Читать книгу Der stumme Raum - Herbjørg Wassmo - Страница 11
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ОглавлениеIngrid trug ihren guten Mantel. Das heißt, den einzigen, in dem sie sich vor den Leuten blicken lassen konnte. Das blau und grün karierte Kopftuch war für diese Gelegenheit gewaschen und gebügelt worden. Sie hatte sich auch die Haare gewaschen, obwohl sie für niemanden glänzten. Unter der grellen Lampe am Kai sah ihr Gesicht krank und bläulich aus. Die Männer schielten zu ihr hinüber. Aber sie sagten nichts. Nickten nur, weil sie sich nicht ausgestoßen fühlen sollte.
Tora stand wie ein Schatten hinter der Mutter. Sie trug einen kleinen braunen Pappkoffer, der leicht zu sein schien. Dann legte der Küstendampfer am Kai an und spuckte eine Handvoll Leute auf die zersplitterten, vom Wasser angefressenen Kaiplanken. Die Stimmen, die Kisten und Fässer rollten bedächtig über die Reling, und der schwarze Schiffsrumpf schaukelte still vor sich hin, während alles wie gewohnt ablief.
Der Tag war klar, das Meer ruhig, die Möwen friedlich. Aber die Kälte biss. Der Verladekran jammerte böse, und man hörte von weitem das Knirschen der Füße auf dem Schnee. Ingrid wollte in die Stadt, und alle wussten warum.
Als die Fähre die Landzunge umrundete, um in die Bucht hinauszufahren, und in der scharfen Kurve leicht schwankte, stand Tora am Strand und winkte. Aber es war niemand an Deck. Und als das Schiff mit dem pechschwarzen Rumpf sein Aussehen veränderte und als grauschwarzes Gespenst in den Frostdunst hineinglitt und an der Tausendheimbrücke vorbei um die Landspitze herumfuhr, stand Tora mit erstarrten Händen und wehenden Zöpfen auf dem Hügel hinter dem Tausendheim. Dort lag die alte Fahnenstange auf dem Boden und ließ sich von den Möwen vollkleckern, während die Farbe abplatzte und das Moos wuchs.
Tora konnte nicht erkennen, ob jemand an Deck war, die Entfernung war zu groß.
Sie war so gerannt, dass sie ganz außer Atem war, aber die Kälte biss nicht mehr. Nur innerlich fror sie. Die Mutter hatte ihr zuerst nicht gesagt, was sie in der Stadt wollte. Sie hatte seinen Namen nicht erwähnt. Und Tora, die sah, dass die Mutter sich quälte, hatte stundenlang überlegt, wie sie ihr helfen könnte. Schließlich hatte sie gesagt: »Wirst du Kleider für ihn mitnehmen?«
»Nein.«
»Aber vielleicht etwas Brot?«
»Nein.«
»Er bekommt wohl alles, was er braucht?«
»Ja. Pass auf, dass dir nichts passiert, wenn du auf der Abkürzung nach Bekkejordet über die Eisbuckel gehst …«
Nun wusste die Mutter also, dass sie es wusste. Kein Wort wurde noch über Ingrids Vorhaben in der Stadt gesprochen.
Sie wollte am dritten Tag zurückkommen. Schneller war es nicht möglich. Das machte aber nichts, weil es in diesen Tagen in der Frosterei keine Arbeit gab.
Der Ofen in der leeren Küche war ausgebrannt. Es war ganz dunkel geworden. Die Geräusche im Haus waren ein gewisser Trost. Elisif kreischte da oben. Sowohl sie als auch die Mannakörner auf der Kommode funktionierten wie in alten Tagen. Elisif hatte eine noch ebenso scharfe Stimme wie früher, aber sie selbst war nicht mehr so tüchtig. Sol war schweigsamer und tüchtiger denn je. Tora suchte das Nötigste zusammen. Schulranzen und Kleider. Dann lief sie rasch und fröhlich den Weg hinauf nach Bekkejordet. Nur einmal – als Simons und Rakels Stimmen zu ihr in die Dachkammer mit dem weißen Bett drangen – überkam sie eine Art Trauer um die Mutter. Die warmen, vertrauten Stimmen aus dem Schlafzimmer da unten waren wie ein Hohn. Auch für Tora.
Aber es wurde still. Die ganze Welt lag ruhig in der Nacht. Die Kälte knackte im Haus. Ein kleiner mürrischer, schläfriger Laut.