Читать книгу Der stumme Raum - Herbjørg Wassmo - Страница 14
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ОглавлениеTora bekam nicht viele Briefe.
Insgesamt waren es überhaupt nicht viele Briefe, die ins Tausendheim gebracht wurden. Es gab dort auch nicht viele Menschen, die sich die Mühe machten, Briefe zur Post zu tragen. Die Wörter waren einfach, und man sprach miteinander – oder man schwieg, und das sagte genug.
Wenn die Leute ruhig und nicht erregt waren, sagten sie gerade so viel, wie sie verantworten konnten – nicht mehr und nicht weniger. Der Rest wurde verschwiegen, bis die Gedanken ihn verdrängt hatten – oder der Mensch sich durch die Worte hindurchgekämpft hatte – schweigend. Und immer allein.
Eines Tages fand Tora einen weißen Briefumschlag auf dem Küchenschrank.
Die Mutter war zur Nachmittagsschicht gegangen. Das Haus lag träge in der Mittagsruhe, weil Tora auf dem Schulweg getrödelt hatte. War bei Jenny im Kiosk gewesen und hatte die neuen Illustrierten durchgeblättert. Jenny schimpfte nie mit Tora, weil sie die Zeitschriften nicht kaufte, die sie angesehen hatte. Alle anderen aber warf sie raus. Tora hatte lange gebraucht, bis sie sich Einlass in dem kleinen Kiosk an der Wegkreuzung verschafft hatte. Sie holte für Jenny Waren vom Hafen ab. Zog sowohl die Packen mit den Illustrierten als auch Jennys Kind im Handwagen die Hügel hinauf. Eigentlich konnte Tora den kleinen Rotzbengel nicht leiden. Aber sie ließ es sich nicht anmerken. Sie behandelte das Kind mit der gleichen freundlichen Vorsicht wie die Illustriertenbündel. Tora wusste nicht, ob sie vor dem Umschlag Angst haben sollte. Sie hatte das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Name und Adresse standen feierlich auf dem weißen Papier. Einmal hatte sie einen Brieffreund gehabt. Einen, den Randi von ihrem Heimatort her kannte. Aber Ingrid hatte das viele Porto für eine unnötige Ausgabe gehalten. Sie wurde so trübsinnig – selbst wegen der kleinsten Ausgabe. Tora hatte immer seltener geschrieben. Dies hier war eine fremde Schrift. Aber doch bekannt. Der Stempel war unleserlich. Der Brief hatte eine norwegische Briefmarke. Das war das Erste gewesen, was sie festgestellt hatte. Manchmal war sie ganz sicher, dass ihr die Großmutter eines schönen Tages schreiben würde.
Sie sah sie vor sich, mit dem geraden Rücken und dem großen, grauen Knoten im Nacken. Knöpfschuhe. Wie die feinen Damen sie in den Märchen oder auf den Bildern in den Illustrierten trugen. Die Haut an den Wangen war ganz glatt. Aber dieser Brief kam nicht aus Berlin.
Er verursachte trotzdem ein wohliges Kribbeln unter der Haut. Es fing irgendwo am Hals an. Zog sich über den ganzen Körper, so dass sie lächeln musste, obwohl sie mutterseelenallein war. Stand auf einem Fuß und rieb den anderen an der Ofenkante, weil sie ein Loch in dem einen Stiefel hatte und der Fuß nass geworden war. Aber sie empfand es als nichts Besonderes. Sie rieb einfach, weil sie es immer tat, wenn sie nasse oder kalte Füße hatte.
Der Brief war von Frits!
Sie ging damit zum Fenster.
Frits erzählte von der Schule und den Lehrern. Dass er an den ersten Abenden dort geweint hatte.
Tora hörte beim Lesen Randis Stimme.
Und Frits wuchs aus dem Brief heraus. Vor ihren Augen. Sie dichtete ihn um zu einem unglücklichen Helden, sie bildete sich ein, dass sie alles verstand, was er ihr zu übermitteln versuchte, mit seiner eckigen Schreibschrift und den knappen, nüchternen Sätzen. Sie ahnte vage, was ein solcher Brief einen Jungen wie Frits kostete.
Unten in der Ecke war ein großer Tintenklecks, und Tora konnte sehen, dass er dort ein Herz zu zeichnen versucht hatte. Gott segne ihn …
Sie nahm den großen roten Buntstift, den sie benutzte, wenn sie für den »Konfirmanden« Karten zeichnen musste, und zog das Herz nach. Der Tintenfleck floss in seiner getrockneten Unförmigkeit darüber, das war allerdings schon passiert, lange bevor sie etwas geahnt hatte. Aber nun war da eine kräftige rote Linie, die durch den blauen Tintenfleck hindurch ganz deutlich anzeigte, wie das Herz hätte sein sollen. Tora war so froh. Ganz ausgelassen. Es war ein unbekanntes Gefühl, das sie nicht zügeln konnte. Alles – die ganze Welt bekam eine schöne Farbe. Sie lag grauschimmernd und närrisch dort draußen. Das Meer und der Mond strahlten, und Været lachte über das ganze Elend. Warm und vage und weich. Große Wolkenballen wälzten sich heran. Der Nachmittag begann seine Geräusche herauszuschleudern. Die Rufe vom Hof und später von dem Gelände rund um das Haus. Aber sie setzten sich nicht in ihr fest, zogen sie nicht hinaus auf die Straße wie sonst.
