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Sieben

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Heinz Bauer ermittelte in Scherpenseel. Er kam gerne in diese Gegend, wohnte er doch nur ein Dorf weiter. Nicht, dass er Aachen nicht mochte. So als Tourist mit den Enkeln um den Dom herumzuschlendern oder am Elisenbrunnen einen Kaffee oder Kakao zu trinken, fand er toll. In der Arbeit tat er sich schwer. Die Aachener waren ein eigener Menschenschlag. Sogar mit einer unverkennbaren Sprache, die so schwer zu verstehen war. Erst letztens beschimpfte ihn jemand, wie er glaubte. Während einer Ermittlung zeigte er seinen Ausweis und stellte sich vor. ›Au Huur‹, war die Antwort. Er wollte schon ausflippen, da legte ihm Maria die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. Später erfuhr er dann, dass damit lediglich ironisch Hochachtung zum Ausdruck gebracht wurde. Oder ›hömmelje Jeld‹. Viel Geld. Einfach furchtbar. Gott sei Dank wurden für ihn die Ur-Aachener immer weniger. Das durfte er aber Maria nicht erzählen. Die würde ihm den Kopf abreißen.

Zurzeit betrachtete er ein altes Haus. In einem schmalen und hoch gebauten, fast schon holländischen Stil zwängte es sich zwischen zwei etwas moderneren Häusern aus den fünfziger Jahren. Die alte verwitterte Eichentüre konnte eine Aufarbeitung vertragen. Blinde Glasscheiben blickten rechts und links auf die Besucher. Keine Doppelverglasung. An den Holzrahmen blätterte die weiße Farbe. Fast sah es unbewohnt aus, wären auf den Fensterbänken nicht Pflanzenkästen mit jungen Geranien, die im Sommer sicherlich üppig blühten.

Heinz wusste, es gab keine Klingel. Kräftig klopfte er mit der Faust an die Türe. Es dauerte eine Zeit, bis eine gebeugte alte Frau in einer ehemals weißen Kittelschürze öffnete. Das graue Haar war zu einem Knoten gebunden. Die wässrigen alten Augen sahen ihn an.

»Tag Kathrin. Ist der Nöll da?«, schrie er, weil er wusste, dass sie schwerhörig war.

»Ach Heinzchen. Dass du dich noch einmal sehen lässt. Du bist aber groß geworden. Ich kenne dich noch, da warst du so groß«, sie hielt ihre Hand in Kniehöhe über den Boden. »Weshalb schreist du so?« Sie grinste spitzbübisch und zeigte auf das Hörgerät in ihrem Ohr. »Komm rein. Der Opa ist hinten.« Sie schlurfte den Flur entlang, bis zu einem Zimmer, das auf den Hof hinausging.

Auch das Hausinnere hätte einer Renovierung bedurft. Jedoch war es sauber.

Heinz sah aus dem Fenster auf Nöll. Er kniete vor einem Blumentopf, in dem ein Oleander die rosa Blüten öffnete, und befreite ihn von wilden Trieben. Kopfschüttelnd ließ er das Bild einige Zeit wirken. Fast hundert Jahre war der Mann jetzt und gab keine Ruhe. An Tagen, an denen er gut drauf war, setzte er sich noch aufs E-Bike und fuhr bis zur Heide hinunter.

»Tag Nöll«, sagte er und ging in den Hof. Überall standen Blumentöpfe mit üppig blühenden Pflanzen. Trotz der frühen Jahreszeit, gerade Anfang Mai, wucherten die Pflanzen wie im Hochsommer. Der alte Mann zog sie im Gewächshaus vor. Den lieben langen Tag widmete er sich der Pflege.

Schwerfällig stand er auf. Heinz beobachtete ihn. Hilfe lehnte er kategorisch ab.

»Heinz. Du warst schon lange nicht mehr hier. Habe ich meinen Geburtstag vergessen?«, er blinzelte ihm zu und deutete auf die Gartenstühle, die um einen Tisch standen. Die tiefe sonore Stimme passte nicht zu der alten Gestalt.

