Читать книгу Heideleichen - Herbert Weyand - Страница 10
Sechs
ОглавлениеClaudia bewegte sich durch die aseptischen Räume der Rechtsmedizin in Köln. Sie kannte sich aus. Anfangs war es schwierig, in die Sezierräume vorzudringen.
»Da kommt ja unsere Lieblingshauptkommissarin aus Aachen«, empfing sie ein grün gekleideter, mit Mund- und Kopfschutz versehener Mensch und sah hoch. Er stand vor einem metallenen Tisch und hantierte an dem Skelett, das darauf lag. »Muss doch toll sein aus Eurem Kaiserdorf in eine Weltstadt zu kommen«, gluckste er vor unterdrücktem Lachen, wohl wissend, wie sehr die Anlaufstelle im Universitätsklinikum Aachen vermisst wurde. »Hier. Mühsam zusammengesetzt. Aber fast vollständig. Ein einziger Schuss in den Kopf.« Er zeigte auf die Knochen.
»Hallo Thilo«, begrüßte sie ihn. »Und die anderen?«
»Da vorn in den Boxen«, er nickte zu zwei Metallkisten. »Wir haben sie sortiert.« Der Pathologe war nicht groß. Unter eins siebzig und pummelig. Jedoch kompetent und agil.
»Und?«
»Hab ich doch gerade gesagt, ein Schuss in den Kopf.«
»Bei allen Dreien also«, stellte sie fest.
»Genau. Nach Ausprägung der Knochen, männlichen Geschlechts.«
»Und die vierte Leiche?«
»Ganz klar männlich. Mitte dreißig. Plus, Minus. Du kennst das ja.«
»Todesursache?«
»Wahrscheinlich Weichteilverletzung. An den Knochen haben wir nichts gefunden. Ein Fingerbruch am rechten Ringfinger, älteren Datums. Gut verheilt. Die Kleidung untersuchen die Kollegen der anderen Fakultät. Hast du Lust auf Italienisch heute Abend?«
»Du kannst es nicht lassen. Lade deine Frau ein.«
»Die muss auf die Kinder aufpassen. Das weißt du doch. Noch etwas, keine Nagespuren von Tieren an den Knochen. Eine der drei Leichen hat eine Knochenverletzung am rechten Bein. Genaueres kann ich erst später sagen.«
Lachend winkte sie und verschwand in Richtung der Spurensicherung.
Hier gab es wenig Neues.
Anhand der Kleidungsreste der späteren Leiche vermutete man, dass der Tod in der warmen Jahreszeit eingetreten war. Des Weiteren habe ein rechteckiger Gegenstand unter einem der Skelette gelegen. Man vermute, eine Tasche. Das ließ sich aus den vorhandenen Spuren entnehmen. Die Toten mussten in einen Graben gefallen sein. So, wie die Glieder lagen, wurden sie nach den Schüssen nicht mehr bewegt. Über die Toten wurde Laub oder Dreck geschart, so wie sie gefallen waren. Es könne aber auch die Witterung gewesen sein, die Laub und Sand über sie geweht hatten. Dieses Gebiet sei bis in die siebziger Jahre von Wassergräben durchzogen gewesen. Ja, wenn es ein richtiges Moorloch gewesen wäre, hätte man Glück haben können und die Toten wären mumifiziert gewesen. Die spätere Leiche habe einen Ring getragen, in dem das Datum 20. 3. 1997 eingraviert sei. Die Knochen seien an diesem Skelett angenagt. Die DNA-Analyse laufe. Röntgenbilder der Zähne lägen vor, was sie damit mache, wäre ihre Sache. Der Bericht ginge heute noch raus.
Enttäuscht fuhr sie über die Autobahn zurück. Am Autobahnkreuz Kerpen überlegte sie kurz, ob sie nach Aachen weiterfahren sollte. Doch sie entschied sich für die A61, um später auf die A46 zu fahren.
Es war ja nicht viel, was sie aufweisen konnte. Vielleicht gelang es ihnen, über den Ring brauchbare Spuren zu bekommen. Sie hatte den Toten mit dem Handy fotografiert und per MMS an Maria geschickt. Claudia fuhr auf die Abfahrt an Janses Mattes zu und bog links ab, Richtung Geilenkirchen. Kurze Zeit später erreichte sie den Kreisverkehr, der zur NATO Air Base und nach Grotenrath führte.
