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Eins

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»Kurt ... komm.« Der Halbstarke packte aufgeregt seinen Arm. »Komm mit!«

Kurt Hüffner wollte den Jungen zurechtweisen, ihn wenigstens beim Joggen in Ruhe zu lassen. Doch den bittenden Augen des behinderten Heranwachsenden widerstand er nicht. »Leo, was machst du hier? Wissen deine Eltern, dass du so weit von zu Hause weg bist?«

»Ich darf. Habe gefragt.« Er zeigte mit den schmutzigen Fingern nach hinten. »Kurt, da ist ein Kopf ohne Augen.« Der Körper des Jungen bebte vor Aufregung.

»Was erzählst du da? Wo?«

»Dahinten. Komm!«, er zerrte ihn den Weg hinunter.

Leo lebte als eines der letzten Originale im Ort. Vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und auf der geistigen Höhe eines vielleicht Siebenjährigen. Jeder im Dorf kannte ihn von klein an. Seinem Bewegungsdrang wusste niemand etwas entgegenzusetzen. Den Eltern gelang die Kontrolle nicht. Er strolchte überall herum. Der Halbstarke sah erstaunlich gut aus, mit den grünen Augen und dem tiefbraunen, von Wind und Wetter gegerbten, Gesicht. Das dunkle Haar klebte fettig am Kopf. Die ungelenke schlaksige Figur maß ungefähr einssiebzig.

Drei-, viermal in der Woche klingelte er im Dorf an den Häusern, an deren Bewohnern sein Herz besonders hing. In kurzen abgehackten Sätzen berichtete der Junge über seinen Tagesablauf.

»Dann lass uns mal sehen, Leo«, Kurt gab gottergeben nach und folgte dem Jungen, der nach wenigen Metern rechts ins Gebüsch ging. Leo zog ihn, mit der immer verschwitzten Hand, in das Gestrüpp. Nach zweihundert Metern blieb er stehen und zeigte auf den Boden.

Tatsächlich, da lag ein Schädel. Gelblich weiß, mit leeren Augenhöhlen, bot er einen schaurigen Anblick. Kurt beugte sich nach vorn. Ein flaues Gefühl in der Magengegend und Ekel stieg hoch. Ein Zustand, den er vor dem Jungen nicht zeigen wollte.

»Warum bist du gerade hierhergekommen?«, fragte er.

»Ein dicker Frosch. Ich bin hinterhergelaufen. Hier gefallen«, er zeigte auf den Totenschädel und sprach mit kieksenden Aussetzern. Typische Symptome des Stimmbruchs. »Hose kaputt. Gibt Ärger.«

Kurt scharrte mit dem Fuß die dünne Grasnarbe des Bodens beiseite, jeden Augenblick darauf gefasst, dass ihn der oder die Tote packte. »Scheiße.« Er zuckte zurück. Tatsächlich lagen da weitere Gebeine.

Was sollte er tun? Es war nicht so einfach. Wenn das jetzt kein historischer Fund aus der Steinzeit oder ähnliches war, besaß er die Arschkarte. Die beknackten Knochen lagen tatsächlich vor ihm. Sollte er sich den Ärger mit Polizei oder irgendwelchen Historikern antun? Der Junge war bei ihm. Also konnte er sich nicht einfach vom Acker machen. Er kratzte und stocherte mit einem Ast um die Knochen herum in der Walderde. Wie alt mochten die Gebeine sein? Vielleicht lag hier eine heidnische Begräbnisstätte mit Grabbeigaben? Dann sollte er wohl etwas finden, falls er tiefer in den Boden vordrang. Im Hintergrund grollte der Donner des nahenden Unwetters.

Die Gewitter der letzten Tage und der damit verbundene Regen hatten einen Teil der Böschung weggespült und das Skelett ans Tageslicht geholt. Wegen des Wetters fuhr er den Weg, den er sonst lief, mit dem Auto zum Parkplatz. An und für sich blöd. Nass wurde er so oder so. Ob im Feld oder im Wald. Fröstelnd zog er die angeblich wasserdichte Softshelljacke fester an den Körper.

Die Bemühungen zeigten Erfolg. Der Stock stieß auf Widerstand. Dort konnte alles und nichts liegen: ein Stein, ein Schatz oder noch ein Schädel. Mit spitzen Fingern räumte er die nasse sandige Erde beiseite und fühlte unter den Knochen einen schmierigen Gegenstand. Kurt zog erschrocken die Hand zurück. Eine weitere Leiche? Er würgte die bittere Galle hinunter. Mit dem Stock war nichts zu machen. Mittlerweile goss es in Kübeln.

