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Drei

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Zwei Tage nach dem Leichenfund fuhr Kurt auf dem Weg von der Arbeit zum Supermarkt in Pannesheide. Während er die Lebensmittel aus dem Einkaufswagen in den Kofferraum lud, fiel ihm die Plastiktüte ins Auge. Die Tasche! Siedend heiß durchzog es ihn. Wie konnte er sie vergessen? Er legte sie auf den Beifahrersitz, damit sie nicht wieder aus seinem Gedächtnis verschwand. Jetzt konnte er nicht schnell genug nach Hause kommen. Was mochte sich darin befinden? Hoffentlich keine alten Brote. In geheimer Vorfreude lachte er. Spannung erfüllte ihn.

Die Tasche lag auf dem Esszimmertisch. Dickes, immer noch glitschiges Leder. Ein Gegenstand, an den er sich schwach erinnerte. Auf dem Speicher seines Großvaters lag noch so ein Teil. Mit alten Fotos drin. Aktentasche nannte er sie. Kaum vorstellbar, dass früher in solchen Behältnissen wichtige Papiere herumgeschleppt wurden. In alten Kriegsfilmen sah man sie hin und wieder.

Zwei Riemen, in verrosteten Metallschnallen verschlossen die Tasche. Sie maß ungefähr sechzig Zentimeter in der Breite, etwas über vierzig Zentimeter in der Höhe und war sieben bis acht Zentimeter dick. Oben, am aufklappbaren Teil, befand sich ein Bügel mit zwei rechteckigen Drahtösen.

Sollte er sie öffnen? Oder der Polizei übergeben? Blöde Fragen. Als wenn er die Neugierde bezähmen konnte? Er schob die leichten Gewissensbisse beiseite.

Die Riemen aus den Schnallen zu lösen, bereitete einige Schwierigkeiten. Er sprühte die Verschlüsse mit Rostlöser ein und nutzte die Einwirkungszeit für ein Leberwurstbrot. In seiner Aufregung hatte er keine Lust zum Kochen. Kauend klappte er schließlich den Deckel hoch. Die Spannung hämmerte pochend an den Schläfen. Dabei wusste er nicht, was er zu finden erhoffte. Ein festes Paket füllte die Tasche. Mit spitzen Fingern zog er es hervor. Der Packen glitt erstaunlich leicht heraus. Eine Verpackung, die er nicht kannte. Feucht und schmierig. Er rieb zwei Finger gegeneinander: Fett. Jetzt erinnerte er sich. In einer Zeit, wo es noch kein Plastik gab, wurde Ölpapier zur Verpackung verwendet. Zu Zeiten, in denen seine Eltern zu Erwachsenen heranwuchsen. Aber was hatte die Kripotante gesagt? Ende der Siebziger. Da gab es doch schon Plastiktüten.

Vorsichtig löste er drei Lagen, bis er auf eine sehr gut erhaltene trockene graue Filzschicht stieß. Keine Vermoderung. Unbeschädigt. Mit zitternden Händen faltete er den Lappen auseinander und ein ordentlicher Stapel Papier tauchte auf. Mit dem Daumen fuhr er den Rand entlang. Die Seiten blätterten, klebten also nicht zusammen.

Er entfernte das oberste Blatt:

1975

Ich beginne im Jahr 1948, in meinem zwanzigsten Lebensjahr. Der Krieg ist zu Ende. Meinen Kameraden Schnitzler, Freier und Berger ist gemeinsam mit mir die Flucht aus russischer Gefangenschaft gelungen. Wir waren jenseits des Ural, ungefähr vierhundert Kilometer von Tobolsk auf einem Bauernhof in der Nähe des Flusses Ob interniert. Im August 1944 nahmen uns die Russen gefangen und verbrachten uns nach unermesslichen Qualen und Erniedrigungen Anfang 1945 zu diesem Bauernhof. Wochenlang fuhren wir in Viehwaggons durch die winterliche Kälte. Es war so kalt, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Wir wärmten uns gegenseitig und klemmten die erfrorenen Kameraden gegen die Bretterschlitze, damit der Fahrtwind uns nicht auch noch zu einem Eisblock machte. Über die Qualen und wie wir letztendlich überlebt haben, will ich nicht berichten. Es war widerlich und ich will nicht darüber nachdenken. Wir wurden, wie eine Viehherde, mit Schlägen auf den Bauernhof getrieben. Die menschenunwürdige Behandlung setzte sich fort, jedoch wir bekamen ausreichend zu essen und Unterkünfte, die wir beheizen konnten. In der wenigen freien Zeit, die uns zur Verfügung stand, erzählten wir von der Heimat, die wir schmerzlich vermissten. Schnitzler, Berger, Freier und ich hatten uns einen Raum in der Scheune abgeteilt und winterfest gemacht. Wenn unsere Lieben bei uns gewesen wären, hätten wir vergessen können, wo wir uns befanden.