Claudia fuhr auf das Dorf zu und nahm das Bild auf, wie es dort in der Senke lag und sich von den Feldern und dem Waldsaum der Heide abhob. Die Sonne stand schräg links und offenbarte Farbenspiele in unzähligen Grüntönen. An und für sich sollte ihr dieses Naturschauspiel aus der Kindheit bekannt sein. Aber da war nichts. Wahrscheinlich hatte sie als Kind andere Gedanken.
Ob sie den Typen von früher kannte? Wahrscheinlich nicht. Als sie jünger war, waren schon zwei Jahre Altersunterschied eine andere Welt.
Sie war sechs oder sieben, als sie mit ihren Eltern das Dorf verließ. Zumindest war Claudia schon in der Schule. Sie erinnerte sich noch deutlich an die Aufregung, als sie das erste Mal allein mit dem Schulbus fuhr. Ansonsten war da nichts mehr aus dieser Zeit in ihrem Gedächtnis. Damals fiel etwas vor, von dem sie bis heute keine Ahnung hatte. Über ihrer Kindheit lag ein Geheimnis, das sie nie hinterfragte. Es gab Zeiten, da unterbrachen die Eltern das Gespräch, wenn sie hinzukam, und warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Die Stimmung wurde in der Regel melancholisch und das Gefühl eines großen Verlustes stellte sich ein.
Ungefähr fünf Minuten später hielt sie vor Kurts Haus. Sie war noch nicht richtig ausgestiegen, da ging die Haustüre auf.
»Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht«, empfing er sie.
»Du willst mich wohl mästen? Hast du ein verkapptes Restaurant? Doch ... ich habe Hunger. Was gibt es?«
»Lass dich überraschen. Komm.«
Als sie durch den ging sog sie schnuppernd die Luft ein. Doch es roch nicht.
Er schob einen Stuhl gegen ihre Kniekehlen. »Noch ungefähr zehn Minuten.« Kurt holte vom Schreibtisch einen Packen Papier und legte ihn auf den Tisch. »Das sind die Originale.«
Sie fächerte die Bögen auseinander. Es war schon etwas anderes, als die Ausdrucke des Computers. Jedes einzelne Blatt hielt irgendwann ein Mensch in den Händen, der möglicherweise umgebracht wurde.
»Ich muss mich noch einmal entschuldigen«, begann er. Doch sie unterbrach ihn.
»Jetzt hör auf. Es ist erledigt. Ich hätte die Tasche wahrscheinlich auch mitgenommen. Allein, um zu sehen, was sich darin befand. Es ist nichts geschehen, was nicht zu heilen ist.« In diesem Moment schlug der Türgong an. Kurt verschwand, um einige Minuten später, bepackt wieder zu erscheinen.
»Ich rechnete fest mit dir und habe vor zwei Stunden bestellt. Als dein Auto vorfuhr, klingelte ich kurz beim Griechen an und gab die Bestellung frei.« Stolz packte er eine Unmenge Schälchen auf den Tisch. »Gyros, Pommes, Peperoni, Oliven, Schafskäse und …«, zählte er auf. Er reichte ihr einen Teller und Besteck. »Wie weit seid ihr mit den Leichen?«
»Immer noch am Anfang. Ich komme gerade aus Köln. Dort ist die Rechtsmedizin. Sie bestätigten, was wir auch annehmen.« Sie hörte verwundert, wie sie einem wildfremden Menschen, gegen ihre Art, von der Arbeit berichtete. Die beschissenen Hormone spielten verrückt.
