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Vier

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»Wie weit sind wir mit den Leichen in der Heide?«, fragte Claudia Plum in die Runde vor dem Besprechungstisch im großen Büroraum, der von drei Schreibtischen beherrscht wurde. Maria und Heinz lümmelten sich auf den Stühlen.

»Was soll sein? Eine seltsame Angelegenheit. Du kennst die Berichte«, meinte Heinz. »Drei Skelette, die unbestreitbar älteren Datums sind und seltsamerweise, eine weitere Leiche, die maximal drei Jahre dort liegt.«

»Ja, ich habe die Berichte durchgearbeitet. Fast unwahrscheinlich, dass die Todesfälle zusammenhängen, doch der gemeinsame Fundort macht mich stutzig. Und …«, sie lächelte entschuldigend, »mein Bauchgefühl. Ihr kennt das ja.«

»Und ob wir das kennen.« Maria verdrehte die Augen. »Das heißt also wieder Überstunden.«

»Die drei älteren Skelette weisen Kopfverletzungen auf«, fasste Claudia den Faden. »Löcher, wie sie durch eine großkalibrige Waffe entstehen. Wahrscheinlich Gewehr. Die jüngere Leiche weist keine sichtbaren Verletzungen auf. Bei dem Grad der Verwesung ist es schwierig, eine Rekonstruktion vorzunehmen. In der Kleidung finden sich Hinweise auf Schnitte, die von einer Hiebbewegung mit einem Messer oder einem ähnlichen Gegenstand herrühren könnten. Eine Identifizierung war, ebenso bei den älteren Skeletten, noch nicht möglich. Na ja, es handelt sich um männliche Personen. Die Pathologen sind bei der Arbeit.«

»Es erleichtert unseren Job nicht, dass die Rechtsmedizin jetzt in Köln ist. Scheiß Zentralisierung. Zeitersparnis bringt es nicht. Im Uniklinikum früher klappte es besser und schneller«, motzte Heinz.

»Weil du dich nie mit dem PC anfreunden konntest«, gab Maria zurück. »Was sagt denn dein Bauchgefühl, Claudia?«

»Es besteht ein Zusammenhang. Fragt mich nicht, woher diese Ahnung kommt. Erst einmal sind es die identischen Fundorte und dann dieses Gefühl. Es trügt mich selten.« Sie horchte nach innen. Die Spannung eines neuen Falles baute sich auf, mit Kribbeln in den Nervenbahnen und jetzt, zusätzlich, eine bange Ahnung. »Ich seh mich mal in dieser Gegend um. Vielleicht stoße ich auf irgendetwas.«

»Vielleicht auf den netten Zeugen«, frotzelte Maria.

»Der hält mich nicht ab, mich dort sehen zu lassen«, lachte sie.

Den Vormittag verbrachte Claudia am Schreibtisch und ging zum wiederholten Male alle Papiere durch, die mit dem Fall zusammenhingen. Viel kam nicht zusammen.

Die Gedanken schweiften zu dem Dorf, das in der Nähe der Leichenfunde lag. Sie verbrachte ihre Kindheit dort. Aber da war nichts. Keine Gedankenfetzen … nichts. Ihre Eltern zogen nach Düsseldorf, bevor sie Erinnerung aufbauen konnte, weil ihr Vater dort eine neue Anstellung übernahm. Heute besaß er ein kleines Pharmaunternehmen. Nach dem Abitur besuchte sie die Polizeiakademie in Münster. Vor einem halben Jahr landete sie in der Aachener Mordkommission und bewohnte in der Nähe des Ponttors ein Zweizimmerappartement, weil der Absprung in eine andere Stadt zu jeder Zeit bevorstand. Mittlerweile ertappte sie sich jedoch des Öfteren bei sehnsüchtigen Blicken auf die Immobilienangebote in den Fenstern der Bank oder Sparkasse. Ich werde alt, dachte sie dann jedes Mal.

Claudias letzte Beziehung lag ein Jahr zurück. Was so toll begann, endete in einem Fiasko. Warum mussten die scheinbar nettesten Kerle solche Idioten und auch noch verheiratet sein. Sie dachte mit Schaudern an diese Beziehung. Sie war so blöd und ließ sich mit einem Vorgesetzten ein. Als sie die Beziehung beendete, begann das Spießrutenlaufen. Ihre Ermittlungserfolge beim Landeskriminalamt in Düsseldorf wurden zum Eigentor. Die fällige Beförderung zur Hauptkommissarin wurde blockiert. Ihr Exgeliebter stellte sie vor die Wahl, einen Innendienstjob anzunehmen oder die Bewerbung auf eine Stelle außerhalb des LKA. So klappte es auch mit der Laufbahnbeförderung.

Aachen war ganz anders als Düsseldorf. Die Stadt lag in einem Kessel und wirkte mehr wie ein Dorf, als eine Großstadt. An jeder Ecke traf sie auf Geschichte. Seien es die Römer oder Karl der Große.

Ihre Gedanken sprangen. Der Typ in dem Dorf wirkte ganz nett. In den letzten Tagen dachte sie mehrfach an ihn. Wahrscheinlich auch so ein Blender. Außerdem hatte sie Entzug, musste also vorsichtig sein. Häufiger spielten ihr die Hormone einen Streich. Dennoch ... sie sollte sich wieder einmal etwas gönnen.

Claudia nutzte ihre Möglichkeiten und holte am PC einige Erkundigungen ein. Er kam aus geordneten Verhältnissen und einem Elternhaus mit gutem Ruf: Vater erfolgreicher und selbstständiger Rechtsanwalt mit Kanzlei und die Mutter arbeitete bis vor zwei Jahren als Grundschullehrerin. Nach dem Abitur studierte Hüffner an der RWTH Aachen und erledigte im Eiltempo seinen Ingenieur und Diplom. Man höre und staune, parallel dazu ein Physikstudium, welches er ebenso mit Bravour meisterte. In einer großen Aachener Firma leitete er die Entwicklungstechnik für Werkstoffe. Daneben steuerte er Versuche an der Technischen Hochschule, die eng mit seinem Arbeitsgebiet zusammenhingen. Ehelos, keine Kinder. Beziehungen oder Bekanntschaften konnte sie nicht ermitteln. Also etwas, was ich selbst tun muss, sagte sie sich. Eigentlich schade. Sonst könnte ich mir den Traummann am Computer basteln.