Ich wurde in einem Dorf namens Scherpenseel, nahe der holländischen Grenze, geboren. Meine Eltern besaßen dort einen Bauernhof. Zu Beginn des Krieges zählte ich elf Jahre. Mein Vater wurde als Bauer an der Heimatfront gebraucht. Die Männer aus der gesamten Gegend zogen in den Krieg. Die Frauen arbeiteten in den umliegenden Fabriken oder auf den Feldern. Das gesamte gesellschaftliche Leben brach zusammen.

Meine Familie wurde angefeindet, weil die Familienoberhäupter des Dorfes im Krieg kämpften und wir nicht. Mit der Zeit veränderte sich das Verhalten der Nachbarn zu uns. Sie litten unter Hunger. Das Essen wurde rationiert und täglich weniger. Geld verlor an Wert. Die Menschen bettelten bei Georg Klamm, meinem Vater. Der ließ sich jedoch auf nichts ein, wusste er doch, wenn er der Bevölkerung half, war er schnell an der Front. Nur wer bezahlen konnte, mit Gold, Schmuck oder auch niederländischen Gulden, bekam bei ihm etwas zu essen. Denn, wer »schwarz« bezahlte, machte sich ebenso strafbar wie er und würde mit Sicherheit den Mund halten. Wenn die Frau hübsch war, nutzte er ihre Not und ließ sich auch anders bezahlen. Vater hielt in der Heide Schweine, Rinder, Kaninchen und Hühner versteckt. In der alten Ziegelei am Rande des Moores zog er unter unwürdigen Zuständen die Tiere auf. Ich bekam den Auftrag das Vieh zu versorgen. Wie ich dies machte, blieb mir überlassen. Hauptsache, die Tiere hatten Fleisch auf den Rippen, wenn sie geschlachtet wurden.

Mit der Zeit wurden auch der Schmuck und viele andere Wertgegenstände bei den Nachbarn knapper, bis nichts mehr zum Tauschen vorhanden war. Vaters Kunden wurden verzweifelt und verärgert. Sie zeigten meinen Vater an. Dank der klugen Voraussicht hatte er kein Stück Vieh mehr oder weniger auf dem Hof, als er gemeldet hatte und auch das Tauschmittel war nicht im Haus. Die verbliebenen alten Männer, die Frauen und Kinder wagten sich nicht ins Moor. Zum einen wegen der alten Gruselgeschichten, die über diese Gegend erzählt wurden, zum anderen … was gab es dort schon zu holen?

Die Denunzianten wurden mit Frontdienst belohnt. Das sprach sich schnell herum. Niemand sagte mehr ein schlechtes Wort über unsere Familie. Es war zu der Zeit, in der meine Mutter im Wochenbett verstarb. Auch mein Bruder konnte nicht gerettet werden.

Ende 1943 erschien mein Vater in der Ziegelei und gebot mir mitzukommen. Er redete davon, dass der Krieg verloren ginge und man gucken müsse, alles für die Zeit danach zu regeln. Etwas abseits hatte er einen Ochsenkarren stehen, den er ansonsten für die Feldarbeit verwandte. Darauf standen drei riesige Kisten, die die er, über den Eisenbändern, mit einer dicken Teerschicht versehen hatte.. Vater wollte die Kästen verstecken. Ich musste ihn über den Moorweg bis zum Fließsand begleiten. Niemand kennt die Heide so gut wie ich. Jeder Steg und Übergang ist mir bekannt. Hatte ich doch einige Jahre in dieser Einsamkeit verbracht und die Tiere so gut es ging gepflegt.