»Ich brauche deine Hilfe Nöll.« Er fiel er gleich mit der Türe ins Haus. Der Mann mochte kein drum herum Gerede.

»Aber erst trinken wir einen Aufgesetzten. Kathrin«, rief er zum Haus, »es ist ein Segen, dass sie endlich das Hörgerät hat«, grinste er.

Da erschien sie auch schon mit einer Flasche und drei ›Pinnchen‹.

»Wimmele«, sagte sie. »Sehr lecker. Mindestens fünfzehn Jahre alt. Ich weiß es nicht mehr so genau.« Sie zog einen Stuhl heran und goss ein.

Heinz wusste, dass er keine Chance hatte, sein Anliegen schnell vorzubringen. Obwohl Nöll immer gern auf den Punkt kam, war ihm die Zeit für die angenehmen Seiten des Lebens wichtig. In diesem Haushalt stand die Zeit still.

Nöll und seine Tochter Kathrin lebten seit Menschengedenken hier. Kathrin war irgendwann mal verheiratet, aber schon seit fast vierzig Jahren Witwe und bezog eine gute Knappschaftsrente. Sie hatte keine Kinder. Ihre Schwester kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Die Nichte lebte in Teveren und war mit einem Rechtsanwalt verheiratet. Im früheren Leben war Nöll der Dorfpolizist. Heinz kannte ihn aus den ersten Jahren nach der Berufsausbildung. Damals trug er noch einen Tschako zur Uniform als Kopfbedeckung.

»Na Jung. Wo brennt’s denn?« Nöll lehnte sich zurück und stopfte eine Pfeife. Eine Liebhaberei, die er mit Heinz gemeinsam hatte.

»Ich weiß nicht, ob du schon von den Toten in der Heide gehört hast«, begann er.

»Ich hab. Da gab es welche. Mitte oder Ende der Fünfziger war etwas. Ich kann mich schwach erinnern.«

»Du kannst dich an etwas erinnern?«, fragte Heinz verblüfft.

»Na ja, daran weniger. Aber Mitte siebzig verschwand Josef Klamm. Es gab ziemlichen Wirbel. Das musst du doch auch noch wissen. Der Josef Klamm. Er verschwand spurlos. In den Siebzigern war das die größte Sache in der Gegend.« Nöll nippelte genüsslich am ›Wimmele‹.

»Ich erinnere mich vage. Zu der Zeit war ich mit Verkehrsdelikten befasst. Kannst du mir Genaueres darüber berichten?« Tatsächlich kam die Erinnerung zurück. Es mochte an dem alten Mann liegen.

»Ich muss da weiter ausholen.« Nöll überlegte. »Es gab einen Verdacht, besser gesagt eine Ahnung meinerseits. Aber du weißt ja, Ahnungen zählen nicht. Lange nach dem Krieg kamen noch Kriegsgefangene aus Russland zurück. Sei nicht so ungeduldig«, unterband er den Ansatz einer Unterbrechung von Heinz, »Ihr jungen Leute habt keine Zeit. Der Fall, den ihr jetzt bearbeitet, hat mit der Vergangenheit zu tun. Damals kam der Josef Klamm lange vor den anderen Gefangenen zurück. Ihm gelang die Flucht aus Sibirien. Muss ein harter Knochen gewesen sein. Es entstand ein böser Streit. Die Verwandtschaft hatte seinen Hof besetzt und wollte ihn nicht mehr hergeben. Eine schlimme Angelegenheit, die damit endete, dass ein Freund von Josef Klamm verschwand. Damals krähte kein Hahn danach und ich als kleiner Dorfpolizist hatte keine Möglichkeit etwas zu unternehmen. Ein paar Jahre wirbelte Josef in dieser Angelegenheit, ohne etwas zu erreichen. Davon erzähle ich dir später mehr. Er machte dem Gerd Klamm die Hölle heiß.«