»Dann habe ich vielleicht etwas für dich«, er stopfte eine Gabel mit Fleisch in den Mund und kaute es an. »Gestern Abend sprach ich mit meinen Eltern. Sie wohnen im Nachbardorf. Meine Mutter kennt als ehemalige Lehrerin Gott und Pott. So auch die Klamms. Es gibt zwei Linien. Eine in Marienberg und die andere in Scherpenseel. Die aus Scherpenseel sind kurz nach dem Krieg zu viel Geld gekommen und bauten ein kleines Imperium auf. Das alte Bauernhaus ist heute eine feudale Villa. Die stinken vor Geld, sagte sie. Es deckt sich mit dem, was Josef Klamm oder wie er sonst heißt, aufgeschrieben hat?«
»Das hört sich gut an. Aber sag mal: Gibt es bei dir etwas zu trinken?«
Er sprang auf und holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank.
»Das wäre vielleicht ein Ansatz«, setzte sie fort. »Da möchte ich jedoch vorsichtig ran. Mein Kollege Heinz ist aus Windhausen. Er kennt Land und Leute. Heinz kann so etwas super gut.«
»Der Professor? Von ihm habe ich schon gehört.«
»Wieso Professor?« Sie beugte sich interessiert vor. Wenn sie recht überlegte, besaß Heinz tatsächlich eine gewisse intellektuelle Ausstrahlung. Gepaart mit dem Alter konnte er als Gelehrter durchgehen.
»Das ist so ein kleiner Besserwisser, habe ich mir sagen lassen.«
»Na, lassen wir das einmal.« Sie grinste schadenfroh. »Weißt du sonst noch etwas?«
»Das Oberhaupt des Clans ist Gerd Klamm. Fast neunzig Jahre. Er hält die Fäden in der Hand und, pass auf, jetzt kommt es – ist einäugig. Zumindest trägt er eine Augenklappe.«
»Dann könnte er also jener Cousin sein, der ihm so zugesetzt hat.«
»Ja. Genau meine Einschätzung. Meine Mutter erinnerte sich daran, dass mein Haus, damals Josef Klamm gehörte. Du weißt ja, in den kleinen Dörfern bleibt nichts geheim. Er soll diese Hütte über einen Anwalt in Aachen gekauft haben. Klein. Der ist übrigens ein Freund meiner Familie. Gestern Abend fiel es ihr wieder ein. Übrigens ...«, er stockte kurz, um ihre Aufmerksamkeit zu erhöhen, »einer Familie Plum gehörte das Haus, bevor Klamm es kaufte und danach wieder. Aber Plum gibt es hier wie Sand am Meer. Es muss nichts mit deiner Familie zu tun haben.«
»Ist es möglich, deine Mutter zu sprechen?«, fragte sie. Sie ließ die letzte Bemerkung zu den Familienverhältnissen unbeachtet, um vielleicht später darauf zurückzukommen.
»Untersteh dich«, sagte er grinsend. »Du bist schneller verheiratet, als du Guten Tag sagst.«
»Das ist mir zu gefährlich. Also musst du sie ausfragen. Dann wirst du mein Vermittler sein«, schmunzelte sie.
»Jetzt bin ich natürlich noch aufgeregter als zuvor. Ich habe das Haus gekauft, in dem Josef Klamm lebte. Den ganzen Tag habe ich mir vorgestellt, die Wände abzuklopfen, um ein geheimes Versteck zu finden. Dabei habe ich alles von Grund auf saniert. Ist das nicht bekloppt?«
»Nee. Finde ich ganz nett.«
Sie räumten die Verpackungen des Essens weg und setzten sich gemütlich an den Tisch. Die zweite Flasche Bier wurde in Angriff genommen.
»Mit dem Erbe? Das geht mir auch nicht aus dem Kopf. Da wird man wohl nichts machen können?« Er sah sie fragend an. »Es wäre wirklich schade, wenn der Nachlass von Josef Klamm an die verfeindete Verwandtschaft geht.«
»Das ist nicht mein Gebiet«, sagte sie kopfschüttelnd. »Da sprichst du am besten mit einem Anwalt.«
»Dann rede ich mit meinem Vater. Aber Erbrecht … ist nicht so sein Fall. Ich gehe davon aus, dass richtig ist, was Josef Klamm schreibt. Ja vor allem, dass dieser Cousin durchaus eine Rolle bei den drei Toten spielt. Er sollte schon eine Strafe bekommen. Was ich viel interessanter finde, ist, dass ein zweites Kind existiert. Vielleicht finden wir den Sohn.«
»Ich habe auch darüber nachgedacht. Nicht über das Erbe. Es könnte ein Zusammenhang mit den Personen bestehen, die in dem Bericht genannt werden. Muss aber nicht«, sie schüttelte den Kopf. »Wir werden es schwer haben, die weit zurückliegenden Todesfälle aufzuklären. Und der Vierte? Wir haben keinerlei Anhaltspunkte zur Identität.« Sie musste machen, dass sie wegkam. Welcher Teufel ritt sie, mit diesem Mann, den Fall zu besprechen. Wer wusste, inwieweit er darin verwickelt war?
