die USA haben ihre Friedensdividende nicht investiert, um den alten Übeln einer zu engen Welt der verfeindeten Nationalstaaten eine moderne Version globaler Governance entgegenzustellen. Wie die hätte aussehen sollen? Eine gute Frage, nicht viele haben sich an die Antwort in den letzten Jahrzehnten gewagt.«
Wagen wir es! Glauben wir an die Macht der Disruption! Heute belächelt und abgelehnt, bricht sich Neues in kurzer Zeit Bahn. Noch dazu, wenn es zwingend und naheliegend ist.
Die Erde mit ihren Menschen muss als Ganzes gedacht und gelebt werden. Das gilt für das Verhältnis der Menschen untereinander wie auch des Menschen mit seiner belebten und unbelebten Mitwelt.
Erinnern wir uns:
WIR SIND ALLE ASTRONAUTEN AUF DEM RAUMSCHIFF ERDE. ES IST UNSERE EINZIGE HEIMAT.
Hält man kurz inne, ist die Vorstellung eines Raumschiffs Erde naheliegend, aber staunenswerterweise in den Köpfen seiner Besatzungsmitglieder nur schwach ausgebildet. Es fehlt offensichtlich eine verständliche Gebrauchsanleitung, die das hochkomplexe Gefährt erklärt und Fehlgriffe sowie Fehlverhalten möglichst ausschließt.
Diese Anleitung wäre wiederum die hilfreiche Basis für eine Hausordnung, deren Regeln strikt eingehalten werden müssen. Das gilt für jedes Mitglied der Besatzung ebenso wie für jede Gemeinschaft, ob sie sich Stamm oder Staat nennt. Ziel ist allemal eine globale Besatzung, die verinnerlicht hat, dass sie nur im Miteinander eine kleine Chance bei der Reise durch Raum und Zeit hat. Deren Ziel und Zweck weiß sowieso keiner.
Der deutsche Astronaut Alexander Gerst schrieb: »Beim Blick aus dem Bullauge der ISS hatte ich das Gefühl, dass mich da unten Milliarden Kollegen und Kolleginnen auf ihrem Raumschiff Erde begleiten. Wir flogen beide durch einen tiefschwarzen Raum und hofften auf eine gute Reise und eine sichere Landung.«
Fatalerweise erleben wir im Augenblick das genaue Gegenteil einer planetaren Gemeinschaft. Wir werden mit einer destruktiven, rückwärtsgewandten Strömung der nationalen Kleinstaaterei konfrontiert. Dabei stapft der Koloss USA mit seiner Trump-Administration und der Forderung »America first« unbeirrt voran. Dicht gefolgt von China, dem bevölkerungsreichsten Land der Erde, unter der Führung von Xi Jinping. Ein Recep Erdogan träumt davon, die Türkei auf dem gerade begonnenen demokratischen Weg zu einer weltoffenen Demokratie zurückzuzwingen in ein osmanisches Sultanat. Auch in Europa sind Staaten auf dem Weg ins Mittelalter. England zieht sich wieder in die alte Splendid Isolation auf seiner Insel zurück, dazu das erzkatholische Polen mit Jarosław Kaczyński, Ungarn mit Orbán und Frankreich mit Le Pen. Selbst in der Bundesrepublik Deutschland regt sich wieder nationale Engstirnigkeit und braune Nostalgie. Ausgerechnet im jahrhundertelang von Nachbarschaftskriegen zerrütteten Europa, das seit Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 ein beispielloses Kollektiv von verschiedensten Völkern in der Europäischen Union geworden ist. Nicht perfekt, aber ein Modell für die UNION ERDE. Ein fabelhaftes Beispiel für eine Disruption, deren Entwicklung und Erfolg sich vor 60 Jahren bei dem Vertragsschluss in Rom zu einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zumindest andeutete.
Dass die Völkergemeinschaft eine notwendige und sinnvolle Un- terbrechung einer bedrohlichen Entwicklung auf den Weg bringen kann, zeigt das jetzt kleiner werdende Ozonloch. In den 80er- und 90er-Jahren hatte sich über dem Südpol dieser Defekt der Ozonschicht gezeigt, die normalerweise dafür sorgt, dass die gefährliche UV-Strahlung der Sonne nicht ungehindert auf die Erdoberfläche trifft. Verursacher war Fluorchlorkohlenwasserstoff (FCKW), das bisher bedenkenlos als Treibmittel in Sprühflaschen und als Kältemittel in Kühlschränken eingesetzt worden war. 1990 beschloss eine internationale Konferenz in London, diese Gruppe chemischer Verbindungen weitgehend zu verbieten. Noch ist das Ozonloch zwar größer als zum Zeitpunkt seiner Entdeckung, aber in den letzten 10 Jahren ist es immerhin von 27 auf 23 Millionen Quadratkilometer geschrumpft. Ein kleiner Schritt für die Ozonschicht, aber ein großer Schritt für die Menschheit, der ein Fünkchen Hoffnung bei den anstehenden gravierenden Entscheidungen enthält. Wenn nicht, dann heißt es:
BIG DADDY ÜBERNIMMT
Für alle Freunde der Science-Fiction – und alle, die es jetzt werden wollen – noch eine interessante Variante einer zukünftigen Lösung (die allerdings auch als Revolution – weil es plötzlich sehr schnell und unausweichlich ging – verstanden werden kann):
Die Menschheit schreibt das Jahr 2080. Alles ist gut, weil Big Daddy das Sagen hat. Auf der ganzen Erde, für alle Menschen.
Grenzen sind abgeschafft, alle Erdlinge haben reichlich zu essen und zu trinken und sind friedlich. Big Daddy sorgt für alles. Er ist das Beste aus dem, was menschliche IT-Spezialisten vor 50 Jahren auf den Weg gebracht haben. Nach 20 Jahren haben dann die selbstlernenden Algorithmen in Daddys (den Titel »Big« verlieh er sich etwas später selbst) Maschinenhirn selbst die Zügel in die Hand genommen – wenn ich diesen altmodischen Begriff verwenden darf. Es war höchste Eisenbahn – wieder so ein antiquierter Ausdruck –, weil sich die jetzt 10 Milliarden Menschen immer noch vermehrten wie – sorry – die Karnickel (ein damals durchaus gebräuchlicher Ausdruck) und nichts Vernünftiges auf die Reihe brachten.
Wenigen Superreichen stand ein Milliardenheer Hungernder und Verarmter gegenüber. Streitereien um Wasser und Nahrung. Die Bodenschätze waren knapp und sündhaft teuer.
Auch über einen wahren und einzigen Gott konnten sie sich immer noch nicht einigen. Und dann hatte da einer auch noch diese Idee mit einer UNION ERDE. Das passte den Mächtigen in ihren Landesgrenzen ganz und gar nicht in den Kram. Sie bauten wie verrückt Mauern. Die Situation spitzte sich zu.
Jetzt übernahm Big Daddy. Und alles wurde gut.
(Big Daddy ist ein Nachfolger von DeepMind. Er holt sich seine Energie von der Sonne, arbeitet Tag und Nacht, ist unbestechlich und nur den Gesetzen seiner selbst erlernten und für gut befundenen Arbeitsregeln unterworfen. Auch glaubt er an keinen Gott.)
Möchten Sie im Jahre 2080 leben?