Читать книгу Der stumme Raum - Herbjørg Wassmo - Страница 5

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Es hämmerte! Hämmerte und hämmerte. Das Herz war ein Ungeheuer, das sie verschlang.

Sie versuchte sich aufzusetzen. Wollte das Kissen hinter den Rücken stopfen, um aufrecht sitzen zu können. Aber sie fand kein Kissen. Luft! Sie beugte sich zum Kopfende des Bettes zurück, um besser atmen zu können.

Sie glaubte, in der Dachstube von Bekkejordet zu liegen, bei Tante Rakel und Onkel Simon. In dem weißen Bett. Mit der rosa Nachttischlampe daneben. Bestimmt. Sie erkannte das alles ja wieder. Aber nein …

Sie riss den Mund weit auf. Sie keuchte. Es half ein wenig. Seltsam, wie unruhig die rosa Nachttischlampe an diesem Abend brannte. Sie flackerte wie das Nordlicht – oder …

Wo war sie jetzt? Das Gesicht und der Hals. Schweiß. Scharfer, stickiger Geruch. Dann war es doch nicht Bekkejordet. Auch nicht die Nachttischlampe. Es war die Truhe. Die Truhe an der Wand von der Tobiashütte. Sie war in die Truhe geglitten. Und dort hinten auf der Tür war sein Gesicht. Es wuchs ihr entgegen. Sickerte in ihr klopfendes Herz hinein. Wurde größer und größer. Sie spürte, dass sie nahe daran war aufzugeben. Einfach aufzugeben. Aber nein, das durfte sie nicht.

Dann war er also tot? Ja! Sie wippten ihn mit der Tür, die sie aus den Angeln gehoben hatten, auf und nieder und versuchten ihn ins Leben zurückzuholen. Versuchten das Salzwasser aus ihm herauszupressen. Aber sie schafften es nicht! Niemand schaffte das. Denn Tora hatte ihn in den Tangbüscheln gelassen. Sie hatte ihn ertrinken lassen. Sie würde niemals mehr im Meer baden. Wenn sie nur Luft bekäme. »Lieber Gott, ich hatte doch nur die Strümpfe an, das weißt du vielleicht noch. Es ging so langsam … deshalb konnte ich erst dort sein, als …«

Er hatte ein Gesicht bekommen. Es leuchtete ihr blau entgegen, mit alten dunklen Bartstoppeln. Die Augen waren geschlossen und doch offen. Sie sah deutlich die großen weißen Zähne zwischen den halboffenen bläulichen Lippen. Er war also tot! Jetzt stand sie ganz oben auf dem Gerüst von Onkel Simons Baustelle. Der Wind strich über ihre Haut. Über alles. Und die Stiefel fielen und fielen. Fielen sie wirklich? Nein, sie selbst fiel. Sie fiel in den Regenbogen, in die Flötentöne, in das Feuer. Aber er war tot.

War es nicht so, dass die Menschen, wenn sie jemanden sterben sahen, das Böse abschütteln konnten, das sich zwischen ihnen abgespielt hatte? Dann konnte er doch nicht tot sein!

Endlich konnte sie sein Gesicht ansehen, ohne sich abzuwenden. Es war ein ganz normales Männergesicht, wie sie es in Været jeden Tag sah. Eines, wie es alle Männer hatten. Ein ganz gewöhnliches – man brauchte sich davor nicht in Sicherheit zu bringen. Und endlich bekam sie wieder Luft. Langsam beruhigte sich ihr Herz. Alles versank in einer wirbelnden nebligen Dunkelheit.

Sie kam am Küchenschrank wieder zu sich. Die Mutter hielt ihr einen nassen Lappen ans Gesicht. Die Übelkeit war nicht schlimm. Die erlebte sie nicht zum ersten Mal. Sie nahm Mutters Hand und hielt sie fest. Sie spürte, dass viele Wörter im Raum hingen, die keine ausgesprochen hatte. Die Dunkelheit stand in dem offenen Fenster wie eine Wand. Es zog wohltuend. Kühl. Frisch.

Die Mutter war blass, aber nicht ratlos. Es gab etwas für sie zu tun. Sie war schon mit schwierigeren Dingen fertiggeworden als mit einer Ohnmacht.

Es war an dem Tag, als Henrik Toste abgeholt und wegen Brandstiftung in Simon Bekkejordets Fischereibetrieb und den Fischerhütten ins Gefängnis gebracht worden war. Es war an dem Tag, als Tora zu Ingrid gesagt hatte, dass jetzt wohl die Preiselbeeren oben am Veten reif seien.