»Ich kenne solche Situationen nur aus dem Fernsehen. Tatort! Da kommt mir vieles sehr konstruiert vor. Es scheint nicht so einfach zu sein.« Kurt genoss die Diskussion, vor allem, weil die Neugierde, die ihn umtrieb, Nahrung bekam.
»Einfach bestimmt nicht. Es ist harte Arbeit, die wir leisten. Lichtblicke gibt es kaum. So, jetzt muss ich fahren. Eine weitere Flasche Bier darf ich nicht trinken, sonst muss ich mein Auto stehen lassen.« Sie traf Vorbereitungen, aufzubrechen.
»Willst du hier schlafen? Hier ist Platz genug.« Er grinste unsicher.
»Lass mal lieber«, wehrte sie lachend ab. »Das ist mir zu gefährlich.«
»Mir nicht.«
»Von dir habe ich auch nicht gesprochen.« Claudia nahm das Päckchen und die Tasche. Sie ging zur Tür.
»Einen Moment.« Kurt wusste nicht, was über ihn kam. Er umfasste und küsste sie.
Sie wurde schwerelos in seinen Armen, riss sich jedoch heraus.
»Genug jetzt. Sonst komme ich nicht mehr weg.« Resolut öffnete Claudia die Tür und stand einer großen schönen Frau gegenüber.
»Oh, da habe ich mich aber erschreckt«, sagte die Fremde mit leichtem Akzent. »Ich bin Griet.« Sie reichte ihr die Hand. »Sie sehen wirklich so gut aus, wie er sagt.«
»Claudia«, sagte sie automatisch und musterte die Frau. Graue Augen beobachteten sie intensiv. Wer war die denn? Eine Freundin?
»Darf ich dir Griet vorstellen. Unsere Dorfanthropologin. Das ist nichts Fieses. Sie schneidet mir jeden dritten Mittwoch die Fußnägel«. Kurt machte eine Handbewegung zur Besucherin.
»Du bist ein Blödsack«, konterte Griet gut gelaunt. »Sie sind von der Kripo. Er hat mir davon erzählt.«
»Ja«, sagte sie knapp und seufzte innerlich entsagend. Schon wieder einer, der versuchte, in fremden Revieren zu jagen. Sie machte sich auf den Weg zum Auto.
»Warten Sie einen Moment.« Griet hielt sie auf. »Ah. Da kommt er schon«, lachte sie strahlend dem Mann entgegen. »Paul«, stellte sie vor.
Blaue Augen musterten sie ebenso intensiv, wie die Frau zuvor. In den Augenwinkeln bildeten sich kleine Fältchen. Er schmunzelte. Ihm schien zu gefallen, was er sah.
»Dann stimmt es also«, sagte er sowohl zu ihr wie auch zu Griet und Kurt. »Ich wollte es nicht glauben. Du bist also die Kripotante aus Aachen?«
»Erklärt mir bitte jemand, was hier vor sich geht? Ihr scheint euch auf meine Kosten zu amüsieren und ich weiß noch nicht einmal, wer ihr seid.« Sie versuchte, ihre Verärgerung nicht zu zeigen.
»Tut mir leid«, Kurt trat hinzu. »Meine Nachbarn und Freunde. Die lassen keine Gelegenheit aus, mir eins auszuwischen. Jetzt haben sie dein Auto gesehen und neugierig, wie sie sind, stehen sie gleich auf der Matte.«
»Okay. Wenn Ihr Euren Spaß habt. Ich muss jedoch weiter. Vielleicht sehen wir uns einmal.« Sie winkte und verschwand.
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