Am Nachmittag stand der Tatort auf dem Plan und eventuell … na ja, mal sehen.

*

Kurt schob den Stapel Papiere zur Seite. Nach anfänglichen Schwierigkeiten las er die Sütterlinschrift der Aufzeichnungen flüssig. Eine merkwürdige, faszinierende Geschichte, die ihn fesselte. Welche Verbindung gab es zu den drei Skeletten?

Egal ... der Magen knurrte. Das Brot hielt nicht so lange vor. Er schälte einige Kartoffeln und schnitt sie in Scheiben. Das heiße Olivenöl in der Pfanne spritzte ein wenig. Er briet die Seiten der Kartoffelscheiben goldbraun an und fügte Zwiebel hinzu. Noch zwei Streifen Schinken, eine Prise Salz und den Spritzschutz drüber. Natürlich die Temperatur etwas kleiner gedreht. In die nächste Pfanne haute er ein paar Schnitzel. Typisch Supermarkt. Vier Stück. Kleinere Packungen gab es nicht. Musste er sie halt später kalt essen. Ein Profikoch hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Er würzte das Fleisch in der Pfanne, während es briet. Pfeffer, Salz, Paprika – ziemlich großzügig. Jetzt noch den Salat. Die Salatsoße, heute sagte man wohl Dressing, gehörte zu den heiligen Handlungen in seiner Kücke. Olivenöl, Essigessenz, dünne Zwiebelscheiben, je eine Prise Pfeffer, Salz und Zucker, eine großzügige Menge getrocknete Kräuter und zum Schluss, einen Schluck Milch. Das Ganze fünf Minuten ziehen lassen.

Er räumte den Tisch frei. Kurt schnappte den Packen mit den Memoiren oder was es war und steckte ihn in einen Karton, der auf dem Schreibtisch stand. Wie der Teufel es wollte, fuhr der PKW der Kripotante vor. Die Tasche! Wohin damit? Er packte sie unter die Spüle in den Schrank zu den Putzmitteln und warf eine Zeitung über den Karton. Hastig wischte er über den Tisch, als der Türgong anschlug.

»Hallo. Sie können gleich mitessen«, empfing er sie beim Öffnen der Türe.

»Super«, sagte sie verdutzt. »Ich habe echt Hunger. Wussten Sie das?«

»Klar. Ich kann Hellsehen«, sagte er grinsend. Schnell deckte er den Tisch. Zwei Teller, Messer, Gabel. Das reicht, dachte er. Ach nein, die Getränke fehlten noch. »Möchten Sie etwas trinken?«

»Gerne«, sagte sie.

»Ja und was? Ich habe Bier, Cola und Wasser.«

»Bier. Mit einem darf ich noch fahren.«

Er öffnete zwei Flaschen. »Prost.«. Oh Mist. Er hätte ihr ein Glas anbieten müssen. Doch sie tat schon einen tiefen Zug.

»Was gibt es denn zu essen?«, fragte sie. »Riecht echt lecker.«

»Na ja. Was kann man bei einem Bratkartoffelverhältnis schon erwarten?«, gab er lakonisch zurück.

»Bratkartoffeln«, meinte sie lachend.

»Richtig.« Ich benehme mich albern, dachte er. Sie gefiel ihm. Heute trug sie legere Kleidung: Jeans und Shirt. Fast kein Make-up. Die Haare standen wirr vom Kopf, als wenn sie gerade draußen etwas erledigt hatte. Und diesmal saubere Sportschuhe. Sie wirkte gelöst und lachte viel. Dabei zeigten sich kleine Fältchen in den Augenwinkeln und Grübchen auf der Wange, die ihm schon bei der ersten Begegnung auffielen. Die Augen blitzten. »Die Kartoffeln brauchen noch einen Moment. Weshalb sind Sie vorbeigekommen?«

»In der Nähe der Skelette wurde eine Leiche jüngeren Datums gefunden«, sagte sie.

»Sch … ade. Ich dachte, Sie sind meinetwegen hier«, rutschte ihm unüberlegt heraus.

»Deshalb auch«, gab sie seelenruhig zurück.

»Schön. Damit kann ich leben. Wissen Sie, wer die Leiche ist?«

»Nein. Ein Mann. Er liegt vielleicht drei Jahre dort.«

»Drei Jahre? Dann muss es doch eine Vermisstenmeldung geben?«

»Wir überprüfen im Moment alles. Haben jedoch noch keine korrekte Altersbestimmung oder sonst etwas.«

»Dann wünsche ich Ihnen ein gutes Händchen«, er trug die Pfanne mit den Kartoffeln zum Tisch und setzte sie auf einen Holzuntersetzer. Dann die Schnitzel und den Salat.

Sie häufte schon Kartoffeln auf den Teller und langte nach einem Schnitzel.

»Übrigens, Claudia.«

»Kurt.«

Schweigend aßen sie.

»Wow«, sie fuhr mit der Hand über den Bauch. »So vollgegessen war ich schon lange nicht mehr. Es war so lecker, wie es roch.«

»Hauptsache, es hat geschmeckt«, sagte er stolz. Alles blank. Keine Reste.

»Wir müssten einen Glückstreffer landen«, führte sie das Gespräch von vorhin weiter. »Ich habe ein Gefühl, als wenn die beiden Vorfälle miteinander zu tun haben. Lach nicht, ich habe damit schon große Erfolge gehabt.«

»Ich lache nicht. Ich gebe sehr viel auf Gefühle. In meinem Job käme ich ohne überhaupt nicht weiter. Wenn du da eine heiße Suppe mischst, um eine bestimmte Metallfestigkeit zu erreichen, hilft dir nur Intuition«, antwortete er sehr ernst.

