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THOMAS »TOIVI«
BLATT »Die Kugel blieb in
meinem Kiefer stecken«
ОглавлениеTHOMAS »TOIVI« BLATT ÜBER DASVERNICHTUNGSLAGER SOBIBÓR, DAS ER ÜBERLEBTE
10. Juni 2010
Das Gespräch führte Louis Lewitan
Herr Blatt, was ist das für ein Gefühl, in Deutschland zu sein?
Es fuhlt sich fast normal an. Dennoch bin ich letzte Nacht zweimal aus dem Bett gefallen.
Sie werden noch von Albträumen verfolgt?
Ja, ein Teil von mir ist noch in Sobibór, und das Schlimmste ist, dass die Erinnerung jetzt stärker ist als früher: Ich sehe einen zehn Jahre alten Jungen und denke, Gott, so alt war mein Bruder, als er in die Gaskammer ging. Ich habe Angst, es könnte sich wiederholen.
Sie sind am 14. Oktober 1943 aus dem Vernichtungslager Sobibór geflohen. Wie kam es zum Aufstand?
Wir wussten nicht, wie man mit Waffen umgeht. Aber glücklicherweise kam eines Tages ein Transport mit jüdischen Offizieren aus der Roten Armee. Die wussten, wie man kämpft.
Hatten Sie Angst vor Spitzeln?
Von fünfhundertsiebzig Häftlingen waren etwa sechzig eingeweiht. Wir lockten SS-Männer in Hinterhalte, wo wir mit Beilen und Hämmern aus der Tischlerei warteten. Wir haben etwa ein Dutzend Deutsche umgebracht. Dann haben wir die anderen informiert, einer von uns ist auf einen Tisch gesprungen und hat gesagt, dass wir jetzt einen Aufstand machen wollten. Er sagte auch, dass nicht viele von uns überleben würden, aber wenn jemand durchkomme, sei es seine Pflicht, der Welt zu sagen, was in Sobibor geschehen ist. Dann sind wir zum Tor gerannt.
Aber das Lager war doch streng bewacht.
Ja, sehr viele wurden von den Wachen erschossen. Aber wir hatten die Waffen der getöteten SS-Männer und Karabiner aus der Waffenkammer und schossen zurück. Etwa dreihundert konnten entkommen, doch haben sie die meisten von uns dann in den Wäldern gefunden.
Wohin sind Sie geflüchtet?
Ich bin zu meinem alten Lehrer gerannt, er öffnete mir, obwohl es in Polen sehr gefährlich war, Juden zu verstecken. Ganze Dörfer wurden abgebrannt, wenn das herauskam.
Wie lange sind Sie bei ihm geblieben?
Nur zum Essen, dann bin ich wieder in den Wald. Ich habe unter Zweigen geschlafen. Im Wald traf ich zwei Jungen aus dem Lager. Zum Glück hatten wir Geld aus dem Wertsachenmagazin. Wir sind zu einem Bauern gegangen und haben ihn gefragt, ob er uns versteckt, wenn wir dafür bezahlen.
Woher haben Sie gewusst, dass er Sie nicht sofort den Deutschen ausliefert?
Wir wussten es nicht. Wir haben Licht gesehen und unser Glück versucht.
Wie lange hat er Sie drei versteckt?
Fünf Monate, in seiner Scheune.
Was macht man, wenn man über Monate in einer Scheune sitzt?
Wir haben uns Geschichten erzählt und viel geschlafen.
Warum haben Sie Ihr Versteck nach fünf Monaten verlassen?
Weil die Knechte des Bauern versucht haben, uns zu erschießen. Der Bauer hatte wohl Angst bekommen. Auf der einen Seite fürchtete er, dass herauskommt, dass er Juden versteckt hat, und auf der anderen Seite, dass wir das Geld züruckwollen, wenn die Russen uns befreien. Vielleicht wollte er auch an den Rest unseres Geldes. Viele Tausend Juden sind auf diese Weise vernichtet worden. Die Bauern haben sie ermordet wegen Geld, wegen Schuhen, wegen Kleidern. Einen Juden zu töten war, wie einen Hund zu töten, keine große Sache.
Einen Menschen zu töten war, wie einen Hund zu töten?
Es war wie eine Jagd. Für einen toten Juden gaben die Deutschen fünf Kilo Zucker, manchmal Wodka. Die Deutschen haben die Juden ja nicht gekannt. Polen haben ihnen gezeigt, wer von ihren Nachbarn Jude war und wer nicht.
Sie meinen, Polen haben sich auch schuldig gemacht?
Ja, wie die Rumänen, die Ungarn, die Ukrainer, die KZ-Wachmänner waren. Darum geht es ja in dem Prozess gegen John Demjanjuk. Wenn sie keine Demjanjuks gehabt hätten, hätten sie keine Wächmanner gehabt. Das sind keine Gehilfen, das sind Mörder.
Wie haben Sie überlebt?
Die Knechte schossen auf mich und dachten, ich sei tot, aber ich war nur verwundet. Die Kugel ist in meinem Unterkiefer stecken geblieben. Dort ist sie heute noch – als Erinnerung.
Das war Ihre Rettung.
Ja, ich habe mich tot gestellt und bin abgehauen, als die Knechte weg waren. Ich entkam in ein Versteck in der Stadt.
Wie viele von den fünfhundertsiebzig Insassen von Sobibór haben den Krieg überlebt?
Etwa achtundvierzig, soweit meine Erinnerung reicht.
THOMAS »TOIVI« BLATT geb. 1927, stammt aus Izbica im Südosten Polens Mit fünfzehn wurde er in das nahe gelegene Vernichtungslager Sobibór deportiert. Seine Eltern und sein Bruder kamen vor seinen Augen in der Gaskammer um. Blatt schrieb Bucher uber Sobibór und sagte im Prozess gegen den KZ-Wächter John Demjanjuk aus. Heute ebt Blatt in den USA