Jetzt brannte es nicht, weder in Simons Fischerhütten noch in der Dachstube von Bekkejordet, wohl aber an dem alten Küchenschrank, an den Tora sich lehnte. Rund um die Griffe der Schranktüren sah man keine Farbe mehr. Denn die Mutter fand abgebeizte Farbe und nacktes Holz besser als alten Schmutz.

Erst jetzt begriff Tora, was geschehen war. Die Wirklichkeit war wie durch eine Explosion aus den Fugen gerissen worden. Erst nach einer halben Stunde sagte sie endlich etwas. Ingrid blieb ganz ruhig und machte sich an allem Möglichen zu schaffen.

Dreimal holte sie frisches kaltes Wasser aus der Leitung und gab der Tochter zu trinken, ohne dass diese darum gebeten hätte. Gegen sechs Uhr machte sie sich für die Abendschicht in der Fischfabrik fertig. Suchte in aller Ruhe ihre Sachen zusammen. Ihre Stimme war wie immer, als sie Tora bat, so lange liegen zu bleiben, bis sie zurückkäme. Und Tora nickte. Sie hatte Farbe bekommen. Aber Ingrid beunruhigte diese Farbe. Sie passte gar nicht zu Tora. Vielleicht sollte sie doch den Arzt holen? Ob sie in der Fabrik Bescheid sagte, dass sie heute Abend eine Aushilfe für sie kommen lassen mussten? Aber nein. Nicht heute Abend. Sie musste da durch. Da half gar nichts. Tora musste allein zurechtkommen. Sie war zäh.

»Haste etwa Fieber?«

»Fieber? Wieso das denn?« Toras Stimme war matt, aber wiederum auch nicht so, dass man auf eine ernstliche Erkrankung hätte schließen können.

»Nein, denn sonst bleib ich lieber zu Hause.«

»Nein, ich hab kein Fieber.«

Tora hatte verstanden.

Elisif, die unter dem Dach wohnte, hatte Sol mit einem Zettel zu Ingrid hinuntergeschickt. Darauf stand, dass Ingrid, falls sie geistlichen Trost brauche, um sechs Uhr an diesem Abend im Gebetshaus zusammen mit den anderen das Knie beugen könne. Ingrid antwortete nicht. Sondern ging zur Abendschicht.

Unten im Dorf beeilte sie sich so sehr, dass ihr der Schweiß ausbrach. Aber es gab keinen anderen Ort, nach dem sie sich weniger gesehnt hätte. Sie band sich die weiße Schürze und das Kopftuch um. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie sich an den Tisch mit den Schachteln und dem Cellophan setzte. Sowie die drei anderen Frauen auf ihrem Platz saßen, richteten sie ihre Augen auf Ingrid. Dann kamen die Männer. Auch sie hatten Augen. Ingrid blickte nicht auf. Wartete nur. Starrte auf die Stahlplatte. Ihr Gesicht war wie eine Maske.

Hätte sie aufgeschaut – dann hätte sie vielleicht so manchen Blick eingefangen, der weder feindselig noch schadenfroh war. Aber Ingrid saß wie in einer Kapsel.

Sie saß vornübergebeugt und wartete. Dann kam der Fisch. Und sie legte ein unglaubliches Tempo vor und schuftete wie ein Teufel. Bereits in den ersten fünf Minuten wurde ihr gereizt mitgeteilt, dass sie ihr Tempo herunterschrauben solle. Da saß eine junge ungeübte Frau an Gretes Stelle. Anlaug. Aber Ingrid dachte: Soll die doch sehn, wie sie zurechtkommt. Soll sich die Zähne ausbeißen. Soll lernen, sich nach den Gesetzen in Været zu richten.

Nach fünf Stunden Schicht holte Ingrid zusammen mit den drei anderen ihren Mantel. Hansine schwankte ein wenig, als sie sich die Gummistiefel anzog. Sie war ganz blass. »Biste krank?«, fragte Anlaug. Ingrid merkte, dass Frieda sie schief ansah. Sie band ganz schnell die Schürze ab und drehte mit steifen Fingern den Deckel der Thermosflasche zu. Es lag etwas in der Luft.

»Nein, nicht grad krank. Nur müde.« Hansine lehnte sich gegen die Wand. Dann sah Ingrid, dass Tränen über die grauen Wangen liefen. Sie schien jetzt erst aufzuwachen. Es bewegte sich etwas in ihr. Etwas, auf dem sie so lange herumgetrampelt hatte. Sie hatte sehr wohl Hansines kleinen, runden Bauch gesehen. Vierter, fünfter Monat etwa. Hansine hatte schon drei Kinder. Sie waren dicht hintereinander gekommen. In der Fischfabrik arbeitete sie erst seit einem Jahr. Seit sie das Jüngste nicht mehr stillte. Ingrid erinnerte sich noch, dass sie in der ersten Zeit in den Fünf-Minuten-Pausen Milch abgepumpt hatte. Hansine weinte.