»Dann sind wir uns darin einig. Ich muss in Ruhe darüber nachdenken. Vielleicht haben wir etwas übersehen oder ich bekomme einen Einfall. Ich weiß es nicht. Hast du eine Freundin?«

»Nö. Und du?

»Ja. Ich habe eine Freundin.«

»Echt?«

»Ja seit meiner Schulzeit. Ich habe sie Jahre nicht mehr gesehen. Ich bin solo. Schon lange.«

»Gut. Der Beginn einer langen Verbindung.«

»Blödsack«, lachte sie locker. »Ich muss jetzt fahren. Muss noch mal ins Büro. Ich würde gerne noch etwas bleiben.«

»Ist schon in Ordnung. Komm vorbei, wann du Lust hast.«

»Schön«, sagte sie und reichte ihm ein Kärtchen. »Meine Telefonnummer. Für alle Fälle. Danke für das leckere Essen.«

Er brachte sie zur Türe. Claudia drehte sich auf dem Weg zum Auto noch einmal um und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Mit rotem Kopf verschwand sie im Wageninneren. Eine kurze Handbewegung und schon rollte sie davon.

Kurt sah ihr nach. Was für eine Geschichte? Drei, nein … vier Tote. Kurt rieb die Schläfen. In dieser Gegend eine Räuberpistole? Weshalb hatte er nichts von der Aktentasche erzählt? Den Fund der Papiere konnte er nicht mehr geheim halten. Vielleicht hing er mit den Todesfällen zusammen. Sicher, sagte er sich. Wo hast du die Tasche denn gefunden?

Er rief Griet an.

»Bei Griet«, meldete sie sich, wobei sie das ´g´ wie ein ´ch´ aussprach. Der holländische Akzent kam immer wieder durch.

»Ich bin es, Kurt. Hast du einen Moment Zeit?«

»Für dich immer. Wie kann ich dir helfen?«

Er schilderte kurz, was ihm so widerfahren war.

»Ein paar Minuten, dann bin ich bei dir. Paul ist noch auf der Arbeit. Bis der kommt ... solange warte ich nicht.« Sie legte auf.

Er wusste gleich, dass sie darauf ansprang. Ihre unglaubliche Neugierde siegte immer.

Jetzt zu Claudia. Das war vielleicht peinlich! Während des Essens und der kurzen Unterhaltung dachte er nicht einmal an den Fund. »Hey. Hier ist Kurt«, meldete er sich, nachdem er die Mobilnummer der Visitenkarte gewählt hatte.

»Hey. Ich bin doch gerade erst weg. Schön, dass du anrufst. Ich freue mich echt«, hörte er ihre frische Stimme.

»Freue dich nicht zu früh. Ich muss dir etwas beichten.«

»Du hast eine Freundin«, kam es wie aus der Pistole geschossen und sehr frostig zurück.

»Viel schlimmer«, begann er. »Ich habe im Zusammenhang mit den Skeletten etwas unterschlagen.«

»Gott sei Dank«, seufzte sie am anderen Ende. »Das ist zu regeln. Was ist es?«

»Eine Tasche mit alten Papieren. Einer von denen muss ein Soldat gewesen sein und hat eine wahnsinnige Geschichte aufgeschrieben. Ich habe begonnen zu lesen und denke, dass die Papiere vielleicht bei euren Ermittlungen hilfreich wären. Du musst mir glauben. Ich hab die Tasche gedankenlos mitgenommen und erst vorhin wieder daran gedacht. Besser, als ich meinen Einkauf in den Kofferraum packte, fiel sie mir wieder auf«, stotterte er.

»Beruhige dich. Ich glaube dir. Heute komme ich nicht mehr. Die Arbeit stapelt sich. Es wird sehr spät. Vielleicht besteht morgen eine Möglichkeit.«

»Ja. Super. Und ... Danke.« Langsam drückte er die Unterbrechungstaste.

Griet schneite über die Terrasse herein. Ihre beiden Grundstücke lagen nebeneinander und wurden durch ein Törchen im Garten verbunden.

»Ich bin kribbelig. Wo hast du die Sachen?«

Er zeigte auf den Tisch.

Sie stürzte wie ein Geier darauf zu. »Vier Tote, sagst du. Wahnsinn. In dieser Ecke ist vielleicht was los«, erinnert sie an den Aufruhr um die Keltenscheibe. Griet war knappe einsachtzig groß. Mittelblondes, schulterlanges, glattes Haar betonte ein ungewöhnliches Gesicht mit leicht schräg stehenden grauen Augen. Gefällig ruhten seine Augen auf ihr. Die gut proportionierte Figur strahlte Sinnlichkeit aus. Sie trug schmutzige Jeans und irgendetwas, was wohl einmal ein Shirt gewesen war.

»Ja. Schau nur. Ich komme direkt aus dem Gewächshaus. Rein, raus und der Regen. Da klebt alles. Aber du kennst mich ja, wenn jemand etwas aus der Erde holt, bin ich nicht zu halten. Umziehen und waschen kann ich mich später. Die Toten sind also jüngeren Datums?«

»Ja. Nach deinen Maßstäben sehr jung. Ungefähr dreißig Jahre lagen sie in der Heide«, Kurt lächelte leicht. Griets Enthusiasmus steckte an. »Am besten liest du das, was ich durch habe. Ich mache dann hier weiter.

Während Griet sich auf die Geschichte stürzte, trank er ein Glas Wasser und stellte ihr auch eins hin. Dann griff er zum nächsten Blatt:

1975

Unsere Familien standen nicht gut miteinander und wir pflegten, solange ich mich erinnere, schon Jahre keinen Kontakt. Hier stand ich nun. Ein abgerissener Zwanzigjähriger, der seinen Verwandten das sicher geglaubte Erbe streitig machte.

»Du bist Klaus und du Gerd.« Ich ging auf die beiden zu.

»Schön, dass du gesund zurück bist«, sagte Klaus, mein Onkel, mit gequältem Lächeln, sich wohl bewusst, dass die Leute seine Reaktionen beobachteten.

