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Die Männer standen in Ottars Laden und hatten Weihnachtsvorbereitungen zu treffen. Sprachen allwissend und friedlich über die Atombombentests im Stillen Ozean. Die USA kämpften darum, die Führung zu behalten. Aber die Russen zögen wohl nach, meinten einige. Einar wusste zu berichten, dass noch über hunderttausend Deutsche in russischen Gefangenenlagern seien. Seine Stimme störte den allgemeinen Frieden wie eine Drohung.

»Ach was, die lügen doch alle zusammen, damit die Leute die Zeitungen kaufen«, meinte Almar. Er erhob sich und bezahlte seine Einkäufe.

»Nein, Mann, das will ich dir nur sagen, das tun sie nicht«, antwortete Einar schroff und sah Almar verächtlich an. »Die die Macht haben in der Welt kennen doch nur eins, pressen doch nur immer mehr Scheiß aus sich raus. So ist das nämlich. Sie sind falsch wie Judas. Sieh dir die Russen an: Die warnen vor dem Atomkrieg und beschwören den Gemeinschaftsgeist von Genf.«

Die Männer rückten von ihm ab. Sie wussten kaum etwas über den Geist von Genf. Aber es war wohl etwas dran. Der Einar war gar nicht so dumm. Das hatte er schon früher bewiesen, auch wenn Ottar ihn gern wie einen Dummkopf behandelte. Und Einar war in Fahrt gekommen, hieb seine Mütze mehrmals auf den Ladentisch und ließ sich darüber aus, dass die Amerikaner bereit seien, eventuelle Angriffe des Ostblocks mit einer schwimmenden Atombombenflotte zu vergelten! Augenblicklich! Es wurde still um ihn herum.

Einar schleuderte ihnen sein Wissen über viele Dinge direkt ins Gesicht. Das saß dann. Wie ein wohlgezielter Treffer im Spucknapf. Er brachte die Männer dazu, sich wegen anderer Dinge an ihn zu erinnern als wegen des Gerüchts, das der neue Pastor in die Welt gesetzt hatte. Dass Einar ein Dieb sei, den man nicht in Dienst nehmen dürfe.

Ottar machte nicht viele Worte an diesem Nachmittag. Seine Haare waren in Ordnung, und er trug ein sauberes Hemd. Es war Freitag, kurz vor Ladenschluss. Er packte die Waren in Tüten und Schachteln und stapelte sie auf dem Ladentisch auf. Da die Männer nicht gingen, fing er an, die Namen aufzurufen, deren Waren er fertig eingepackt hatte. Er war nervös und geschäftig. Das irritierte die Männer allmählich.

»Was drängelste denn? Du lebst ja schließlich von uns.« Håkon war mit seiner spitzen Zunge vorneweg.

»Hier muss gleich geputzt werden. Die Sol hat heut viel zu putzen.« Ottar versuchte vergeblich, sich Respekt zu verschaffen. Die Männer hatten Einars Joch abgeworfen und steckten bereits mitten in einer Diskussion über den Kabeljau bei Senja und den Vesterålen und waren nicht von der Stelle zu bewegen. Sie diskutierten die Garantieordnung für die Fischer in einer Fangbeteiligungsgemeinschaft, während der Pfeifenrauch sich undurchdringlich unter die Decke legte. Sie redeten lang und breit über den Heumangel und den verdammt kalten Sommer, der schuld daran war, dass »die Mandelkartoffeln in diesem Jahr ganz flach sind, weil sie nur drei Zentimeter lockere Erde über dem gefrorenen Boden hatten«. Ottar sah keine Möglichkeit, ihren Redefluss zu stoppen. Er trat von einem Bein aufs andere. Klirrte mit den Schlüsseln. Machte sich im Lager zu schaffen und nickte Sol zu, die energisch den Boden fegte.

Er seufzte und sah geistesabwesend auf die Regale, während er erklärte, dass sie einfach anfangen solle, den Laden zu putzen. Er nannte keinen Grund. Das war auch nicht nötig. Es sollte volles Vertrauen zwischen ihnen herrschen. Sol wusste, dass es Ottar nie einfallen würde, sie zu dem anderen in das kalte Lager zu bitten, ehe sie nicht mit der Arbeit fertig war.

Sie stellte den Besen weg und füllte gehorsam den Putzeimer. Wusste, dass sie am ersten Montag nach Neujahr abends in die Handelsschule gehen würde. Sie hatte in der Fischfabrik gekündigt. Ihr Geld reichte für Schulgeld und Bücher. Ottar hatte ihr versprochen, dass sie weiter bei ihm putzen könne, abends, nach der Schule. Die Entscheidung war schnell gefallen. Kostete sie nicht viel in Anbetracht dessen, was sie dafür erhielt. Sie hatte die Bedingungen für sie beide vorgeschlagen. Von Worten Gebrauch gemacht. Er hatte ausgesehen, als ob er gleich ersticken würde. Sie hatte am selben Abend den »Lohn« bekommen. Es war eine seltsame Vorstellung gewesen. Sol kannte die menschliche Unzulänglichkeit. Und sie nahm die Erbärmlichkeit des erwachsenen Mannes mit dankbarem Herzen und unerfahrenem und neugierigem Gemüt hin. Nun wusste sie so viel, und das gab ihr Macht.