Er kniete sich in den sandig morastigen Boden und steckte die Hand in die Matsche zwischen den Knochen. Er ertastete einen Griff, den die Finger umschlossen. In dem Augenblick, als er daran zog, schlug der Blitz, wenige hundert Meter entfernt, ein. Der nachfolgende gewaltige Donnerschlag ließ ihn fast ohnmächtig werden. Er suchte gehetzt die Umgebung ab. Langsam kam er wieder zur Ruhe. Unter großer Anstrengung löste er das rechteckige Etwas mit schmatzendem Geräusch. Eine glitschige Ledertasche! In das entstandene Loch lief Wasser und an den Rändern bröckelte der sandige Boden nach.

Wo war der Junge? Kurt sah sich um. Dahinten, an der Grenze des keimenden Rübenfeldes lief die schlaksige Gestalt in Richtung des Dorfs. Wahrscheinlich hatte Leo die Episode schon abgehakt. Kurt beneidete ihn und ignorierte die bange Ahnung, die Unheil versprach. Er säuberte die Hände im nassen Gras.

Na ja. Jetzt war nichts mehr zu machen. Er ging nachdenklich zum Auto und öffnete den Kofferraum, um die Schuhe zu wechseln.

Was trug er da in der Hand? Weshalb schleppte er die Tasche mit? Blöd. Wo blieben seine Gedanken? Was wollte er damit? Sollte er noch einmal zurückgehen? Nein. Er zuckte mit den Schultern. Kurt wühlte in den Plastiktüten, die für die Einkäufe dort vorrätig stapelten, und stopfte das Ding in eine hinein.

Dann suchte er das Smartphone. Er fand es unter den Bonbonpapieren in der Mittelkonsole. Hoffentlich erhielt er ein Netz. Hier im holländisch – deutschen Grenzgebiet wechselten die nationalen Betreiber laufend oder man bekam überhaupt keine Verbindung. Deutsches Netz – na, wer sagte es?

»Hallo. Ich habe ein Skelett gefunden.«

»Wer spricht? Wie ist Ihr Name?«, kam wie aus der Pistole geschossen die autoritäre Antwort.

»Hüffner. Ich bin hier auf dem Parkplatz der Teverener Heide. Von Grotenrath kommend«, gab er eingeschüchtert zurück, obwohl er ansonsten nicht bange war.

»Wo liegt die Leiche?«

»Keine Leiche. Ein Skelett«, stellte er richtig.

»Ein Gerippe, eine Leiche, das ist doch egal«, gab die Stimme gleichmütig zurück. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Die Kollegen werden gleich bei Ihnen sein.«

»Okay!« Da hatte er den Schlamassel. Hätte er nicht einfach nach Hause fahren können? Nein! Das kam davon, dass er die Nase überall hineinsteckte. Was soll´s? Er wurde aufgeregt.

Da schoss schon das blausilberne Polizeiauto auf den Parkplatz und kam mit blockierenden Rädern, kurz vor der Grillhütte, schlitternd zum Stehen. An die neue Farbe konnte er sich nicht gewöhnen. Polizei war grünweiß.

»Hallo. Ich bin Polizeihauptmeister Schneider und dies ist mein Kollege Möller. Sie haben eine Leiche gefunden?« Der Polizist stellte die Frage, während er agil aus dem Auto sprang. Sie sahen in den blauen Uniformen aus, wie von einem privaten Bewachungsunternehmen.

»Ein Skelett. Keine Leiche. Ich habe es Ihrem Kollegen am Telefon schon gesagt.«

»Ist auch egal«, gab Möller zurück. »Zeigen Sie uns, wo die Leiche liegt.«

Kurt trottete los, um nach einigen Metern zu stoppen. »Sie können mit dem PKW bis fast davor fahren.« Er wies den Heideweg hinunter. Nach wenigen Minuten standen sie vor der Böschung. »Dort oben. Etwa zweihundert Meter weiter rein.« Kurt zeigte zu dem Platz, an den ihn Leo vor annähernd einer halben Stunde schleppte.

»Ich gehe allein hinauf«, sagte Schneider. »Wegen eventueller Spuren«, bemerkte er fast entschuldigend. Nach kurzer Zeit kam er wieder herunter.