Tora war in Gedanken versunken. Die anderen, die so einfältig und klein waren, taten ihr direkt ein bisschen leid. Mit einem Mal war alles dort draußen ein überwundenes Stadium – über das sie sich hoch erhaben fühlte. Nein, sie hatte wichtigere Dinge zu tun. Einen Brief zu schreiben.
Nas-Eldar fuhr die letzten Kohlen für den Winterbrand ringsum in die weißen und blauen und roten Häuser. Es gab viele Bestellungen und viel Arbeit. Und es gab nur einen Lastwagen, den ausgenommen, den Dahl für seine Fischfabrik und die Frosterei besaß. Eldar hatte keinen Konkurrenten und nahm sich Zeit.
Die Leute fluchten nicht wenig, wenn er nicht einmal seinen Priem von der einen Seite auf die andere schob, um Bescheid zu sagen, dass er keine Zeit habe, sondern nur die rechte Autotür wieder zuknallte und hinüberrutschte auf den linken Sitz, weil man die Tür zum Fahrersitz von außen nicht öffnen konnte. »Das ist die Gicht«, grinste er mit seinem Gesicht voll bläulicher, einen Tag alter Bartstoppeln. »Im Herbst und in der Winterkälte ist er immer so!«
Er – war der Lastwagen, der nach der Meinung des Alten die feinsten Empfindungen auf der ganzen Insel hatte.
Nas-Eldar kam, wenn er kam – darauf konnte man sich verlassen. Eldars Auto fuhr Leichen und Brautleute. Er schmückte die Seitenteile mit Kreppstreifen und norwegischen Fähnchen und Laub, falls er Zeit dafür fand. Wenn er schlechte Laune hatte, dann stieß er zwischen den Zähnen hervor: »Könnt selber schmücken!« Er fuhr geschlachtete Schafe, Kohlen, Trockenfisch und Dung – ohne Schmuck. Er fuhr arme Leute – und feine Leute im Mantel. Eldars Auto war überall und nirgends aufzutreiben. Da half kein Betteln oder Drohen.
Aber Tora hatte keinen Bedarf an Lastwagen. Merkte nicht, dass die Kohle im Ofen ausbrannte. Trotzdem hörte sie den Krach da draußen und verstand mit einem kleinen, unwesentlichen und irdischen Teil ihrer selbst, was da los war.
Lange schaute sie angestrengt auf ihre eigenen Buchstaben. Dann entdeckte sie die Schatten. Die Dämmerung kroch aus allen Ecken. Stand schon im Küchenfenster. Tora schaltete die Deckenlampe ein. Das Licht flutete heftig und hell auf sie herab und warf ihren Schatten an die Wand. Aber sie sah jetzt.
Sie erzählte und dichtete. Viele Dinge brachen aus ihr heraus, die sie ihm nie hatte begreiflich machen können, während sie einander nahe waren und zusammen spielten oder auf dem Bett mit der Strickdecke saßen. Sie deutete an, dass sie den ganzen Sommer über mit allen möglichen Dingen sehr beschäftigt gewesen sei … Und während sie schrieb, begann ihr Körper zu schweben. Das Leben wurde so leicht.
Toras magere Hand suchte drinnen in der Stube in Ingrids Schublade, bis sie fand, was sie suchte: die kleine graue Schachtel mit dem Kleingeld für unvorhergesehene Fälle. Sie zählte das Geld für das Porto genau ab und tilgte alle Spuren.
Sie empfand keinerlei Reue. Zog nur den schwarzen Regenmantel über und sprang in die nicht mehr wasserdichten Stiefel. Sie hatte die Strümpfe nicht gewechselt, und das war gut. Es schwappte noch dort unten im linken Stiefel.
Turid am Postschalter hielt den Brief einen Augenblick in der Hand. Wog ihn gedankenvoll hin und her. Dann legte sie ihn energisch auf die abgegriffene Holzplatte auf Toras Seite von der Schranke zurück und sagte: »Zu schwer. Zu wenig Porto.«
Tora war ein nasser und geprügelter Hund, als sie zur Tür hinausschlich.
Aber auf der Treppe richtete sie sich auf, eilte über die Hügel und an den Mooren entlang zum Tausendheim.
Sie zögerte nicht. Sondern wiederholte die Aktion mit der Geldschachtel. Diesmal nahm sie so viel, dass es auf jeden Fall reichen musste. Dann raste sie die Treppen hinunter, die Wege entlang, die Hügel hinunter und hinein zu Turid am Schalter.
Wie ein Esel. Sie hatte Runzeln zwischen den Augenbrauen. Der Kopf war auf eine seltsam störrische Weise gebeugt, das Maul dicht an der Halsgrube – als ob sie versuchte, sich selbst voranzutreiben. Turid leckte an der Briefmarke und stempelte sie dann ab. Tora ging hinaus in den Regen.
Sie blieb einen Augenblick auf der Treppe stehen und wartete, bis der Schweiß an ihrem Rückgrat sich beruhigte. Fischerboote kamen herein. Sie tuckerten wie Herzen. Wie ihr Herz. Es gab keinen Unterschied. Tuck-tuck-tuck. Im Takt. Ganz selbstverständlich. Lebendig. Trieb sich selbst voran mit seinem eigenen Motor.