Читать книгу Der stumme Raum - Herbjørg Wassmo - Страница 12

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Die Luft war zum Schneiden dick, es roch nach nassen Kleidern, stinkenden Fellstiefeln und Schweiß. Die harten Holzbänke waren absolut überfüllt. Manche versuchten mit wechselndem Glück, den Nachbarn wegzustoßen, um selbst etwas mehr Platz zu haben. Es gab Verwirrung, Unordnung und jede Menge Verwünschungen.

Halbwüchsige Mädchen und Jungen saßen ganz hinten. Eng zusammengedrängt – endlich, und ohne dass ihnen jemand einen Vorwurf machen konnte, saßen sie so dicht, als ob sie auf der ganzen Bankreihe nur ein einziger Mensch wären. Sie hingen in einer mehr oder minder glücklichen Symbiose aufeinander, je nachdem, mit wem sie zusammengedrückt wurden.

Mai aus Malø hatte sie zwei Wochen lang von den Plakaten her angesehen. Jetzt dürsteten sie nach Sinnengenuss und Spannung. Aber der blasse Filmvorführer konnte den Apparat nicht in Gang bringen. Er behauptete, dass er auf dem Transport zu kalt geworden sei. Aber er bekam nur ein vielstimmiges »Uuuuuuuu« zur Antwort. Das bedeutete, dass ihn das Schlimmste erwartete, wenn es ihm nicht gelang, die Dame auf die Leinwand zu bannen.

Tora und Sol, Jørgen und einer der Jungen aus Været hörten das Spektakel hinter sich. Jørgen schnäuzte sich in die Hand und machte anschließend Annäherungsversuche. Aber Sol hielt seine Hand hinten auf dem Rücken fest. Die vier hatten eine Stunde im Wind und im nasskalten Nebel gestanden, bevor sie eingelassen wurden, und sich Plätze in der zweiten Reihe gesichert – genau in der Mitte.

Es war himmlisch. Sie widerstanden dem Druck von beiden Seiten mit zusammengebissenen Zähnen und auf dem Sitz verkeilten Hinterteilen. Die Bank sackte gefährlich durch, weil die Stütze in der Mitte abgebrochen war. Aber sie regten sich nicht auf. Sie blieben ruhig und gelassen. Die Bank hatte ja bisher gehalten. Jørgen und Sol saßen außen und drückten die beiden anderen zusammen.

Tora spürte den harten Jungenkörper an ihrem. Ein Menschengestell, das mit Kleidern umhüllt war. Sie war nie einem Menschen so nahe gewesen, soweit sie sich erinnern konnte. Nicht so! »Verdammt, wie die da hinten sich prügeln.« Jørgen war sichtlich irritiert. Sicher auch, weil er selbst gern mitgemacht hätte.

Ein unerwarteter Ellbogen in die Seite hätte ihn beinahe auf den Boden befördert, und er bemühte sich wie wild, wieder in voller Breite in die Bank hineinzurutschen. Die Rache lag in gefährlich greifbarer Nähe.

Es gluckerte und rann draußen vor den Fenstern. Die Eiskristalle klebten an den Scheiben wie eine böse, eiskalte Warnung. Innen waren die Fenster beschlagen. Ab und zu lief etwas an den Scheiben hinunter. Ein einzelner dicker Tropfen hier und da, der am Glas herunterrann und den Blick für die Welt da draußen freimachte. Der Atem stand vor den erwartungsvollen Gesichtern wie Rauch, und die feuchte Luft ging durch Mark und Bein, ob man schon von vorher nass war oder nicht.

Sobald jemand durch die Eingangstür kam, stießen die frische, nasse Luft und der warme, feuchte Dampf aufeinander – und wurden zu einer jähzornig grauen Wolke. Die Wolke machte ein paar Drehungen in der Türöffnung, bevor sie nach draußen in die Dunkelheit verschwand. Endlich hörte man den Filmapparat surren. Kein Laut war mehr zu vernehmen außer diesem Surren.