»Tatsächlich. Dort liegt ein Skelett. Verständige bitte die Kollegen von der Kripo«, sagte er zu Möller. »Hoffentlich gibt das keinen Ärger. Sie haben alles zertrampelt«, äußerte er vorwurfsvoll. »Was haben Sie eigentlich dort gesucht. Das ist doch Naturschutzgebiet. Hüffner sagten die von der Zentrale. Kommen Sie mit zum Fahrzeug.« Er tippte mit einem Finger gegen Kurts Oberarm. »Dort erfasse ich Ihre Personalien, dann dürfen Sie nach Hause. Sie werden ja nicht der Mörder sein. Ha ha …, im Affekt und bis auf die Knochen abgenagt. Die Kripo wird sich bei Ihnen melden.«

»Im Grunde habe ich das Skelett dort hinten nicht gefunden, sondern Leo«, bemerkte er zu dem Beamten, der nicht alle Tassen im Schrank zu haben schien.

»Und wo ist der?«

»Er ist gegangen.«

»Ja weiß der denn nicht, dass er auf uns warten musste?«

»Nein«, sagte Kurt kurz und lakonisch.

Eine halbe Stunde später und nach endlosen Fragen zu Leo fuhr Kurt zuhause vor. Er bewohnte einen Altbau in der Waldstraße. Das Haus lag verdeckt, von der Straße kaum einsehbar, im Hintergrund. Mächtige Obstbäume, deren ausladende Äste über das Dach strichen, begrenzten es. Ein Bauernhaus aus Ziegelsteinen, wie sie in der Gegend seit Jahrhunderten verwendet wurden. Wahrscheinlich so um neunzehnhundert gebaut. Unterlagen gab es auf dem Katasteramt nicht mehr und die Angaben der Alten im Dorf differierten um etwa zehn Jahre.

Zwei Reihen kleiner Fenster mit Sprossen blitzten aus dem Gemäuer heraus. Rechts von der Haustüre kletterte eine Rose bis zur Dachrinne empor. Im Vorhof stand eine Vielzahl unterschiedlicher Blumentöpfe, deren Pflanzen einen liebevoll gepflegten Eindruck machten.

Aus den bescheidenen engen Zimmern des Gebäudes wurden im Verlaufe der Zeit große helle freundliche Räume. Der Stall hinter dem Haus beherbergte die kleine Werkstatt und einige Kaninchen sowie Hühner. Die Idee der Selbstversorgung war schnell aufgegeben. Familienmitglieder schlachtete er nicht. Sie gehörten jetzt auf immer und ewig zu ihm. Die beiden Katzen nervten bei jeder Gelegenheit. Ständig miaute eines der Viecher auf der Suche nach Streicheleinheiten. Kurt überlegte, den Bestand um chinesische Laufenten zu erweitern. Die Schneckenplage in den letzten Jahren trieb ihn in den Wahnsinn, wenn wieder eine Gemüsepflanze abgenagt einging. Aufsammeln, mit einem Nagel totstechen oder salzen, fand er eklig. Aber die Enten waren eine Sache. In der weiteren Nachbarschaft liefen einige herum. Der Garten dort sah aus, wie ein Golfplatz mit tausend Löchern. Das musste er nicht haben.

Kurt saß müde und ausgelaugt am Küchentisch. Die Haut kribbelte und die Gedanken kreisten. Der Donnerschlag … war das ein Zeichen? Die Sache ging ihm mehr an die Nieren, als er sich eingestand. Er ließ Revue passieren, was geschehen war. Ein Skelett? Wie lange musste ein Mensch unter der Erde liegen, bis nur noch die Knochen übrig blieben? Lag ein Verbrechen vor? Er wäre liebend gerne an Ort und Stelle gewesen, um mitzuerleben, was im Moment dort geschah.

Aus dem Fenster sah Kurt auf den Heiderand. Ein dunkler Strich in der Landschaft. Davor kämpfte das Wintergetreide gegen die Wasserfluten. Ende April. Das Wetter machte dem Monat alle Ehre. Schwarz rückte eine Wolkenwand aus den Niederlanden, wahrscheinlich direkt von der Nordsee, heran. In dieser Gegend kam das schlechte Wetter immer aus Holland.

Kurt fand keine Ruhe. Die Gedanken kreisten und da war sie wieder, die Ahnung … die ihn vorhin beim Anblick des Totenschädels beschlich. Er wuchtete seine einsneunzig vom Stuhl und trat vor das Fenster. Mit den breiten Schultern, den schmalen Hüften und vor allem dem markanten Gesicht machte er eine eindrucksvolle Figur. Mitte dreißig, fast siebenunddreißig. Seine jungenhafte Unbekümmertheit trat hinter der tiefen Ernsthaftigkeit, die ihm inne lag, zurück. Genauso sorglos, wie er oft wirkte, kleidete er sich: Jeans und Shirt. Wenn es kalt wurde, schon einmal einen Parka. Das mittelblonde halblange Haar stand wirr vorm Kopf.