»Ja. Finde ich auch schön. Noch vor einem Jahr hätte ich nicht damit gerechnet. Gut, dass ihr nach dem Hof geschaut habt«, antwortete ich.

»Komm erst mal herein«, sagte Gerd.

Ich winkte den Menschen zu und versprach ihnen, mich ihrem Mitgefühl und dem freundlichen Empfang, würdig zu erweisen. Dann folgte ich den beiden in mein Elternhaus.

Sie kamen sofort zur Sache.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Klaus.

»Da weiter machen, wo ich aufgehört hatte, bevor ich für euch alle meinen Arsch hingehalten habe«, antwortete ich so freundlich wie möglich.

»Du glaubst doch wohl nicht, dich hier ins gemachte Nest setzen zu können?«, fauchte Gerd. »Der Hof war total runter gewirtschaftet. Schau, was ich daraus gemacht habe.«

»Du bist ein Spinner Gerd. So lange war ich auch nicht weg. Das Geschäft lief und ich weiß genau, was dabei herumkam. Ich verstehe, wenn du mir mein Eigentum missgönnst, doch dir gehört es sicherlich nicht«, gab ich scharf zurück.

»Du wirst mir den Hof nicht wegnehmen«, brüllte er und kam auf mich zu. Er war ungefähr drei Jahre älter als ich und ein bulliger Typ. So schnell stellte sich ihm niemand entgegen.

Doch der Krieg und Flucht gab mir Fähigkeiten, von denen er nichts ahnte. Ebenso kam mir der Kampfunterricht zugute, den ich während meiner Kindheit durch den Fremden im Moor erfuhr, dessen Namen ich nicht einmal kenne. Mich konnte er nicht beeindrucken.

»Bleib stehen«, sagte ich gefährlich ruhig. »In der Zeit, wo du dir deinen Arsch gewärmt hast, habe ich ein paar Tricks gelernt. Du bist schneller tot, als du piep sagst.«

»Jungs, jetzt mal ruhig«, trat Klaus zwischen uns. »Du nimmst ihm nicht einfach den Hof weg«, sagte er zu mir gewandt. »Gerd hat sich echt hineingekniet. Und? Du bist erst zwanzig Jahre alt. Du brauchst noch ein Jahr einen Vormund. Und das werde ich sein. Nach dem Jahr sehen wir weiter.«

Mist. Das hatte ich vergessen. Du darfst deinen Arsch hinhalten, und wenn es darauf ankommt, bist du nicht volljährig. Was machte ich jetzt? Mein ganzer Plan – den Bach hinunter.

»Lass mich darüber nachdenken«, versuchte ich, Zeit zu gewinnen. Das durfte doch nicht wahr sein.

Zwei Monate stand ich nun unter der Fuchtel meiner Vormünder. Auch wenn Onkel Klaus offiziell mein Aufpasser war, wurde schnell klar, dass Gerd diese Rolle übernahm. Anfangs ließ ich ihn gewähren, weil ich sehen wollte, wohin der Weg führte.

Peter und Franz hatten sich in ihre jeweilige Heimat abgesetzt. Als sie sahen, dass da so schnell nichts zu holen war, verschwanden sie, sang- und klanglos. Peter in die Nähe von Köln und Franz ins Saarland. Was wahrscheinlich schwierig war, denn die Franzosen dort stellten sich wahnsinnig an. Ab und zu kam eine Karte, auf der sie mir mitteilten, dass es ihnen gut gehe. Hans blieb in der Nähe und versuchte mich zu unterstützen, wo es ging.

Irgendwann hatte ich die Schnauze voll. Ich probte den Aufstand und begann eine furchtbare Schlägerei mit Gerd. Sie kostete ihn ein Auge und sein rechter Arm wurde mehrfach gebrochen. Da sie keinen Wind um meine Person machen wollten, war er offiziell unter eine Erntemaschine geraten.

Die folgenden drei Monate schaltete und waltete ich auf dem Hof, wie ich wollte. Doch auch diese Zeit ging vorbei. Gerd kam zurück. Die Zeit seiner Genesung verbrachte er in Marienberg auf den heimatlichen Hof der Eltern. Er kam mit zwei Arbeitern, Hünen von Männern. Ich wusste gleich, was die Stunde geschlagen hatte. Jetzt wollte er mich klein machen. Ich ließ mir etwas einfallen.

Von heute auf morgen verschwand ich und zog mich in mein altes Versteck in der Heide zurück. Ich kochte vor Wut über meine Ohnmacht. Es wurde Zeit den Schatz meines Vaters zu bergen.

Hans half mir bei der Bergung der Kisten. Ich wusste, wo der Fließsand lag und rief mir die genauen Abmessungen des Feldes in den Kopf. Die Suche gestaltete sich schwieriger, als in meiner Vorstellung. Die Landschaft lebte und erfuhr in den letzten fünf Jahren Veränderungen, die ich berücksichtigen musste. Auf den Knien suchte ich die Ränder ab und machte mir ein gedankliches Bild von den Ausmaßen. Nach ungefähr einer Woche fand ich den Graben, in dem die Seile angepflockt waren. Die Taue zeigten einen erstaunlich guten Erhaltungszustand. Es gelang mir nicht die Spannung, unter der sie standen, einen Millimeter zu lockern, als ich versuchte, den Schatz zu heben. Was sollte ich tun?

Zwischen meinem Unterschlupf und dem Dorf gab es eine Weide, auf der ein Ochse stand, der am Geschirr arbeiten konnte. Die Beschirrung stahl Hans in den Abendstunden samt Tau. Den Ochsen führte ich nach Mitternacht zum Fließsand. Mit der Hilfe des Tieres gelang es uns, die Kisten zu bergen und zur Ziegelei zu schaffen. Am frühen Morgen brachten wir die gestohlenen Sachen und den Ochsen wieder dorthin, wo sie hingehörten. Wir schafften den Inhalt der Kisten, in den Unterschlupf.

Noch heute ist mir unvorstellbar, welch ein Vermögen mein Vater mit der Not der Menschen gescheffelt hatte. Doch damals schob ich die Gewissensbisse zurück und bediente mich.