Friede und Eintracht und atmende, halboffene Münder. Das Bild auf der Leinwand sah aus wie fliegende Reiskörner. Dann sammelten die Reiskörner sich gleichsam zu Feldern, ordneten sich wie durch ein Wunder von selbst. Jemand schaltete das Licht aus und man war an einem anderen Ort. Der Traum flimmerte auf das graue, nasse, vielköpfige Tier herab. Der Traum von einer anderen Welt, wo alles einen Perlenschimmer hatte und wo Freude und Melancholie herrschten. Wo die wahre Liebe beim Namen genannt wurde und nicht nur eine lichtscheue Affäre in irgendeinem sommerlichen Gebüsch war. In der dampfenden, feuchten Dunkelheit zitterte der Staub nervös im Lichtkegel des Apparates.

Wenn der Filmvorführer zwischendurch einmal von seinem braunen Holzstuhl zu dem Apparat ging, knarrten seine Schuhe ein wenig. Die am nächsten saßen, hörten es und fauchten leise und murrend: »Pst! Ruhe!« Es klang so, als ob ein Untier, ein Raubtier durch die Zähne schnaubte, bevor es angriff. Sie wollten nicht gestört werden, sie sammelten sich und brauchten ihre volle Konzentration. Tora vergaß, dass sie in dem ekelhaften Jugendheim saß, in das die Mutter nie mehr einen Fuß gesetzt hatte seit damals … Sie vergaß alle Weihnachtsfeste und die Feiern zum Nationalfeiertag, an denen sie nicht teilgenommen hatte, weil die Mutter sich immer krank fühlte, wenn im »Haus« etwas los war.

Das hier war besser, als Tagebücher auf dem Dachboden zu schreiben. Besser als alles! Es kribbelte leicht auf der Haut, ganz außen. So weit außen, dass sie Angst hatte, der Junge aus Været könnte es merken. Es begann dort, wofür es keine Namen gab außer den hässlichen, die auf die Klowand geschrieben wurden, und breitete sich nach unten über die Schenkel aus. Zog sich so schön im Bauch zusammen. Ganz innen. Wo sie gar nicht wusste, was dort war. Der Atem des Jungen aus Været strich an ihrem Ohr vorbei, als er den Kopf ein wenig zur Seite drehte, weil jemand zur Tür ging. Es kitzelte, als ob sie sich eine Katze an die Halsgrube hielte. Ihre Hände und ihr Körper waren völlig klamm. Sie hatte Rakel gefragt, ob sie ins »Haus« zum Kino gehen dürfe. Eigentlich hatte sie ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil sie erleichtert darüber war, dass die Mutter fort war und sie sie nicht zu fragen brauchte. Rakel gab ihr das Geld fürs Kino, und Tora wusste, dass sie es der Mutter gegenüber nicht erwähnen würde. Sie hatten es nicht so verabredet. Trotzdem wusste Tora, dass es so war.

Mai aus Malø bekam keine Briefe von ihrem Liebsten, der zur See fuhr, weil der Briefträger Mai selbst haben wollte und die Briefe versteckte. Tora wurde so zornig auf das große Gesicht des Posthalters da vorne, dass sie sich in den Arm kniff, und Sol packte den Jungen aus Været am Arm, bis die ganze Bank wackelte, und sie waren glücklich und alles war so traurig.

Tora konnte irgendwo in der Dunkelheit einen winzig kleinen, unterdrückten Schluchzer hören. Und sie vernahm rund um sich herum ein heißes Keuchen in der schwülen, gespannten Stille. Nur der eine oder andere »Teufelsbraten« scharrte mit den Stiefeln und fühlte sich in der Dunkelheit sicher.