Das Hochmoor kannte er seit der Kindheit. Seine Wurzeln lagen in dieser Gegend, und zwar im Feindesland … im benachbarten Teveren. Gern erinnerte er sich der Schlachten, die sie sich als Jugendliche auf den Rübenfeldern lieferten. Die Knollen flogen nur so. Die Kinderjahre wurden durch die unheimlichen Geschichten, die das Hochmoor schrieb, geprägt. Viele der alten Leute besaßen das Zweite Gesicht, wie es prosaisch hieß. Er wusste, was es bedeutete, konnte sich jedoch nichts darunter vorstellen. Dazu fehlte ihm die Fantasie. War es dieser Instinkt, der in den Gedanken nach vorn zu dringen suchte?

Vielleich sollte er Griet anrufen? Vor Jahresfrist war die niederländische Anthropologin in aller Munde. Sie barg aus einem Keltengrab eine silberne Scheibe mit unbekannten Schriftzeichen, die sie spektakulär entzifferte. Die Wissenschaftlerin blieb im Dorf hängen. Sie lebte mit Paul Grebner zusammen, mit dem ihn lockere Freundschaft verband.

Ein Auto näherte sich. In diesem Dorf und bei diesem Wetter, ungewöhnlich. Neugierig ging er zum Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster. Ein dunkler Mittelklassewagen. Unbekannte Marke. Ihm entstieg eine Frau in einem Kostüm. Interessiert musterte er sie. Knappe einssiebzig groß, brünettes halblanges Haar und sportliche Figur. Sie strahlte Eleganz aus. Nicht die Art Frau, die ihn reizte. Doch, wie sie dort stand und sich orientierte, konnte er ein Interesse keinesfalls bestreiten. Sie kam auf das Haus zu und entriegelte das Törchen zum Hof. Wer mochte sie sein? Eine Vertreterin? Polizei? Bestimmt nicht. Dazu war sie auf keinen Fall der Typ.

»Ja.« Er öffnete die Tür, während der Glockenschlag verklang.

»Hauptkommissarin Plum, Mordkommission Aachen«, sie hielt ihm einen Ausweis entgegen, den er genau musterte. »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie lächelnd.

»Doch, doch. Hüffner«, stellte er sich vor. Natürlich, mit rotem Kopf, weil er ein Geburtsdatum suchte. Also doch Polizei. Wie man sich täuschen konnte. »Sie kommen wegen der Sache in der Heide?«

»Richtig«, bestätigte sie. »Darf ich hereinkommen?«

»Natürlich«, er machte eine Handbewegung ins Haus.

Die Beamtin trat ein und ließ den Blick aufmerksam kreisen. Sie erfasste die geschmackvolle Renovierung. Trotz der Veränderungen, die die Räume sicherlich erfahren hatten, gaben sie gemütliche Altbauatmosphäre wieder. Die außergewöhnliche Höhe der Decken wurde durch Stuckleisten betont. Ein, wegen des Alters fast schwarzer Schrank, groß und mächtig, fing ihren Blick ein. Der Korpus wies ungewöhnliche Schnitzereien auf, die sie vorher noch nie gesehen hatte. Die Polizistin ließ ihre Augen durch den großen Raum wandern, dessen unterschiedliche Nutzung von der Möblierung bestimmt wurde. Der Parterrebereich bestand aus einem riesigen Zimmer. Kurt Hüffner führte sie zum hinteren Teil. Der mächtige dunkle, fast schwarze Tisch beherrschte das Bild. Offenkundig das gleiche ungewöhnliche Holz wie der Schrank, dachte sie. Rechts sah sie in einen modernen Küchenbereich, auf dessen Arbeitsplatte Kartoffel- und Zwiebelschalen lagen. Ansonsten blitzte alles.

Ganz anders als bei mir, dachte sie und bemerkte laut, »Gemütlich haben Sie es hier.«

»Hat auch viel Zeit gekostet«, gab er zurück. »Nehmen Sie Platz«, und zeigte in Richtung des Esszimmertisches. »Kaffee, Tee?« Sie schritt fast lautlos durch das Zimmer. Kurt riskierte einen Blick nach unten, auf schmuddelige, ehemals weiße Sportschuhe. So viel zur Eleganz dachte er kritisch an den ersten Eindruck.

