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„Über den Umgang mit Menschen“

Bevor wir uns den Regeln des Anstands widmen, sollten wir uns fragen, warum wir eigentlich anständig miteinander umgehen sollen. Ist es nicht egal, wie wir etwas sagen oder wie wir etwas tun, wenn der Unterschied nur in der Form, jedoch nicht im Sinn besteht? Warum sollten wir beispielsweise eine Anweisung mit „bitte“ ergänzen, wenn sich damit an deren Inhalt nichts ändert? Habe ich als Individuum nicht das Recht, so zu sein, wie ich es für richtig erachte, wenn ich mich daran halte, meinen Mitmenschen körperlich keinen Schaden zuzufügen und sie nicht zu beleidigen?

Die Reihe solcher Fragestellungen könnte schier unendlich erweitert werden, aber alle Antworten, die darauf gegeben werden können, zielen in eine Richtung: Die individuelle Freiheit des Menschen hat dort seine Grenzen, wo er die individuelle Freiheit eines anderen Menschen beeinträchtigt! Diese Aussage kann man durchaus rein körperlich betrachten, denn ein einsamer Wald- oder Steppenbewohner, dessen nächster Nachbar einen Tagesmarsch entfernt wohnt, kann diese grundsätzliche Regel viel weiter auslegen als der Großstadtbewohner, der die Präsenz seiner nächsten Nachbarn oft auch bei geschlossenen Türen und Fenstern nicht überhören kann. Der einsam wohnende Mensch, der nicht in Kontakt mit anderen Menschen tritt, braucht sich tatsächlich an keine Regeln des Anstands zu halten, weil er niemanden mit seinem Verhalten stören kann. Dagegen ist die Nähe des Bewohners einer Stadt zu seinen Mitmenschen überall „greifbar“, auch wenn er selbst allein lebt: Sie sind fast immer zu hören, sie sind im öffentlichen Raum in großer Anzahl zu sehen, sie sind in der Enge, die nicht wenige Situationen mit sich bringt, sogar zu fühlen und zu riechen.

Müssen viele Menschen in den verschiedensten Situationen in räumlicher Enge zusammenleben, kommt es zwangsläufig zu Problemen, weil die individuelle Freiheit des einzelnen Menschen sich mit der des nächsten überschneidet. Die Freiheit ist also keineswegs grenzenlos, sondern sie ist häufig stark eingeschränkt allein durch die Präsenz anderer Menschen. Soll diese Tatsache nicht zu Aggressionen untereinander führen, sind Rücksichtnahme und Regeln notwendig.

Ohne solche Regeln wäre ein geordnetes Zusammenleben nicht möglich, denn alle Menschen würden ihre individuelle Freiheit zumindest verteidigen wollen, andere würden Gewalt anwenden, um ihre Grenzen möglichst weit ziehen zu können. „Weg da!“ wäre für eine solche ungeregelte Gesellschaft ein passendes Motto. Aggressive Menschen würden schnell die Oberhand gewinnen, andere brutal ausgegrenzt werden.

Regeln des Zusammenlebens sind notwendig

Ein Teil dieser Regeln wird durch den Staat in Form von Gesetzen formuliert und durchgesetzt. Allerdings ist auch für die Existenz eines Staates ein einigermaßen reibungsloses Zusammenleben der Individuen notwendig. Schon Kaiser und Könige in vergangenen Jahrtausenden mussten erfahren, dass ein unfreundliches Klima im Lande den ganzen Staat von innen heraus in Turbulenzen bringen kann. Und viele der Herrscher kannten aus Furcht davor kein anderes Mittel, als das Volk mit den ihnen gegebenen Machtmitteln so unter Druck zu setzen, dass das unfreundliche Klima einem ungefährlichen Klima der Angst Platz machen musste. Schon der Staatsphilosoph Thomas Hobbes, der im 17. Jahrhundert lebte, vermerkte in seiner Abhandlung „Der Staat als Instrument eines aufgeklärten Egoismus“: „Ferner empfinden die Menschen am Zusammenleben kein Vergnügen, sondern im Gegenteil großen Verdruss, wenn es keine Macht gibt, die dazu in der Lage ist, sie alle einzuschüchtern … So liegen also in der menschlichen Natur drei hauptsächliche Konfliktursachen: Erstens Konkurrenz, zweitens Misstrauen, drittens Ruhmsucht.“ Dem ist auch aus heutiger Sicht kaum etwas hinzuzufügen. Versuchen wir aber, den von Hobbes dem Menschen zugeschriebenen Eigenschaften neben unseren heutigen Gesetzen auch noch den freundlichen und höflichen Umgang miteinander entgegenzusetzen, dann könnte der „große Verdruss“ doch deutlich zurückgedrängt werden.

Dieser freundliche und höfliche Umgang ist Teil der anderen, nicht durch den Staat verfügten Regeln. Sie sind im Lauf der Jahrhunderte gewachsen, haben sich in der Gesellschaft etabliert und werden während der Erziehung, die nicht nur auf das Kindesalter beschränkt sein muss, mündlich überliefert. Es ist also durchaus nicht abwegig, gute Umgangsformen als kulturelles Gut einer zivilisierten Gesellschaft zu betrachten.