Es war nur ein Sprung über die grüne Grenze nach Holland. Nach und nach schaffte ich mir, mit Hans Hilfe, Kontakte in Heerlen und von dort bis nach Amsterdam. Deutschland hatte zwar im vergangenen Jahr seine Währungsreform – jedoch war es mir zu kritisch, D-Mark anzuhäufen. Überall, wo es ging, verhökerte ich den Schwarzmarktgewinn für niederländische Gulden. Mit denen, die mein Vater schon zusammengeschachert hatte, kam eine ansehnliche Summe zusammen. Mittlerweile stellte ich eine Sprachbegabung bei mir fest. Ich sprach holländisch wie ein Einheimischer.

Hans knüpfte parallel im belgischen Antwerpen, Kontakte zu Flussschiffern. Das wurde die Verbindung zur Nordsee.

Das Versteck in der Heide verließ ich und kaufte mir ein Haus in einem Nachbardorf Scherpenseels. Untereinander bestanden kaum Beziehungen zwischen den beiden Dörfern.

Mein einundzwanzigster Geburtstag stand bevor. Wir schrieben das Jahr 1949 und das Leben lief fast wieder normal. In Aachen engagierte ich einen Anwalt, der meinen Anspruch auf das Erbe, für mich umsetzen sollte.

Mit dem Tag meiner Volljährigkeit ließ er, durch einen Gerichtsdiener, einen Räumungsbefehl überbringen, der binnen vierundzwanzig Stunden vollzogen sein musste. Auf Schreiben, die er vorher zustellen ließ, erfolgte keine Reaktion. Einen Tag nach dem Räumungsbeschluss rückte die Polizei an und setzte Gerd und seine Arbeiter vor die Tür. Der Aufstand musste gewaltig gewesen sein, habe ich mir erzählen lassen. Während des gesamten Verfahrens trat ich nicht einmal persönlich in Erscheinung.

Den Hof verpachtete ich an einen holländischen Bauern. Ich sah darin eine gute Rendite. Meine Quasi-Verwandten rasteten aus. Irgendwie wurde ihnen bekannt, dass ich nicht weit von ihnen eine neue Heimat gefunden hatte. Sie rückten mir in meinem Dorf auf die Pelle. Nachdem ich nicht öffnete, demolierten sie mir die Türe und warfen die Fenster ein.

In meiner Not wandte ich mich an meine beiden anderen Kriegskameraden, die auch prompt einige Tage später, erschienen. Ihnen ging es nicht mehr um Geld und Reichtum. Jeder von ihnen hatte sein Auskommen und war zufrieden damit. Hans regelte in Antwerpen irgendwelche Geschäfte, im Zusammenhang mit neuen Kontakten.

Ihre Hilfe brachte nichts. Die Übergriffe wurden dreister.

Hans ließ in der Heide ein Haus unter seinem Namen für mich bauen und ich zog mich dorthin zurück. Innerhalb weniger Monate war ich vergessen. Meine Kriegskameraden waren schon lange wieder abgereist.

Gerd Klamm brachte den Hof wieder an sich. Das Haus im Nachbardorf überschrieb ich durch meinen Anwalt ebenfalls Hans Freier. Dennoch verhinderte das nicht, dass sich Gerd Klamm an meinem Vermögen, das sich dort befand, bereicherte. Er trat wieder als Erbe auf. So bekam er das Startkapital für seine – ich muss es gestehen – erfolgreichen Geschäfte.

Mit meinem holländischen Vermögen unternahm ich häufige Störattacken, um ihm sicher geglaubte Geschäfte kaputtzumachen. Doch er war brutal und skrupellos. Seinen Aufstieg konnte ich nur verhindern, wenn ich mich auf die gleiche Stufe mit ihm stellte. Das widerstrebte mir. Jedoch aufgeben wollte ich nicht.

1955 verschwand Hans Freier spurlos. Nirgendwo fand ich eine Spur. Ich musste davon ausgehen, dass mein Cousin Gerd ihn irgendwie erwischt hatte.

Ich bin heute 47 Jahr alt. Wir schreiben das Jahr 1975.

Gerd Klamm stieg in die Immobilienbranche ein. Ein Geschäftsfeld, von dem ich recht wenig verstand. In den vergangenen Jahren machte ich mich sachkundig und studierte die Geschäftsmethoden meines Erzfeindes. Er hatte sich auf Zwangsversteigerungen spezialisiert und erwarb Häuser und Grundstücke zu einem Spottpreis. Danach investierte er wenig und vermietete zu überhöhten Preisen. Ein Rechtsanwalt aus Aachen erwarb die Objekte in seinem Namen.

Ich begann Nadelstiche zu setzen und schnappte ihm einige Geschäfte vor der Nase weg. Es dauerte nicht lange, bis er bemerkte, dass sich hier jemand auf seinem Geschäftsfeld tummelte. Meine Geschäfte in den Niederlanden und Belgien durchliefen eine prächtige Entwicklung, sodass ich über ausreichend Geldmittel verfügte. Auch die Immobilien, die ich erwarb, warfen gute Rendite ab. Meine Geschäfte wickelte ich unter dem Firmennamen Hans Freier ab, in Gedenken an meinen Kameraden, der spurlos verschwunden war.

Meine Taktik wirkte. Anstatt des Rechtsanwalts erschien Gerd Klamm bei den öffentlichen Versteigerungen selbst und versuchte mich aus dem Geschäft zu drängen. Fast regelmäßig überbot ich ihn, bis er gierig wurde und Immobilien für so teures Geld erwarb, dass sie keinen Gewinn mehr erzielen konnten.

Ende 1960 gelang mir der große Wurf. Ich schnappte ihm ein großes Geschäft vor der Nase weg. In Marienberg hinter dem Zollhaus in Richtung Scherpenseel lag ein Kiesfeld, das ich über einen Strohmann aus Boscheln erwarb. Dies hatte zur Folge, dass er in meinen Geschäftsräumen erschien und unmissverständlich drohte.