Irgendwann, während meines Eremitendaseins, begegnete ich im Moor einem Kriegsflüchtling, der erschossen worden wäre, falls sie ihn erwischt hätten. Der Fahnenflüchtige lebte in der Erdhöhle inmitten des Moores, die wahrscheinlich nur wir beide kannten. An den langen Abenden brachte er mir Lesen, Schreiben und viele andere wichtige Dinge bei. Das Wichtigste vielleicht war, wie ich mich gegen Angriffe von Anderen wehren konnte. Er brachte mir Techniken bei, die er von Chinesen oder Japanern gelernt hatte. Wenn mein Vater erschien, um das Vieh zu schlachten, verschwand er in seinem Versteck.

Nun wieder zurück zu meinem Vater und dem Ochsenkarren. Ich brachte ihn und den Wagen bis an den Rand der Sandfläche von mehreren Hundert Quadratmetern, die alles verschlang. Mein Vater und ich befestigten dicke Hanftaue an den Kisten und ließen sie versinken. Der Fließsand nahm sie mit einem schmatzenden Geräusch auf. Bis auf etwa fünf Meter Entfernung von dem Loch legten wir einen kleinen Graben, bis zu einem festen Stück Erde, an und setzten die Taue mit Pflöcken fest. Die Furche, in der das Seil lag, wurde verdeckt, bis nichts mehr darauf schließen ließ, dass sich hier etwas befand.

In den letzten Wochen reduzierte mein Vater den Viehbestand in der Ziegeleiruine stetig. Die letzten Tiere schlachtete er jetzt und nahm mich mit in das Dorf. Meinen Lehrer aus der Heide sah ich nie wieder. Häufiger habe ich mir Gedanken gemacht, wie es ihm wohl ergangen sei.

Vierzehn Tage später wurde ich eingezogen und als Sechszehnjähriger an die Ostfront geschickt. Es wurde ein langer Fußmarsch. Selten konnten wir auf einem Fahrzeug mitfahren. Benzin war genauso knapp wie Nahrung. Ich erwarb Überlebensstrategien, die ich mir in meinem bisherigen Leben nicht vorstellen konnte. Während des Marsches lernte ich meine Kameraden kennen, mit denen mir später die Flucht aus der Kriegsgefangenschaft gelang.

Einer meiner Kameraden, Hans Freier, spielte nach dem Krieg eine wichtige Rolle in meinem Leben.

Der weitere Bericht klammert die Umstände unserer Flucht zunächst aus. Nur so viel sei gesagt, dass wir über die Tschechoslowakei und Österreich nach Deutschland kamen. Die Grenzen waren dicht und überall kontrollierteb Amerikaner, Engländer, Franzosen und Russen die Grenze. Wir wurden nach Italien abgetrieben und kamen dann über Marseille in Frankreich bis nach Metz. Ziemlich unbehelligt, wie ich im Nachhinein feststellen muss. Über Trier und Malmedy gelangten wir in die Heimat. Die Amerikaner und Engländer hielten auch noch 1948 das Gebiet besetzt. Als ehemalige Kriegsgefangene war es uns ein Leichtes, neue Ausweispapiere zu bekommen.

Weil ich kein Vertrauen in meine Familie hatte, einigten wir uns auf unserer langen Flucht darauf, dass ich mich zunächst im Hintergrund halte, während meine Kameraden Informationen über die letzten Jahre einholen sollten. Sie begeisterten sich sofort. Kinder vor einem Abenteuer. Vielleicht gab es ja etwas zu holen. Ebenso jung wie ich auch, kannten sie keine Skrupel. Peter, Hans und Franz verdingten sich in Scherpenseel als Landarbeiter. Ich hielt mich wie abgesprochen im Hintergrund. Dazu nutzte ich die alte Ziegelei am Heiderand. Es kam so gut wie kein Mensch dort hin. Wie während der Zeit, die ich damals hier verbrachte, schuf ich mir in den Trümmern einen kleinen Raum. Er lag hinter einem durch Steine und Gestrüpp verborgenen Durchgang, den ich mir notdürftig einrichtete. Den Eingang verbaute ich noch etwas, sodass niemand eine Zuflucht dahinter vermutete. Ich denke nicht, dass je jemand auf die Idee gekommen wäre, dort einen Menschen zu suchen. Das Grundstück wurde von Brombeerranken überwuchert und war dadurch kaum zugänglich. Fast schon wieder ein Teil der Natur. Einmal in der Woche traf ich meine beiden Kameraden Peter und Franz. Sie versorgten mich mit Informationen und Nahrung. Hans ging inzwischen eigene Wege.