»Die drei Toten in der Heide sind jüngeren Datums. Das kann also nicht kurz nach dem Krieg geschehen sein. Wir haben eine Aktentasche mit Papieren darin gefunden, die erzählen eine Geschichte. Darin ist von den Klamms die Rede und auch von Hans Freier, der wahrscheinlich ein Freund von Josef Kamm war. Danach fühlte sich Josef Klamm von seinem Cousin verfolgt und fürchtete um sein Leben.«

»Das wisst ihr also schon. Wie gesagt, dazu später etwas. Der Gerd ist ein rauer Geselle.« Tausende Fältchen in seinem Gesicht zeigten, wie er nachdachte. »Der wurde nach dem Krieg plötzlich steinreich und zerstritt sich sofort mit seinem Vater. Das Geld soll er dem Josef gestohlen haben. Von einem Schatz war die Rede. So ein Blödsinn. Der Josef war, trotz des jungen Alters, ein cleverer Geschäftsmann. Davon hatte die Verwandtschaft aus Marienberg nichts. Du kennst die Klamms ja und weißt, dass die steinreich sind.«

»Wir tappen im Dunkeln und wissen nicht, wo wir beginnen sollen. Da ist noch ein weiterer Toter. Nach den Resten der Kleidung, die wir bei ihm gefunden haben, wurde er durch Messerstiche getötet oder schwer verletzt. Er trug einen Ring mit einer Gravur, 20. 3. 1997.«

»März 1997? Kathrin hol mal das Buch«, sagte er zu seiner Tochter, die bisher stumm danebensaß.

»Das brauch ich nicht zu holen. Da hat der Bert Klamm geheiratet. Diese Holländerin, die es dann nicht mehr bei ihm ausgehalten hatte. Auf und davon ist sie«, sagte sie zu Heinz gewandt. »Der hatte die geschlagen …«

»Kathrin«, unterbrach Nöll seine Tochter scharf. Er ertrug es nicht, wenn sie mehr wusste als er.

»Der Herrgott wird es dir nicht danken, wenn du mich immer so behandelst«, murrte sie beleidigt.

»Stell dich nicht so an. Das könnte also Bert Klamm sein«, überlegte er. »Der war angeblich ausgewandert. Ich dachte mir schon, dass da etwas nicht stimmte. Aber wer hört schon auf solch einen alten Sack, wie ich es bin.«

»Wie es scheint, haben wir einen Sumpf aufgetan«, sinnierte Heinz. »Wen könnte ich noch fragen? Aber blöd … wenn nicht du, wer soll dann etwas wissen.«

»Den Gerd. Der soll noch gut dabei sein und einen Großteil der Geschäfte nicht aus der Hand geben. Aber da würde ich noch etwas warten, bis ihr mehr an der Hand habt.«

»Was ist der Hauptgeschäftszweig der Klamms?«

»Immobilien, Grundstücksspekulationen, Kies- und Sandabbau. Dann noch ein paar metallverarbeitende Betriebe. Sie sind aus Schlossereien hervorgegangen. Was sonst noch da ist, müsst ihr doch ermitteln können.« Er grinste schmutzig. »Soll ich mich für dich vor den PC setzen?«

Heinz Kopf lief rot an. Ihm gelang der Zugang zum PC nicht. Mittlerweile weigerte er sich fast, damit zu arbeiten. Mit Schwierigkeiten öffnete er ein E-Mail-Konto. Ein Bericht gelang gerade noch. Aber recherchieren? Nein. Das war nicht seine Welt.

Nöll dagegen mit seinen achtundneunzig Jahren war fit am Computer.