Steif, in einen hellbraunen Anzug und der dazu abgestimmten Krawatte gekleidet, betrat er mein Büro. Er trug eines der modernen Nyltesthemden. Seinen Hut hielt er in der Hand. Auf der hohen Stirn, die er durch das nach vorn gekämmte Haar zu verdecken suchte, perlten Schweißtropfen.

Nach überaus förmlicher Begrüßung kam er sofort zum Kern der Angelegenheit. »Ich dachte lange Zeit, du seist abgekratzt. Eigentlich schade. Du hast dich verändert«, begann er das Gespräch. »Da ist nichts mehr von dem schmächtigen Jungen. Du versuchst mich also, auszubooten. Das wird dir nicht gelingen. Damit das von vornherein klar ist.«

»Das Alter ist an keinem von uns spurlos vorübergegangen«, erwiderte ich so gleichmütig wie möglich. Es machte mir zu schaffen, meinen Erzfeind, so nah vor mir zu haben.

»Lassen wir die Spielchen«, sagte er barsch. »Du überbietest mich bei den Versteigerungen, das muss sofort aufhören.«

»Dadurch wird dein Profit geschmälert«, gab ich zurück.

»Das liegt in der Natur der Sache. Es ist mein Geschäft«, antwortete er. »Du versuchst Dich auf dem gleichen Geschäftsfeld.«

»Versuchen?«, ich lachte leicht auf. »Über den Versuch bin ich hinaus und ich denke, sehr erfolgreich.«

»Dies ist der Grund meines Besuches«, gab er äußerst höflich und steif zurück. Einen Weinbrand, den ich ihm anbot, lehnte er ab. »Dein Erfolg entzieht mir meine Geschäftsgrundlage. Für zwei Immobilienmakler gibt es keinen Platz.« Gerd saß mir gegenüber auf einem Stuhl. Er drückte den Rücken gerade durch, als habe er einen Spazierstock verschluckt. Seinen Hut hielt er locker zwischen den Knien in den Händen. Er wirkte keineswegs nervös.

»Und?« Ich musterte ihn abschätzend und wie ich hoffte, abgebrüht.

»Entweder kaufe ich dich auf oder wir legen unsere Geschäfte zusammen.« An der Art, wie er das sagte, erkannte ich, dass er in der Regel das bekam, was er wollte.

»Ich hege nicht die Absicht, meine Firma zu fusionieren. Ich komme gut alleine zurecht«, antwortete ich gemessen und nachdrücklich.

»Du weißt nicht, worauf du dich einlässt.« Das verbliebene Auge funkelte böse. »Ich benötige das Kiesfeld, das du mir gestohlen hast.«

»Soweit mir bekannt ist, gehört dieses Feld einem Geschäftsmann aus Boscheln. Natürlich hatte ich auch Interesse daran«, gab ich gelassen und freundlich zurück.

»Du kannst dir deinen Spott ersparen. Dein Mittelsmann hat mir gestanden, dass du der Drahtzieher bist.«

Ich musste meine Überraschung verbergen. Ohne Gewalt hätte mein Vermittler dieses Geheimnis nie bekannt gegeben. Was mochte geschehen sein?

»Gut. Weshalb sollte ich leugnen. Dennoch habe ich kein Interesse«, gab ich zurück, in der Hoffnung, dass er meine Verwirrung nicht bemerkte. Doch scheinbar verriet mich irgendetwas.

»Du ahnst, wie ich an diese Informationen kam. Ähnliches wird Dir durchaus ebenso widerfahren.«

»Du drohst mir?«

»Ich kann es mir nicht leisten, dass du mir in mein Geschäft hineinwirkst. Du hemmst mich in meinen Plänen.« Er wirkte keineswegs drohend, als er dies sagte. Gerade deshalb ging ich davon aus, dass er es durchaus ernst meinte. Er hatte sich sehr verändert. Nicht so sehr äußerlich, als vielmehr in seinem Auftreten. Der Bauernjunge hatte sich zu einem Geschäftsmann und Verbrecher gemausert.

»Darf ich dich bitten, mein Haus zu verlassen.« Ich erhob mich.

Gelassen stand er auf und richtete die Hosenfalte. Mit einer kurzen Verbeugung schritt er zur Tür. Dort hielt er inne und richtete das Auge auf mich.

»Denk an meine Worte«, sagte er beim Verlassen des Raumes und des Hauses. An der Straße parkte ein nagelneuer roter Borgward Hansa Sportwagen. Der Chauffeur sprang heraus und hielt Gerd Klamm die Türe auf.

Ich musste etwas an meinem Ansehen tun, denn ich fuhr einen DKW-Junior de luxe. Das Fahrzeug hielt jedoch keinem Vergleich zu Gerds Auto stand.

In der Folgezeit brannte eine Vielzahl meiner Immobilien ab. Ich wurde überfallen und brutal zusammengeschlagen. Mehrere Wochen konnte ich mich nur unter Schmerzen bewegen. Ich wusste, wer dahinter steckte, konnte es jedoch nicht beweisen.

In den darauf folgenden Jahren bekämpften wir uns, wo es ging, jedoch, ohne uns noch einmal zu sehen. Durch meine Kontakte in den Niederlanden erfuhr ich von Geschäften Gerd Klamms jenseits der Legalität. Er finanzierte groß angelegten Hanfanbau und verdiente auch an den daraus hergestellten Endprodukten. Die Polizei bekam manch anonymen Hinweis von mir, der zur Folge hatte, dass Anbauflächen lokalisiert und zerstört wurden. Eine Beteiligung Gerds konnte nie bewiesen werden. Natürlich blieb ihm nicht verborgen, wer hinter den polizeilichen Aktivitäten stand. Wieder und wieder brannten Häuser nieder, die mir gehörten, sodass die Versicherung annahm, ich steckte selbst dahinter. Ich wurde in eine polizeiliche Ermittlung verwickelt, die mir eine Tatbeteiligung nicht nachweisen konnte, mich aber auch nicht von jedem Verdacht befreite.