Hier kommt nun Adolph Freiherr von Knigge ins Spiel. Offensichtlich waren ihm gewöhnliche Erziehung und mündliche Überlieferung nicht sicher, aber vor allem auch nicht weitgehend genug. Er wurde mit dem Werk „Über den Umgang mit Menschen“ bekannt, das ganz im Sinne der Zeit der Aufklärung stand und gegen Ende des 18. Jahrhunderts erschien. Man wird diesem Werk und dem Autor in keiner Weise gerecht, wenn man es auf Benimmregeln reduziert, denn es geht in seinem Werk ganz speziell um Regeln des Umgangs untereinander. Knigge hält der Gesellschaft einen Spiegel vor, er spricht von Pflichten und Moral („Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.“), aber auch vom Umgang mit sich selbst („Respektiere Dich selbst, wenn Du willst, dass andere Dich respektieren sollen.") oder von der Gesellschaft ganz allgemein, wobei viele seiner Aussagen sehr gut auch noch auf unsere moderne Welt passen („In großen Städten gehört es leider zum guten Tone, nicht einmal zu wissen, wer mit uns in demselben Hause wohne.“). Erstaunlich, dass man in diesem Buch nicht ein Wort beispielsweise über das Benehmen am Tisch oder über die Kleiderordnung zu bestimmten Anlässen finden kann. Des Rätsels Lösung ist, dass schon bald nach Knigges Tod sein Werk vom Verlag mit diesen Themen fortgeschrieben und damit die Grundlage gelegt wurde, dass heute mit „Knigge“ vor allem das formale Benehmen beschrieben oder – noch weiter eingeschränkt – eine Fortschreibung höfischer Regeln vorgenommen wird. Für Knigge waren das aber eher Kleinigkeiten, die er – von seinem großen Ansatz aus gesehen – als Selbstverständlichkeiten betrachtete. Denn Benimmregeln sind nur ein Teil des Umgangs mit Menschen, vor allem dann, wenn sie rein formal aufgefasst werden. Anstand in allen Situationen des Lebens gegenüber anderen Menschen ist der große Rahmen, in dem das Leben in der Masse erträglich werden kann.

Dementsprechend möchten wir auch für dieses Buch betonen, dass uns nicht nur die Form wichtig ist, auch wenn sie im Vordergrund steht. Niemandem ist damit gedient, dass zwar geschliffene Umgangsformen das Zusammenleben der Menschen bestimmen, aber kaum mehr der eigentliche Mensch dahinter erkannt werden kann. Die Folge wäre eine Anonymisierung der Gesellschaft, in der sich die Menschen stark ähneln, weil der ausschließlich formale Umgang jede persönliche Kante einschleift und Charaktereigenheiten nicht in den Vordergrund treten können. Eine solch „charakterentleerte“ Gesellschaft ist nicht viel besser als eine, in der das schlechte Benehmen regiert.

In unserer heutigen Gesellschaft aber besteht die in den vergangenen Jahrhunderten nicht vorhandene Chance, die beiden Extreme abzulehnen und persönlichen Charakter zu zeigen und trotzdem gleichzeitig rücksichtsvoll zu sein sowie gute Umgangsformen vorweisen zu können. Denn sinnentleerte Formen sollten heute keine Chance mehr haben. Deshalb lohnt es sich, etwas für sympathisches Auftreten und gutes Benehmen zu tun, ohne zum Smalltalk- und Benimm-Roboter zu werden. Anstand und gutes Benehmen hat auch etwas mit Stil, Bildung und Intelligenz zu tun. Diese faszinierende Mischung lernt man aber nicht in Schule und Studium, sondern man kann sie „erfahren“, genährt aus Interesse an vielen Dingen, an immerwährender Lernbereitschaft und dem Mut, sich in (der) Gesellschaft zu zeigen.

So ist das Wissen, dass Sie Weißwurst nicht wie Wiener Würstchen essen sollten oder dass für bestimmte Anlässe eine besondere Kleiderordnung vorgesehen ist, im Kontext einer höheren moralischen Ordnung zu sehen. Denn viele der Benimmregeln allein haben nichts mit dem hehren Ziel eines friedlichen Miteinanders gemein, sondern sie sind einfach nur praktisch und machen Sie im Umgang mit anderen Menschen sicherer. So sollten Sie auch dieses Buch betrachten: als eine Sammlung von praktischen Regeln und Beschreibungen von Umgangsformen, die das positive Klima in der Gesellschaft fördern und die zudem heutzutage noch praktikabel erscheinen. Vieles wird Ihnen bekannt vorkommen, manches ist vielleicht schon völlig in Vergessenheit geraten und anderes wird völlig neu für Sie sein. Es wird sich jedenfalls für Sie lohnen, wenn Sie sich mit den Benimmregeln vertraut machen, denn sie werden Ihnen in vielen Bereichen des Lebens Sicherheit geben! Die Grundlagen dazu können Sie aus diesem Buch erfahren – das Engagement, sie im Zusammenhang mit gesellschaftlich anständigem Verhalten umzusetzen, müssen Sie jedoch selbst aufbringen. Freiherr von Knigge würde sich darüber freuen.

Der neue Taschen-Knigge

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