»Nein. Lass mal. Das macht Maria. Oder? Vielleicht doch. Du könntest mir aufschreiben, woran du dich erinnerst. Wenn du Zeit hast.«

»Mach ich gern. Komm in den nächsten Tagen noch mal vorbei und bring eine Pfeife mit. Dann brauch‹ ich nicht allein zu paffen. Übrigens, bevor der Bert verschwand, gab es einen riesengroßen Krach in der Familie. Die waren dran wegen Steuerhinterziehung. Irgendwelche Schiebereien mit Häusern, die nicht über die Bücher liefen.«

»Genaueres weißt du nicht?« Heinz kratzte sich erwartungsvoll am Kopf.

»Darüber nicht. In den fünfziger und sechziger Jahren sollen die groß geschmuggelt haben.«

»Aber da war doch die Grenze noch besetzt.«

»Richtig«, grinste der Alte mit makellosem Gebiss. »Erst in den Sechzigern kam Struktur in den Zoll und Grenzschutz. Aber auch danach lief es recht gut. Unten in Rimburg über die alte Kiesgrube in Marienberg und hier hinten in Richtung Heide über Heihoeve. Wahrscheinlich waren in den ersten Jahren die Zöllner beteiligt. Irgendwann gab es da ein großes Saubermachen. Hör dich mal bei der Bundespolizei um. Vielleicht haben die noch Unterlagen von damals. An der Schmuggelei war zumindest ein Freund Josefs beteiligt. Noch etwas anderes dazu. Du kennst doch die Geschichte vom Heidegeist … ja? In dem Zusammenhang ist die Rede von einem unterirdischen Stollensystem. Seit Jahren hege ich den Verdacht. Hier steckt mehr dahinter.« Er nickte mit blitzenden Augen. Ihm gefiel, dass er gebraucht wurde.

»Tu mir den Gefallen und schreib alles auf, Nöll. Doch kurz. Wenn ich das höre, kommt ein dicker Roman zusammen.«

»Einer? Bestimmt zehn. Jetzt erzähl‹ mir von deinen Enkelkindern. Wie ich höre, bist du ganz schön jeck mit denen.«

*

Maria surfte seit Stunden im Internet. Sie erledigte ihren Job am liebsten vom PC aus. Immer wieder faszinierten sie die gewaltigen Möglichkeiten, die das Netz zur Verfügung stellte.

Sie tippte am frühen Nachmittag den Namen Gerd Klamm bei Google ein. Einige Tausend Treffer. Sie grenzte die Suche über den Ortsnamen ein und minimierte die Eintragungen.

Sie arbeitete mit verschiedenen Fenstern auf dem Bildschirm. In einem dokumentierte sie die Ergebnisse, während sie auf dem anderen recherchierte. Parallel dazu lag der große Schreibtisch voll bedruckter DIN A4 Seiten. Wer einmal sagte, der PC mache Papier überflüssig, unterlag dem größten Fehlurteil der Geschichte.

Gerd Klamm, Jahrgang 1927. Schulbesuch in Frelenberg. Arbeitete bis 1945 auf dem Hof des Vaters in Marienberg. Ab 1945 bewirtschaftete er den Hof seines Onkels in Scherpenseel nach dessen Tod, stellvertretend für seinen minderjährigen Cousin Josef.

Geschäftliche Aktivitäten in den Niederlanden, die ab Mitte der fünfziger Jahre nach Deutschland, vornehmlich Aachen, verlagert wurden. Dort stieg er in das Immobiliengeschäft ein und besaß heute mehr als zweihundert Häuser, die Maria in Bilanzen fand. Dazu eine Unmenge Grundstücke. In Polizeiakten gab es Verbindungen zu seinem Cousin Josef Klamm, die nicht freundschaftlicher Art waren. In den neunziger Jahren wurde Gerd in einen Kleinkrieg mit Türken und Griechen verwickelt, die ihn unabhängig voneinander aus dem Geschäft drängen wollten. Nach zwei Toten, mit denen er nicht in Verbindung gebracht werden konnte, versandete die Geschichte und sie fand nichts mehr darüber. Sie machte einen Vermerk, damit sie nicht vergaß, später in den Akten nachzusehen. Er kämpfte um einen Kiesabbaubetrieb und darum, ein Feld zwischen Scherpenseel und Marienberg, das letztendlich die Verlängerung einer Kiesgrube wäre, deren Abbaurechte Josef Klamm hatte, zu bekommen. Sie stockte. Hier sollte sie nachhaken, denn in dem Bericht wurde Hans Freier als Besitzer genannt. Also geschah irgendwann eine Übertragung.

