Читать книгу Der stumme Raum - Herbjørg Wassmo - Страница 8

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Eines Nachmittags, als Sol und Tora zum Milchholen unterwegs waren, tauchten hinter ein paar Steinen zwei Jungen aus dem Ort auf. Sie hatten sich an der einzigen Stelle versteckt, wo es weder Häuser noch Menschen gab. Da konnte kein Fenster geöffnet werden, und keine Mutter konnte den Kopf herausstrecken und sich einmischen. Keine Zeugen, alle Möglichkeiten. Ole und Roy. Ole hatte wohl noch nicht seine Niederlage in der Schule bei Gunn vergessen, auch wenn es schon lange her war. Sie standen breitbeinig und mit den Händen in den Taschen da. Grinsten forsch. Besonders Ole. Fühlte sich bereits als Sieger. Niemand war da, der petzen konnte.

»Ist das nicht das Goldkind von der Deutschenmutter, das hier rumspaziert und mit der Milchkanne schlenkert, he? Wie viel Brände haste denn heut schon gelegt?«

Ole trippelte wie eine Dame vor Tora her. Sie hatte diese alten Sticheleien schon lange nicht mehr gehört. Sie taten weh. Sie hatte das Gefühl, als ob jemand einen Stein geworfen hätte. An den Kopf. Ins Gesicht. In die Augen. Aber sie kniff den Mund zusammen. Schwieg mit jeder Faser ihres Wesens.

»Halt’s Maul, du Scheißfischer!«, schrie Sol und ging auf ihn los.

»Was sagt die da, kommt vom Tausendheim und spielt sich hier auf, wie? Du fette Sau. Wie steht’s denn mit deiner Mutter, ist die nach Hause gekommen und immer noch verrückt?«

Sol sah rot. Sie war ein erwachsenes, konfirmiertes Mädchen mit einem großen, heiligen Zorn. Sie ging mit erhobener Milchkanne auf den Bengel los. Ein Glück, dass die Kanne noch leer war. Sie schlug sie mit voller Wucht auf den Schädel von Ole, der einen halben Kopf kleiner war als sie. Tora machte große Augen. Sie hatte Sol noch nie handgreiflich werden sehen, wie schlimm es auch gewesen sein mochte. Im Gegenteil, Sol war es, die immer bei klarem Verstand blieb und zwischen die Streithähne ging, bevor die Nasen bluteten. Jetzt war sie wie ein wild gewordener Stier. Die kurzgeschnittenen Haare sträubten sich, ähnlich dem Bild von dem Igel, das im Schulflur hing. Sie hatte Schaumflöckchen in den Mundwinkeln.

Nachdem Ole sich von dem Erlebnis mit der Milchkanne so weit erholt hatte, dass er begriff, was hier vor sich ging, erfasste der Wahnsinn auch die Jungen.

Tora sah deutlich, das die Sache kein gutes Ende nehmen würde. Sie waren zu zweit gegen Sol. Starke Übermacht.

Tora rief, dass sie Schluss machen sollten, aber niemand hörte oder sah. Die Jungen hatten Sol jetzt auf dem Schotterweg unter sich liegen. Der eine hielt ihre Arme, der andere saß auf ihrem Bauch und boxte sie in die Brüste, so dass sie jammerte.

Nachdem Ole diesen Teil der Arbeit erledigt hatte, zog er den dünnen, kurzen Baumwollrock bis über Sols Schultern hinauf und zeigte seinem Kumpel die ganze Herrlichkeit.

Tora, die währenddessen am Wegrand gestanden hatte, ohne den Mut, irgendetwas zu unternehmen, sah plötzlich nur noch einen roten Nebel. Er hüllte sie vollständig ein. Schreiend hob sie ihre Kanne hoch und prügelte drauflos.

Die Kanne war noch eine von der altmodischen, soliden Sorte. Mit einer harten Kante unten.

Dumpfes Stöhnen und raue Schluchzer. Tora vertraute darauf, dass die Jungen zuoberst lagen. Ging von einer einfachen Logik aus: je mehr Schläge, desto mehr Schaden. Je schneller sie schlug, desto mehr Schläge.

Sie hatte nicht geahnt, dass es ein so gutes Gefühl sein könnte, einfach loszuschlagen.

Da legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Eine starke Faust übernahm das Kommando über die Kanne, und eine gebieterische Stimme sagte: »So, immer mit der Ruhe, immer mit der Ruhe. Und dann wollen wir mal sehen, ob noch jemand am Leben ist … Ist noch jemand am Leben, ja?« Frits’ Vater!

Aber er lächelte ein bisschen! Oder nicht? Er half den Jungen auf die Beine. Ole hatte eine üble Schnittwunde über dem einen Auge. Das andere war dick verklebt. Er weinte bitterlich und rau. Rotz und Tränen landeten in Monsens Taschentuch.

Roy war es ein wenig besser ergangen. Sol hatte eine hässliche Schramme auf dem einen Knie. Aber der Triumph leuchtete ihr aus den Augen. Sie konnte noch nicht aufhören. Stellte Roy ein Bein, und er schlug der Länge nach hin, während er sich schon gerettet und sicher gewähnt hatte. Er fiel auf die Nase. Die sah schlimm aus. Er wollte sich sofort rächen, aber Monsen nahm den Schlingel fest in den Griff, und Sol schrie in blinder Wut:

»Komm nur, du Dreckskerl, komm nur, du Scheißfischer! Ich werd’s dir geben, dass du nicht mehr im Zweifel bist, wer hier im Dorf wirklich verrückt ist!! Komm nur, komm nur …« Sie schluchzte verbissen.