Aber nachher, nach dem hellen Licht und dem Suchen nach Handschuhen und Mützen, nach dem Gedränge am Ausgang, da atmete der Filmvorführer erleichtert auf und packte das Liebesabenteuer ein, während er eine selbstgedrehte Zigarette rauchte und sich überlegte, ob der Apparat am nächsten Ort auch wieder streiken würde. Er trug eine zerknitterte, abgewetzte Hose. Sie war mit ihm die ganze Woche durch dick und dünn gegangen. Er hatte sie in den verschiedenen Unterkünften, mit denen er vorliebnehmen musste, unter das Laken gelegt. Trotzdem sah sie traurig aus und hatte unten am Saum Schmutzflecke. Jede Nacht an einem anderen Ort. Er tröpfelte einige Tropfen Romantik zwischen die Steine am Strand. Er ließ die Rosen im Nebel aufblühen. Selbst im dunkelsten Adventswinter war Sommer. Dort, wo er den Apparat in Gang brachte. In einem Ort waren sie einmal auf ihn losgegangen, weil er das nicht geschafft hatte. Eine Bande aus halbwüchsigem Pöbel. Der Schweiß war ihm ausgebrochen, er hatte sich gewehrt, sogar angeboten, ihnen das Geld zurückzugeben. Aber sie wollten kein Geld – sie wollten Kino. Er hatte in dem modrigen Jugendheim gestanden und gespürt, wie ihn die Angst überkam. Denn die Tour musste eingehalten werden, und der Apparat ging nicht. Aber heute Abend … Heute Abend war er gegangen. Der zerfurchte, schmächtige Mann richtete sich auf und legte Mai aus Malø in die Blechdose. Der Film war ebenso verbraucht und verknittert wie er selbst. Obwohl er erst knapp vierzig war. Aber er brachte dennoch große Geheimnisse, große Erwartungen zu den Fjorden. Brachte Schlösser und Parks, die Unsterblichkeit der Liebe und des Menschengeistes, Irrwege in deutlichem Schwarz-Weiß. Alles zusammen auf die abgenutzten Filme gebannt. Jede einzige kleine Szene genau abgemessen, mit winzig kleinen Kerben an den Seiten. Kerben, die die Bewegung erst ermöglichten. Den ganzen Traum. Der die Seelen weit höher hob als irgendein Prophet oder Erweckungsprediger. Denn das Publikum war heißblütig und jung und mittleren Alters und alt – und jede und jeder hatte ein Meer von Träumen unter dem verwaschenen Hemd oder dem gestopften Pullover. Ein kleiner Anstoß war alles, was sie brauchten, um durch die Perlenpforte zu schlüpfen. Und der Filmvorführer gab ihnen Manna statt trocken Brot – und er gab ihnen die Herrlichkeit der Erde statt gekochtem oder gebratenem Fisch mit Kartoffeln. Er vertauschte die nicht gestrichene Küchenecke und die Hausaufgaben, die Bottiche voll beköderten Angel-Langleinen und die vereiterten Finger mit dem Traumwein, von denen er ihnen reichlich zu trinken gab.

Sie trotteten in der Dunkelheit nach Hause – grüppchenweise. Zwei oder drei oder auch mehr. Nur der eine oder andere einsame Wolf spielte die gleiche Rolle wie der verhasste Posthalter in dem Film und ging allein, während er unnötigerweise seine Stiefel verschliss, indem er alle Steine wegschubste, die auf dem Weg lagen. Denn so ist die Gerechtigkeit, hoch oben in den Fjorden im Norden wie auch sonst auf der Welt. Die Einsamkeit ist nie so groß wie dann, wenn der Mensch einen Traum gesehen hat.

Der Vorführer blieb noch eine Weile mit seiner Zigarette sitzen, nachdem schon alles gepackt und startbereit war. Dann erhob er sich. Langsam. Und schlich den Weg am Strand entlang zum Tausendheim und zur Tür der Kiosk-Jenny. Dort fand er den Traum, den er brauchte. Er bekam frisch gebratene Fischfrikadellen und Kaffee und saß in langer weißer Unterhose auf der Couch, weil Jenny den schlimmsten Schmutz von der Hose abrieb und sie dämpfte.

Für einige konnte der Himmel auch im Tausendheim sein. Die letzten Vorhänge wurden vorgezogen. Manche sandten einsame Signale hinaus in die Dunkelheit. Der Regen fiel auf Gerechte und Ungerechte und auf die zu Hause gebliebenen Schafe des Pastors. Sie standen dicht gedrängt bei ihrem Stall. Es blinkte plötzlich in einigen Schafsaugen unter der grellen Außenlampe.

Der stumme Raum

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