Mit einundvierzig Jahren heiratete Gerd eine betuchte Holländerin. Zwei Monate nach der Trauung kam sein Sohn Bert zur Welt. Einige Jahre später seine Tochter Lucy, die heute in der Immobilienfirma des Vaters arbeitete.

Nach Stunden lehnte sich Maria zurück. Sie glaubte am PC alle wesentlichen Informationen, herausgeholt zu haben. Der Rest musste zu Fuß gemacht werden. Es war schon spät. Wie schon so oft … den Feierabend verpasst. Aber das machte nichts. Niemand wartete auf sie. Maria war geschieden und die beiden Kinder lebten in Köln und Düsseldorf. Ihre letzte Beziehung ging vor einem halben Jahr in die Brüche.

Marias Gedanken schweiften. Der jetzige Fall war anders, als alles, was ihr in ihrer nicht kurzen Polizeikarriere bisher passierte. Soweit in die Vergangenheit ermittelte sie noch nie. Sie ging davon aus, dass es Heinz genauso ging und dem Küken Claudia sowieso. Ein Glücksfall, dass sie die junge Kollegin als Vorgesetzte bekamen. Maria machte sich zwar damals auch Hoffnungen auf die Planstelle gemacht, aber ... sie zuckte mit den Schultern. Claudia steckte voller Wissen und Begabungen. Noch nie kam ihr jemand unter, der so unbefangen Schlüsse zog und nicht mit trockener Arbeit begründete, sondern mit Intuition.

Der Gedanke schoss aus dem Nichts in den Kopf. Sie erinnerte sich unklar. Es hing mit dem Zoll zusammen, heute Bundespolizei … oder Grenzschutz? Über Nacht wurden in den griechischen Lokalen die Besitzer ausgetauscht. Die Behörden verfolgten Geldwäscher. Ein Tipp kam aus den höchsten Kreisen der Politik. Wie es hieß ein ehemaliger NATO-Offizier. Gerade hier in Aachen rockte damals der Teufel. Da hing auch ein Deutscher aus diesem komischen Dorf mit drin. Ob das wohl dieser Gerd Klamm war? Diesmal gab sie ihrem Bauchgefühl nach und hing wieder vor den Bildschirm.

Heinz Bauer lümmelte an der Theke und lauschte dem Klatsch. Während solcher Kneipenbesuche liefen oft Informationen um den Tresen, deren sich die Erzählenden nicht bewusst wurden. Hier in den Jägerhof kam er seit Jahren. Die meisten vergaßen, dass er bei der Kripo war, wenn er sich an der Theke unter sie mischte.

»Vier Tote in der Heide«, begann Karl hinter dem Tresen ein neues Gespräch.

»Ja aber aus dem Krieg. Bestimmt von den Amis, als die damals hier durchgewalzt sind.«

»Nee. So alt sollen die noch nicht sein.«

»Kann doch nicht. Dann hätten wir etwas gehört.«

»Was sagt denn unser Experte«, richtete jemand das Wort an Heinz, der sich an dessen Polizeijob erinnerte.

»Nichts.«

»Professor, das kannst du nicht machen. Sonst laberst du uns den Kopf voll.«

»Ich weiß nicht mehr als Ihr.« Heinz hob verteidigend die Hände. »Vielleicht doch. Einer der Toten lag noch nicht länger als zwei Jahre dort.« Er machte dem Wirt das Zeichen eine Runde zu geben. Die Männer bestellten ausschließlich Bier.