Mittlerweile verkehrte auch ich in Kreisen, die jenseits von Gut und Böse standen. Diese finstere Gesellschaft brachte mich zu einem Abstecher nach Antwerpen. In einer Hafenspelunke wurde von Geschäften berichtet, die meine Vorstellungen überstiegen und weit abseits der Dimensionen lag, die ich mir zutraute. Es ging um Drogen, Diamanten, Schwarzgeld und Menschenhandel. Auf irgendeine Art und Weise war Gerd Klamm damit verbunden. Es dauerte mehrere Wochen, bis ich zufällig auf einen ungewöhnlichen Transportweg von den Niederlanden nach Deutschland stieß. Erst da wurde mir klar, weshalb mein Widersacher so viel Geld in den Abbau von Bodenschätzen investierte.

Das Wichtigste bei seinen dubiosen Geschäften waren die Transportwege. Dieses Problem löste er so genial und einfach, das ich tatsächlich Bewunderung für ihn hegte.

Man stelle sich vor: Ein Loch in der Heide, aus dem Kies und Sand gebuddelt wurden. Das Gleiche auf der niederländischen Seite. Dann, wie im Bergbau, der Durchtrieb eines Stollens zwischen beiden Betrieben. Kein Beamter des Grenzschutzes oder des Zolls würde auf den Gedanken verfallen, ungesetzliche Machenschaften zu vermuten. Und wenn doch: Das Gehalt der Zöllner war niedrig.

In einer Zeit, in der unser Machtkampf dem Höhepunkt zusteuerte, lernte ich Hendrika van Buiten kennen. Sie war das bezauberndste Wesen, das auf Erden wandelte und die Tochter eines niederländischen Industriellen. Im Sommer 1967 erhörte sie mich. Wir beschlossen, im Frühjahr des folgenden Jahres zu heiraten.

Obwohl ich mich, aufgrund meiner veränderten Lebenssituation und den Ansprüchen Hendrikas an ein gesellschaftliches Leben, immer weniger für die Auseinandersetzung mit Gerd Klamm interessierte, wurde ich tiefer und tiefer darin verstrickt. Es war abzusehen, dass mir zu jedem Zeitpunkt etwas Schlimmes zustoßen konnte. Ich traf entsprechende Vorsorge. Hendrika war schwanger und sollte im Falle meines Ablebens sorgenfrei weiterleben können. Meine Geschäfte überführte ich in eine Gesellschaft, deren Überschüsse in die Schweiz auf ein Nummernkonto transferiert wurden. Aus Gründen, die mir zunächst unerklärlich schienen, wandte sich Hendrika von mir ab und ehelichte meinen Widersacher Gerd Klamm. Ich traf sie ungefähr ein Jahr nach ihrer Abkehr von mir wieder. Sie berichtete mir von geschäftlichen Zwängen, die es mit sich brachten, Gerd Klamm zu ehelichen; und erheblichem Zwang, der von ihrem Elternhaus ausgeübt wurde. Danach sahen wir uns häufiger. Doch nichts war mehr, wie in der Zeit davor. Seit ungefähr einem Jahr gehen wir uns zwar nicht aus dem Weg, jedoch gehören die leidenschaftlichen Momente der Vergangenheit an. Sie bat mich die Vaterschaft ihres Sohnes Bert, nicht breitzutreten, und sagte mir im Gegenzug zu, ihm eine unbeschwerte Zukunft zu verschaffen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Hendrika van Buiten auf mich angesetzt wurde, um mich von den Geschäften Gerd Klamms fernzuhalten. Möge diese Annahme nicht zutreffen.

Der Zugang zu meinem jetzigen Vermögen ist lediglich meinen Nachkommen möglich, also meinem Sohn Bert sowie meinem weiteren Sohn. Notgedrungen, und trotz meines Verdachts, setze ich Hendrika Klamm zur Treuhänderin des Vermögens für meinen Sohn ein.

Im Sommer 1974 machte ich die Bekanntschaft einer interessanten Frau, deren Namen ich nicht bekannt geben möchte. Sie wird es selbst tun, sofern sie es für notwendig erachtet. Das ist meine feste Überzeugung. Sie begegnete mir in unserer wunderschönen Heide. Aus vielen interessanten Gesprächen wurde ein Spiel mit dem Feuer. Dieser Frau verdanke ich die schönsten Momente meines Lebens. Der kurzen Verbindung entsprang ein Sohn, dessen Namen ich zwar kenne, jedoch auch hier nicht nenne. Meinem Rechtsanwalt sind die Namen bekannt und auch, wie und wann die Vermögenswerte weiterzugeben sind. Hendrika hat lediglich die Möglichkeit auf das Schließfach in der Schweiz zuzugreifen, um das Vermögen meinem Sohn Bert zugänglich zu machen. Als Sicherungsmaßnahme ist jährlich ein Bericht über die Verwendung an meinen Anwalt einzureichen, der genaue Vorgaben hat, wie er im Missbrauchsfall verfahren muss.

Am heutigen Abend verpacke ich diese Niederschrift und die beiliegenden Geschäftspapiere. Ich fürchte um mein Leben. Peter, mein Kriegskamerad, begleitet mich am heutigen Abend zu meinem Haus in der Heide. Ich hatte ihn gebeten, mich zu besuchen und die Niederschrift und mein Testament, mit seiner Unterschrift zu bestätigen. Falls Franz rechtzeitg eintrifft wird er meine kleine Mannschaft komplettieren.

Die Tasche mit den Unterlagen deponiere ich im Keller meines Hauses. Dort befindet sich rechts vom Abstieg eine versteckte Kammer hinter dem Mauerwerk, in die ich die Tasche mit meinen Papieren und diesem Schreiben deponiere. Falls ich eines unnatürlichen Todes sterbe, sind meine beiden Kriegskameraden meine Testamentsvollstrecker.

*

»Was hältst du davon?«, fragte er Griet, nachdem sie die letzte Seite gelesen hatte.