»Komm, ich fahr dich aufm Fahrrad nach Hause«, sagte Frieda, suchte Hansines Sachen zusammen und stopfte sie in das Netz. Die harten Blicke trafen Ingrid in den Nacken. Sie spürte, wie sie brannten. Wollte sich umdrehen und sagen, dass sie tatsächlich das Tempo ganz unnötig so hochgeschraubt hatte. Wollte die Hand hinstrecken. Aber sie brachte es nicht fertig. Sie hatte nie richtig zu ihnen gehört. Drängte sich auch nicht auf. Wollte ihnen beweisen, dass sie außerhalb stehen konnte und trotzdem zurechtkam. Dann ging ihr auf, dass man ihre kleine Gruppe leicht entzweien könnte. Das taten die, die am Ende an allem verdienten. Solche wie Dahl. Sie klappten die Brieftaschen zu, wenn die Schiffe mit so und so viel Tonnen Fischfilets vom Kai ablegten. Es war richtig, was Grete predigte: Man arbeitete für einen Dreckslohn, auch wenn man bis zum Umfallen schuftete.

Das war der Grund, warum keine Freundschaft überlebte in dem engen, verräucherten Pausenraum mit dem nüchternen Resopaltisch und dem brandfleckigen Metallaschenbecher, auf dem »Bodø-Aktienbrauerei« stand. Das war der Grund, warum keine Zeit für ein freundliches Wort blieb, kein Raum für etwas anderes als die Hetzerei, um das Tempo zu halten! Nein, Ingrid, sagte ihr eine innere Stimme. Ist es denn heute Abend darum gegangen? Bist du ehrlich? Ist es nicht so, dass du dich in deine eigene prächtige Verbitterung einschließt und es die anderen büßen lässt? Hättest du das Tempo nicht so hochgeschraubt, dann wäre der Fisch vielleicht in den Kühlraum gestellt und auf zwei Schichten verteilt worden, und Hansine wäre nach Hause gegangen, hätte ihre Wäsche waschen und hinterher ihren Rücken ausruhen können.

Es brachte so wenig, dass sie das Tempo forcierte. So wenig … Ingrid machte sich auf den Heimweg. Sie blickte nicht zurück – wie es mit den drei anderen ging. Sie wusste, dass sie redeten. Mit leisen, rauen Nachtstimmen voll müder Ohnmacht. Ein einsilbiges Gespräch. Mit Seitenhieben. Härte. Heftiger Abneigung. Gegen sie, Ingrid. Aber sie würde gutes Geld in der Lohntüte haben. Sie konnte in diesem Monat die Verantwortung für sich übernehmen. In jeder Hinsicht! Sie würde Rakel den Kleiderstoff bezahlen, den sie damals in Breiland von ihr bekommen hatte.

Die Zahlen standen in Ottars Laden dicht wie ein Heringsschwarm unter ihrem Namen. Sie würde die Schulden bezahlen! Und sie würde noch genug übrig haben, um nach Bodø zu fahren und Henrik zu besuchen, wenn sie nicht in der Nacht, die sie für die Reise brauchen würde, irgendwo übernachtete.

Ingrid verspürte einen gewaltigen Trotz. Und der machte es für sie möglich, hocherhobenen Hauptes über die Hügel zu gehen. Sie kam gar nicht auf die Idee, sich darüber zu wundern.

Sie ging schnell. Aber es machte ihr nichts aus. Sie hatte sich von der Umwelt abgekapselt. Als sie zu Hause die Türklinke in die Hand nahm, war sie noch genauso blass wie in der Frosterei, als sie die Schürze zusammengefaltet hatte.

Sie schaute bei Tora herein und wechselte ein paar Worte mit ihr. »Ich bin … müd, ich leg mich jetzt hin«, sagte sie schließlich. Vor allem, um nicht mehr sagen zu müssen.

Ingrid ging ins Zimmer zu dem großen, leeren Bett. Sie wusste nicht, ob sie etwas vermisste. Sie war wohl auch zu müde. Dann zog sie die Gardinen vor und wusch sich mit kaltem Wasser. Um den schlimmsten Fischgeruch zu tilgen. Sie glaubte, dass ihr das gelang.

Tora lag in der Kammer und wunderte sich, dass die Mutter kein heißes Wasser aus der Küche geholt hatte. Eine schreckliche Angst um die Mutter überfiel sie. Aber an diesem Abend war sie wohl nicht mehr stark genug für so viel Angst. Ihr Herz drohte wieder wie wild loszuhämmern. Sie drehte sich zur Wand um, versuchte die Astlöcher getrennt von der restlichen, glatten Fläche zu sehen. Aber das war ihr auch keine Hilfe.

Der stumme Raum

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