»Echt. Zwei Jahre?«, sein Gesprächspartner riss die Augen auf.

»Man erzählt, dass ein Massenmörder dort einen eigenen Friedhof hat«, sagte ein anderer.

»Du Spinner. Wir sind doch nicht in Amerika«, warf jemand aus der Runde ein.

»Zwei Jahre?«, kam es von der Ecke der Theke. Heinz sah ihn nicht richtig, weil er durch einen Größeren verdeckt wurde. Er beugte sich nach vorn, um ihn besser zu sehen. »Da fällt mir nur der Bert Klamm ein«, fuhr er fort. »Der war plötzlich verschwunden und ist nie mehr aufgetaucht. Das Gerücht besagte, dass der Gerd ihm eine auf den Kopf gegeben haben soll.«

»Woher hast du das?«, fragte Heinz und nippte am Bier. Mit dem Handrücken wischte er den Schaum von der Oberlippe. Jetzt fiel es ihm ein. Der kam aus Scherpenseel.

Was eine Runde ausmachte, ging ihm durch den Kopf. Wenn sie weiter so redeten, würde er ihnen das Fass spendieren.

»Du weißt doch, wie das ist. Irgendetwas hört man immer. Eines der Mädchen, die bei denen arbeitete, hatte damals einen Streit mitbekommen. Das macht doch die Runde«, sagte er wichtigtuerisch.

»Und? Wie kommst du auf Bert?«, hakte Heinz nach.

»Der war der Ehrlichste von denen und beteiligte sich nie an den schmutzigen Geschäften. Da ging es um eine große Sache. Das musst du doch wissen. Die wollten den Kies da hinten abbauen«, er wies mit der Hand hinter sich in Richtung Heihoeve. »Die Genehmigung der Landschaftsbehörde wurde versagt. Dann klemmte die Blase sich hinter die Holländer und investierte in das Industriegebiet. Da wo jetzt der Ärger wegen der Straße ist. Buitenring oder so ähnlich. Ich bin kein Holländer. Da stehen doch überall die Schilder der Gegner. Jetzt wollen die da drüben eine Anbindung an das deutsche Straßennetz. Zufälligerweise genau dort vorbei, wo der Kies liegt. Da hat der Bert nicht mitgespielt.«

»Das war wohl ein Naturfreak«, frotzelte Heinz.

»Das ist nicht lächerlich. Die Heide lag ihm wirklich am Herzen. Er legte sich öfters mit dem Alten an. Na, ja. Ich weiß nur, was man sich so erzählt. Und außerdem ist ja hier auf der deutschen Seite auch Ärger genug.«

»Wie meinst du das?«, fragte Heinz.

»Liest du keine Zeitung«, prahlte er weiter. »Das geht doch viel weiter. Die Autobahnanbindung soll quer durch Übach-Palenberg, über die Wurm, bis zur A4 und A44 führen. Und dann die ›Bürgermeisterstraße‹ ... die hier hinten zwischen Grotenrath und Scherpenseel den Weg zur A46 schaffen soll. Die soll von dem Bürgermeister in Geilenkirchen und dem hier bei uns ausgekungelt worden sein. Da hatte auch der Gerd Klamm die Finger im Spiel. Den interessiert nur das Geld. Wie wir uns fühlen und was er in der Natur kaputtmacht, ist dem doch egal«, er geriet in Rage. »Der will nur den Kies.«

»Schon gut«, besänftigte Heinz. Links von ihm stand ein großer Kerl, der sich so unauffällig benahm, dass es schon auffällig wirkte. Die Haare etwas lang, dachte er. Er hatte ihn schon ein-, zweimal hier gesehen, konnte ihn jedoch nirgendwo hinstecken. Er hatte bisher noch kein Wort gesagt. Klar ersichtlich lauschte er den Gesprächen sehr interessiert. Er hielt das Bier in der Hand und grinste Heinz mit den unverschämt grünen Katzenaugen unbefangen an, als er dessen Musterung spürte.