»Ein verzweifelter Mensch. Obwohl ich nicht so richtig ersehen kann, weshalb er um sein Leben bangte. Doch die Sachen kannst du nicht für dich behalten. Du musst sie der Polizei geben.«

»Ja«, gab er ein wenig ungehalten zurück. »Ich habe schon angerufen. Diese Polizistin holt die Sachen morgen.«

»Ist es möglich, die Papiere bei dir zu kopieren?«

»Klar. Das hatte ich auch vor.«

Sie machten sich daran, jedes einzelne Blatt zu scannen und auf der Festplatte abzulegen. Sicherheitshalber fertigten sie noch eine CD und speicherten das Ganze auf einem USB-Stick.

Von den Papieren, die dem Bericht beigelegt waren, verstand er nichts. Bezeichnungen und Zahlen, die ihm nichts sagten. Eine Rechtsanwaltskanzlei in Aachen, deren Namen er durch die berufliche Tätigkeit seines Vaters kannte. Namen und Summen, verbunden mit Ortsnamen, wie Baesweiler, Alsdorf, Aachen, Heerlen, Maastricht und …

Da mussten andere, Fachleute ran. Wer war Josef Klamm?

Griet schnappte den USB-Stick. »Den nehme ich mit und schaue mir zu Hause noch einmal alles in Ruhe an. Soll ich dich anrufen, wenn ich etwas gefunden habe? Oder hat das Zeit?«

»Ich weiß nicht, ob und wo ich etwas suche.«

»Dieses Versteck in der Heide und der Schmuggeltunnel interessieren mich. Ich wüsste jedoch nicht, wo ich suchen sollte. Da könnte etwas Interessantes zu finden sein. Aber ich bin jetzt weg und informiere Paul über den neuesten Stand.« Sie stand auf und drückte ihn kurz.

Nachdem sie gegangen war, sah er auf die Uhr. Nach zehn. Er konnte bestimmt nicht schlafen. Ob er wohl noch einmal Claudia anrufen konnte? Nein. Nicht übertreiben.

Am nächsten Morgen fuhr Kurt gerädert ins Büro. Die gestrige Ahnung bewahrheitete sich. Das Gedankenkarussell stand nicht still.

Er griff zum Telefon und wählte Claudias Nummer. Eine mechanische Stimme teilte ihm mit, dass sie sich in einer Besprechung befinde. Er sprach auf den Anrufbeantworter, die Versendung der gescannten Datei an die Mailadresse ihrer Visitenkarte mit.

*

»Unser Heidezeuge mailte eine interessante Datei. Sie ist auf euren PCs abrufbar. Vielleicht schaut ihr mal rein.« Claudia musterte ihre Truppe.

Mit ihren knapp fünfzig Jahren war Maria eine durch und durch attraktive Frau. Ein wenig pummelig, jedoch nicht dick. Landläufig, halt fraulich. Sie trug einen modischen Kurzhaarschnitt und schaute mit ihrem gut geschnittenen offenen Gesicht positiv in die Welt. Persönlichen Ehrgeiz besaß sie nicht, jedoch einen analytischen, vielschichtigen Verstand.

Maria lebte als Ur-Aachenerin in der Soers, nahe des Polizeipräsidiums. Sie ärgerte sich regelmäßig darüber, dass sie aus dem Bürofenster direkt auf die JVA sah. Nicht genug, dass tagtäglich Mord und Totschlag auf dem Schreibtisch landete, musste sie auch noch auf den Knast gucken. Gott sei Dank lagen auf der anderen Seite des Dienstgebäudes die Stallungen und Sportanlagen des Aachen-Laurensberger Reitvereins, der jedes Jahr die weltweit bekannte Reitwoche durchführte. Egal was kam … in der Zeit des Turniers war sie für nichts zu gebrauchen und bekam deshalb jedes Mal problemlos Urlaub.

Heinz, das verkannte Genie ihrer Abteilung. Er hätte schon längst höhere Weihen besitzen können, wenn er nur diplomatischer wäre. In den mehr als vierzig Dienstjahren bei der Polizei eckte er so oft an, dass man es nicht mehr zählen konnte. Intuitiv und akribisch stellte er eine absolute Bereicherung ihrer Arbeit dar. Etwas über sechzig, mit einem Bauch, der ihm ständig über den Hosenbund quoll und seiner hohen Denkerstirn, die er mit seinem schütteren Haar zu verbergen suchte, wirkte er wie der gemütliche Opa, der er auch in seinem Privatleben war. Sein Elan war ungebrochen.

»Kann ich das auf Papier haben?«, kam, wie Claudia es erwartete, die unmittelbare Frage von Heinz. Er verabscheute Computer und mit vielen guten Worten gelang es manchmal, ihn dazu zu bewegen, sich damit zu beschäftigen.

»Schreib es doch ab«, frotzelte Maria. »Was sind das für Daten?«, wandte sie sich an Claudia.

»Na ja. Er hat eine alte Aktentasche mitgehen lassen, die wahrscheinlich zu den Toten gehört. Darin befinden sich Dokumente, die er uns nicht vorenthalten will und kann.«

»Dein Schwarm ist ein Grabräuber«, knurrte Heinz.

»Was weißt du von meinem Schwarm?«, zischte sie scharf zurück.

»Schau in den Spiegel. Du bekommst Kuhaugen, wenn du von diesem Mann sprichst. Also hast du mindestens einen Schwarm. Ich bin nicht umsonst Kriminalist. Was sagt der Grabräuber denn?«

»Nicht viel. Er hat mich gestern Abend angerufen und mitgeteilt, dass er die Tasche an sich genommen hat und der Inhalt sicherlich bei unseren Ermittlungen hilfreich sein könnte. Vorhin fand ich die gescannten Papiere auf meinem Mailkonto. Die Tasche werde ich heute Nachmittag holen.«

»Ich kann sie also mit einem Mausklick ausdrucken«, er schaute unschuldig.

»Du bist mein Tod«, stöhnte sie. »Also, an die Arbeit. Gegen dreizehn Uhr setzen wir uns noch einmal zusammen.«

*

Heideleichen

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