Mein Vater wurde in den letzten Kriegstagen tot in einem seiner Ställe aufgefunden. Er wurde erschlagen. Das kümmerte in dieser Zeit niemanden. Mein Onkel Klaus aus Marienberg übernahm den Hof. Ich wusste, es würde eine schwierige und zeitraubende Angelegenheit werden, mein Erbe zurückzubekommen. Genau wie mein Vater war die Familie hinter dem Geld her und äußerst brutal.

Meine geldgierige Verwandtschaft hatte so gut wie keinen Kontakt zur Nachbarschaft, stellten meine Spione fest. Über mich wurde nicht gesprochen. Kaum jemand konnte sich an mich erinnern und man hielt mich inzwischen für tot.

Endlich war es so weit. Ich wollte mich meinen Verwandten und im Dorf zeigen sowie den Hof meines Vaters in Besitz nehmen. Mir erschien es günstiger, meinen schon etwas längeren Aufenthalt in dieser Gegend zu verschleiern und so machte ich mich auf den Weg nach Aachen. Dort stieg ich in den Zug nach Palenberg. Unterwegs erzählte ich so vielen Fahrgästen wie möglich meine Geschichte von der Flucht aus der Gefangenschaft und wie sehr ich mich darauf freute, meinen Vater wiederzusehen. Eine Frau mittleren Alters sprach mich an. Frau Reinartz, wie ich später erfuhr.

»Du bist der Josef Klamm«, stellte sie fest. »Du hast dich verändert. Bist erwachsen geworden. Ich erkenne dich wieder. Du siehst deinem Vater ähnlich.«

Das fehlte mir noch. Mein Vater war ein grobschlächtiger Typ.

»Wie geht es meinem Vater? Wie sieht es in Scherpenseel aus?«

»Mein armer Junge. Dein Vater ist tot.« Sie sah mich mitfühlend an.

»Tot? Wieso? Er war doch gesund, als ich eingezogen wurde.« Meine Kameraden hatten mir von seinem Tod berichtet, doch ich durfte jetzt nicht zugeben, dass ich es wusste.

»Er ist unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Aber zu der Zeit … die Amis überrollten uns und wir hatten kaum Luft zum Atmen, interessierte es niemanden. Der Bruder deines Vaters … wie heißt er auch noch?«, angestrengt verzog sie das Gesicht, um plötzlich zu strahlen, »Klaus.«

Ich nickte bestätigend.

»Ja. Der hat euren Hof übernommen. Der Gerd, dein Cousin, bewirtschaftet ihn jetzt. Oh je«, unterbrach sie ihren Redefluss. »Der wird sich nicht freuen.«

Der Zug ließ Herzogenrath hinter sich und fuhr an der Wurm entlang, auf Palenberg zu. Hier musste ich aussteigen.

»Josef. Willst du mit uns fahren? Mein Mann holt mich mit der Karre ab.«

»Ich gehe lieber zu Fuß. Nach so langer Zeit sehe ich mir die Heimat an. Wer weiß, wann ich noch einmal dazu komme.«

»Das verstehe ich. Lass dich mal bei uns sehen.«

Ich konnte ihr schlecht auf die Nase binden, dass ich mich mit meinen Weggefährten zu einer letzten Absprache verabredet hatte.

Es war Hochsommer, Ende August. Die Luft flimmerte, als ich mich langsam den Berg nach Scherpenseel hoch kämpfte. In einem Tornister auf meinen Schultern trug ich meine Habseligkeiten. Kurz vor dem Ort begegnete ich Peter und Franz. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, blieben wir nur zu einem kurzen Gespräch stehen. Sie berichteten mir, dass das Dorf in Aufruhr war. Ein Kriegsheimkehrer. Frau Reinartz hatte ganze Arbeit geleistet.

Der Empfang war würdig und überwältigend. Viele Menschen schüttelten mir die Hände und fast jeder erkannte mich wieder. Dabei konnte ich mich an niemanden erinnern. Mein Vater hatte mich früh von der Schule genommen und in die Heide verfrachtet. Die Menge geleitete mich zu einer Häuserfront, vor der zwei grimmig dreinblickende Männer standen.

*

Heideleichen

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