»Hatte der Bert Geschwister?«, fragte der Typ in die Runde.

»Klar. Kurt, ich vergesse immer, dass du Ausländer bist«, griente der Wortführende. »Der kommt aus Teveren«, wandte er sich feixend an Heinz, um dann fortzufahren. »Der Bert hat eine Schwester. Anfang Mitte dreißig. Ein hübsches Ding. Das musst du doch wissen. Du hattest doch mal was mit der Lucy.«

»Ach die sind das. Es gibt so viele Klamm in dieser Gegend. Aber hört mal. Da soll doch irgendwo ein Schmugglergang existieren?« Er sah fragend in die Runde.

»Blödsinn«, meinte ein kleiner kräftiger mit langen Haaren wichtig. »Den haben wir schon als Kinder gesucht«, er grinste nickend. »Die meisten von euch waren oft mit dabei. Huh, huh. Heidegeist«, er breitete die Arme nach hinten aus und lief wie ein Gockel durch den Raum. Die Männer lachten wiehernd.

Heinz beobachtete den langen Kerl misstrauisch. Es durchfuhr ihn siedend heiß. Der hatte die Toten gefunden. Was fragte der hier herum? Jetzt zwinkerte er ihm auch noch mit einem Auge zu und nickte mit dem Kopf zum Tisch in der Ecke, zu dem er sich begab. Kurze Zeit später folgte Heinz.

»Hey. Ich bin Kurt Hüffner.« Er deutete auf einen Stuhl und musterte ihn ungeniert. »Du bist der Kollege von Claudia.«

»Richtig. Du bist der Grabräuber und hast uns die Arbeit verschafft.«

»Ich bin scheinbar zu blöd zum Pinkeln. Aber wer weiß, wozu es gut ist.«

»Bist du Mystiker?«

»Wieso?« Kurt sah ihn erstaunt an. »Ach so. Nee. Nur einfach dahin gesagt. Du wunderst dich, dass ich hier Fragen stelle?« Er legte direkt los.

»Ein wenig. Was hast du damit zu tun?«

»Interessiert mich einfach. Ich habe den Nachlass von Josef Klamm gelesen. Das weißt du sicherlich.« Heinz nickte. »Die Geschichte an der Theke habe ich heute schon dreimal gehört. Zumindest scheint einer der Toten Bert Klamm zu sein. Da könnt ihr doch sicherlich etwas über DNA oder DNS machen oder nicht?«

»Wenn du magst, übernimmst du meinen Job und ich gehe an deiner Stelle in der Heide pinkeln.«

»Mensch. Sei doch nicht so pingelig. Ich will doch nur wissen, was los ist.«

»Ich bin nicht pingelig«, knurrte Heinz. »Ich unterhalte mich lediglich nicht mit dir über laufende Ermittlungen.«

»Ist ja gut. Ich hab da noch eine Sache. Die möchte ich nicht so gern mit deiner Kollegin Claudia erörtern.« Er sah ihn fragend an.

»Um was geht es?« Heinz bekam ein Glitzern in die Augen.

»Vor ein paar Jahren hatte ich mal was mit der Lucy.«

»Welcher Lucy?«

»Die …«, Kurt druckste herum. »Die Tochter von Klamm. Stell dich nicht so blöd.«

»Du?« Er zeigte mit dem Finger auf ihn und lachte trocken los, so, dass alle zu ihrem Tisch blickten. »Die haben es gerade an der Theke erzählt. Da wusste ich aber noch nicht, wo ich dich hinstecken musste. Ich habe schon viel erlebt. Aber du schlägst alles. Erst die Leichen und dann das noch. Es ist gut«, sagte er ruhiger werdend, »dass du es mir sagst. Ich werde es dem Küken schonend beibringen. Mach es nicht kaputt. Sie schwebt auf Wolke sieben. Du bekommst es nicht nur mit mir zu tun.« Sein Blick ruhte drohend auf ihm.