»Ja gern«, sagte sie in einer mittleren Stimmlage, die einschmeicheln konnte. Ihr Blick wanderte weiter und bemerkte die Treppe. Beim Betreten des Raumes verbarg rechts eine Wand den Aufgang. Die Wände zierten einige Bilder. Sie zeigten immer wieder den gleichen Bereich einer Heidelandschaft zu den unterschiedlichen Jahreszeiten in allen Farbtönen. Eine gewaltige Rotbuche stand im Vordergrund, durch deren Ästegewirr die Sonne schien. Je nach Saison war das Tagesgestirn nur als Schemen zwischen den Blättern, denen es einen goldenen Glanz gab, zu erkennen. Rundherum das typische harte Heidegras mit einer weit gezogenen Wasserfläche im Hintergrund.

»Milch? Zucker?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Meine künstlerische Phase.« Er nickte zu den Gemälden und stellte eine Tasse Kaffee auf den Tisch. Dann saß er ihr gegenüber und wartete ab.

»Eigentlich wollte ich Ihnen berichten. Ich dachte, Sie besitzen ein Recht darauf, weil Sie die Fundstelle ausgemacht haben«, begann sie.

»Und uneigentlich?«, unterbrach er sie.

»Sie natürlich befragen«, antwortete sie und lehnte entspannt zurück. Dabei kräuselte sich ihr Mund, der für seine Verhältnisse etwas zu blass war. Vielleicht lag es auch am Wetter, denn blutlos wirkte sie keineswegs. Ihre braunen, dicht bewimperten Augen musterten ihn aus einem ungewöhnlichen Gesicht. Nicht klassisch schön, jedoch ungemein anziehend mit leichten Grübchen in den Wangen, die davon zeugten, dass sie gern lachte. »In der Nähe des Skeletts, das Sie gefunden haben, liegen die Überreste von wenigstens zwei weiteren Toten. Überschlägig seit mindestens dreißig Jahren. Die Rechtsmedizin in Köln wird einen genaueren Zeitpunkt bestimmen. Unsere Techniker glauben nicht daran, Spuren oder verwertbare Zeichen zu finden.«

»Ich habe es Ihren Kollegen schon gesagt. Leo hat die Leiche gefunden und mich hinzu geholt«, sagte er leicht gereizt.

»Wer und wo ist Leo?« Sie bemerkte seinen Unmut.

»Leo ist ein geistig behinderter Junge und wohnt irgendwo im Grenzweg. Er treibt sich überall und nirgends herum und nervt die Leute. Heute erwischte er mich und was habe ich davon? Leichen.«

»Wenn er behindert ist, halte ich mich doch besser an Sie oder nicht. Er wird kaum etwas Verwertbares sagen, wenn ich Sie richtig verstehe.«

»Ist schon gut«, gab er zugänglicher zurück. »Zeitlich also, Ende der Siebziger. Da gibt es nichts, woran ich mich erinnern könnte«, knüpfte er zu dem an, was sie vorher sagte.

»Kommt hin«, sagte sie. Er sah sie überrascht an, bis er bemerkte, dass er seine Gedanken laut äußerte. An und für sich dachte er lediglich nach.

»Was geschieht jetzt?«

»Unsere Spurensicherung ist bei der Arbeit. Sie haben das Gelände großräumig abgesperrt. Wir mussten Zelte aufsetzen. Bei diesem Wetter ist es fast unmöglich, draußen zu arbeiten. Ihre Personalien haben wir. Was machen Sie beruflich?« Sie warf einen Rundumblick durch den Bereich, in dem sie sich aufhielten.

»Hartz IV«, antwortete er. Dabei bildeten sich kleine Lachfältchen um die Augen.

»Echt?«, fragte sie erstaunt. »Und Sie können das hier alles …« Sie unterbrach sich. »Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Richtig«, gab er zu. »Maschinenbau- und Physikstudium und jetzt bei einer Aachener Firma und der RWTH beschäftigt. Das Geschäft boomt, trotz Finanzkrise und Kreditklemme.«

»Na gut«, sagte sie. »Ich habe meinen Job erledigt. Bin dann wieder auf dem Abflug.« Sie erhob sich und gewährte ihm einen Blick auf die perfekt geformten Beine und die schmuddeligen Sportschuhe. »Ich versuche, Sie auf dem Laufenden zu halten. Die Untersuchungen dauern bestimmt noch länger. Wenn das Wetter allzu bescheiden ist, wärme ich mich bei Ihnen auf.«

»Gern. Wann immer Sie wollen.«

Er brachte sie zur Türe, in der sie stehen blieb und nach draußen auf den Hof wies.

»Sie machen sich viel Arbeit.« Sie zeigte auf die Pflanzentöpfe.

»Ich bin verliebt in dieses Haus und denke, es hat die Pflege verdient«, gab er unbefangen zurück.

Er beobachtete, wie sie langsam losfuhr. Sollte das alles gewesen sein?

*

Heideleichen

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