Die Jungen schlichen hinauf zu der Häusergruppe oben am Hang. Gingen wie geprügelte Hunde, langsam und beschämt. Der Kampf war beendet. Monsen nahm die Mädchen mit nach Hause, alle Treppen hinauf und hinein in die Wohnung. Er verband ihre Wunden und rief mehrmals »Pfui«, als ihm die Geschichte erzählt wurde. Aber als Randi fragte, welche Schimpfwörter die Jungen gebraucht hätten, wurde es still. Trotzdem ergriff Monsen Partei für die Mädchen und sagte, dass den »Teufelsbraten« nur recht geschehen sei.

Tora hatte vergessen, dass sie hier bei Frits war. Bis er plötzlich in der Türöffnung stand. Er war in seine Taubstummenschule gefahren. Das wusste sie ja. Und doch stand er da und starrte sie an.

Und da begriff sie, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Dass sie ihn verletzt hatte. Dass der stumme Junge in vieler Hinsicht einsamer war als sie selbst. Sie begriff, dass sie ihn gar nicht als richtigen Menschen angesehen hatte, weil er nicht sprechen konnte.

Sie wollte ihn nie mehr verleugnen, die Gefahr sollte ihn nie mehr verjagen! Niemals! Frits war Frits. Und für sie war er viel mehr als nur Frits.

Sie sah es klar und deutlich. Weil er nicht da war. Weil eine große, schmerzliche Leere im Raum war.

Und der Nachmittag stieg über die Fensterbank, das Fenster stand offen gegen den kühlen, nachdenklichen Herbst. Randi buk gelbe, duftende Pfannekuchen, auf die sie eine Menge Zucker streute. Frits’ Vater bekam für Tora und Sol einen Namen. Er hieß Gunnar und spielte Ziehharmonika, dass die undichte und nicht gestrichene Holzdecke abzuheben schien! Und der blutige Verband an Sols Knie, der so schlecht zu einem großen Mädchen passte, das konfirmiert war (und vorhatte, am nächsten Samstag tanzen zu gehen, ob Elisif nun weinte oder nicht), dieser blutige Verband war Anlass genug, um die Geschichte von der Prügelei immer wieder zu erzählen. Randi schlug die Hände zusammen und war ganz entsetzt, lachte und versetzte ihnen Rippenstöße.

Tora machte es nichts aus, dass Sol dabei war. Sie kroch nach alter Gewohnheit auf Frits’ Bett. Zog die Strickdecke über die Beine, obwohl es im Raum wirklich warm war.

Sie nahm Frits mit nach Berlin. Die Großmutter stand mit offenen Armen vor ihnen beiden. Der Farn war saftig grün, und das Tor stand offen. Und die Rosen …

»Frag einen Menschen, was die Liebe ist, und sie ist nichts anderes als ein Wind, der durch die Rosen säuselt …« Sie hatte das irgendwo gelesen. Es war zu schön, um wirklich zu sein.

Sie dachte daran, wie sie sich früher mittwochs gefühlt hatte. Da war sie kleiner – ganz klein gewesen, aber konnte schon lesen. Es musste vor der Gefahr gewesen sein. (Dass sie so denken konnte! Genauso wie die Leute, wenn sie sagten: Vor dem Krieg …) Also vor der Gefahr: Die Mutter kam jeden Mittwoch mit einer Illustrierten nach Hause. Darin gab es eine Bilderserie von einem kleinen Burschen, der Pünktchen hieß. Er war so klein, dass er Platz in einer Streichholzschachtel hatte. Und Tora mochte diesen Jungen schrecklich gern. Denn es gab nur diesen einen auf der ganzen Welt, der so klein war … Sie wollte ihn immer bei sich haben. Immer. Er war ein Teil der schönen Spannung, die man sich leisten konnte, wenn es Mittwoch war. Und sie fragte die Mutter einmal, als die unten in der Waschküche mit den Armen tief im Seifenschaum stand – ob sie das Pünktchen nicht haben könne. Ob die Mutter nicht an die Illustrierte schreiben und ihn für Tora erbitten könne. Sie bettelte und flehte – obwohl sie wusste, dass sie sich genauso gut den Mond hätte wünschen können. Sie fühlte bereits den leichten Druck in ihrer Hand. Sie fühlte ein Kitzeln auf der Haut, vor lauter Zuneigung und Freude. Das musste die Liebe sein. Wie ein warmer Wind? Oder Blumen? Berühren …

Sie hob die Hand und strich Frits ganz schnell über die Wange. Ganz schnell. Und er begriff und verzieh ihr und trug ihr nichts nach. Er fragte nicht nach dem Grund. Dann glitt er fort.

Und Randi unterhielt sich mit Sol, die mit dem Rücken zu Tora saß, und Gunnar spielte Ziehharmonika. Es brauste zum Himmel hoch. Das ganze Haus schien abzuheben.

Tora war erfüllt von Musik und Liebe zur ganzen Welt. Sie hielt dieses Gefühl mit beiden Händen fest. Als ob sie im tiefsten Herzen wusste, dass es nicht von Dauer war.

Sol und Tora kamen diesmal mit ihren Kannen sehr spät zum Milchverkauf. Es gab nur noch Magermilch. Aber sie kicherten trotzdem, als sie die Deckel auf die Kannen drückten.

Der stumme Raum

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