»Mein Gott. Es ist schon lange vorbei. Doch es ist mir peinlich.«

»Dann kennst du die Familienverhältnisse?«, unterbrach Heinz ihn.

»Nicht so besonders. Ich war nur wenige Wochen mit ihr zusammen. Den Vater habe ich einmal gesehen.«

»Als du Josefs Papiere gelesen hast, muss dir doch aufgefallen sein, dass du die kanntest.«

»Vielleicht bin ich ein bisschen blöd. Aber es gibt so viele Klamm in der Gegend, wie schon gesagt. Erst vorhin, als ich nach Geschwistern fragte, kam die Erleuchtung.«

»Du weißt wirklich nichts über die Familie?« Heinz sah ihn zweifelnd an.

»Nein. Oder doch. Den Bruder habe ich kennengelernt. Er wirkte sympathisch. Doch Lucy meinte, er sei ein Weichei. Was sie damit sagen wollte, habe ich nicht hinterfragt.«

»Na ja. Du weißt sowieso schon einiges.« Er kratzte sich am Kopf. Es konnte nicht schaden, den Typen anzuzapfen. »Der Fall ist nebulös und verzwickt. Du hast ja die Unterlagen studiert. Was ist dein Eindruck?«

»Ich bin mir nicht sicher«, Kurt bekam einen nachdenklichen fast entrückten Ausdruck. »Um es vorne weg zu sagen, ich bin ein realistischer Mensch. In meinem Beruf haben Physik, Chemie … na ja Formeln ihren Platz. Doch auch über die Berufserfahrung bekommt man ein gewisses Gespür. Also eine Ahnung, die ich nicht überbewerte. Doch manchmal sollte man einen Instinkt nicht ignorieren. In dieser Geschichte orakelt es. Ein Gefühl, das ich nicht hochkommen lassen möchte.«

»Also doch Mystiker.«

»Nein. Nichts in diese Richtung. Irgendetwas, was ich schon einmal gehört oder gesehen habe … doch nicht packen kann.«

»Ja das kenne ich. Es ist wie ein Käse, der reifen muss. Dann plötzlich stinkt er.« Heinz grinste boshaft.

»Ich wusste, dass du ein Blödmann bist«, bemerkte Kurt trocken. »Das vorhin mit der Infrastruktur schlägt Wellen bis nach Düsseldorf ins Verkehrsministerium und auch in Holland geht es hoch her. Hier wird an vielen Ecken gedreht. Kurz vor der Bundestagswahl 2009 kochte die Angelegenheit hoch. Wie das so ist. Irgendeiner steuert und alle springen auf. Darüber hat es einige Veränderungen in den politischen Strukturen hier gegeben.«

»Du siehst hier einen Zusammenhang?«, fragte Heinz interessiert.

»Nicht richtig«, überlegte Kurt. »Und wenn, nur mittelbar und nicht auf die Toten bezogen. So wie die hier bei ihren Geschäften mit den Ellenbogen arbeiten, ist es anderswo auch.«

»Du bist doch der Sohn von der Hannah?«, fragte Heinz nebenbei.

»Ja. Kennst du sie?«, musterte ihn Kurt interessiert.

»Vom Sehen. Übrigens habe ich heute schon einmal von dem Tunnel in der Heide gehört. Ist da etwas dran?«

»Möglich. Jedoch, wenn dort jemals ein Stollen oder Ähnliches existierte, wäre man bestimmt schon fündig geworden.«

»Heh ihr beiden. Habt ihr etwas miteinander?« Sie wurden gestört und genötigt, an die Theke zurückzukehren.

Kurt bestellte noch ein Bier und sah Heinz nachdenklich an. Der Polizist hatte die Augen überall und nirgends. Saugte alles wie ein Schwamm auf und speicherte es, um bei Bedarf darauf zurückzugreifen. Trotzdem ein Blödmann, dachte er.

*

Heideleichen

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