Sol merkte, dass sie Ottar nur anzusehen brauchte, dann fiel er gleichsam vor ihren Augen in sich zusammen. Er folgte ihr immer mehr wie ein Schatten. Er half ihr beim Fegen, indem er Tonnen und Kisten für sie wegrückte. Sie verstand es und verstand es auch wieder nicht. Sie sah, dass er sich eine neue Joppe und eine neue Hose angeschafft hatte. Er trug beides werktags!

Sol sammelte Erfahrungen und beobachtete menschliches Verhalten, ohne dass sie sich dessen bewusst war. Wenn ihre Arme und Beine sich bei irgendeiner Arbeit langsam, aber stetig bewegten, registrierte sie Ottars Theaterspiel – und dass es alles ihr zu Ehren geschah. Sie sah der Zukunft heiter entgegen.

Sie wollte es sich erlauben, in den Weihnachtstagen tanzen zu gehen. Konnte sich unten bei Tora umziehen, so dass die Mutter nichts merkte. Dann würde sie vorm Spiegel stehen und wie zufällig ein paar Worte darüber fallenlassen, dass sie an der Handelsschule anfangen wolle. Sie, die eine »Verrückte« zur Mutter hatte, einen Trottel zum Vater, im Tausendheim wohnte und putzen gehen musste, anstatt weiter die Schule zu besuchen. Was war ein lumpiges achtes Schuljahr gegen die Handelsschule.

Sol fing unbekümmert an, zwischen den Beinen der Männer den Boden zu putzen.

Erst machten sie widerwillig Platz und redeten unaufhörlich von ihren Angelegenheiten, aber dann zogen sie sich zur Tür zurück und ließen Elisifs Mädchen in Ruhe wirken. Sie fraß sich immer wieder geschickt mit dem langstieligen Schrubber zwischen ihren Beinen durch. Sagte nichts. Ließ nur den grauen Putzlumpen über schwarze und braune Fellgamaschen lecken, wenn sie nicht schnell genug auswichen. Es sah beinahe so aus, als ob die Männer sich von einem Gefecht zurückzögen. Die Übermacht war zu groß. Und das Schlimmste, was ihnen passieren konnte, war, dass der Putzlumpen über die Gamaschen fuhr. Das genügte für Niederlage und Verlust. Und bevor sie wussten, wie ihnen geschah, standen sie draußen in dem eiskalten Wind und hörten, wie Ottar zuschloss.

»Zum Teufel, was für ’n Tempo«, knurrte Håkon und griff im Dunkeln nach der Lenkstange. »Ich möcht nur wissen, warum der’s so eilig hat. Das war doch sonst nicht so. Und wie er sich aufgeputzt hat! Vielleicht geht er irgendwo auf Freiersfüßen.«

Sol trocknete die roten Hände an ihrer Schürze ab und war bereit, die Regale im Lager aufzuräumen. Sie war es nun gewohnt. Sie dachte an andere Dinge, während sie auf der Leiter stand. Es war ein Teil der Arbeit, den sie einfach über sich ergehen ließ. Ottar war heute schnell. Es musste daran liegen, dass alles sich hinausgezögert hatte, weil die Männer absolut nicht gehen wollten. Seine Spannung hatte die Vorarbeit für sie geleistet. Er wurde schnell fertig.

Einmal – kurz bevor er anfing nach Luft zu schnappen – hörte sie seine alte Mutter von oben aus dem »Privaten« rufen. Eine nadelspitze Altfrauenstimme. Vor Schreck stöhnte er gleich zweimal. Sol ertappte sich dabei, dass ihr der Mann leidtat. Es stimmte wohl nicht alles bei ihm. Er machte es immer hinter ihrem Rücken oder nachdem er etwas über ihren Kopf gelegt hatte. Als ob er es nicht aushielte, dass sie ihn sah … obwohl er stets das Licht ausknipste, ehe er sich zu der Leiter tastete, auf der sie stand.

Als sie gehen wollte, kam er angerannt, mit einer Tüte, die er ihr in die Hand drückte. Dann war er weg. Sie konnte nicht einmal fragen oder sich bedanken. So tastete sie sich durch den Lagerraum und zur Hintertür hinaus. Draußen stellte sie sich unter die Lampe am Kai und schaute in die große Papiertüte. Sirupkuchen, Schlackwurst, Speck und Eier. Schokolade.

Es kam ein frischer Wind vom Meer her. Die Wellen sprangen zwischen den Kaipfosten umher und schäumten gegen die Felsen. Über ihr glotzte ein eiskalter Mond, während die Wolken in rasender Eile vorbeizogen. Es stank von der nahegelegenen Trankocherei her. Plötzlich ging irgendetwas für Sol in die Brüche. Es riss langsam und tief in ihr. Tat schrecklich weh. War ein schreckliches Gefühl.

Sie beugte den Kopf über die Tüte und weinte. Ohne einen vernünftigen Grund. Sie hatte ja alles, was sie brauchte … Ottars Stolz, »die Weihnachtsstraße«, vierundzwanzig rote Glühbirnen, in ziemlicher Höhe über die Straße gespannt, vom Laden bis zu einem grauschimmernden Laternenpfahl, baumelte hilflos im Wind. Sol hob den Kopf und starrte sie einen Augenblick an. Dann ging sie mit langsamen, festen Schritten nach Hause.

Der stumme Raum

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