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PHILIPPE POZZO
DI BORGO »Ich brauchte einen irren
Typen wie Abdel«
ОглавлениеDER UNTERNEHMER PHILIPPE POZZO DI BORGOIST NACH EINEM GLEITSCHIRMABSTURZ GELÄHMT.SEIN PFLEGER HALF IHM AUS DER DEPRESSION
29. März 2012
Das Gespräch führte Louis Lewitan
Herr Pozzo di Borgo, was bedeutet Ihnen das Leben heute?
Ich habe das große Glück, zwei Leben erfahren zu haben. Ich war einmal sehr egoistisch, wie unsere Gesellschaft so ist. Ich war an Geld interessiert, ich war ehrgeizig und gierig. Ich habe inzwischen meine verlorene Unschuld zurückbekommen und mich in der Stille und im Schmerz wiedergefunden. Leiden begreife ich als eine Form des Widerstandes, was mich stark an meinen Großvater erinnert, der in der Résistance war und ein Konzentrationslager überlebte.
Erinnern Sie sich noch an den Tag Ihres Unfalls?
Beruflich und psychisch stand ich unter starkem Druck. Die französische Aktiengesellschaft LVMH (Louis Vuitton Moët Hennessy) hatte die beiden Champagnerhäuser Pommery und Lanson, die ich leitete, übernommen. Ihre Art, Geschäfte zu führen, entsprach in keiner Weise meiner Philosophie. Als deren Angestellter musste ich die halbe Belegschaft feuern. Es war für die Betroffenen verheerend. Es war gegen alles, was ich für richtig hielt. Ein Massaker an Unschuldigen, reines McKinsey-Zeug.
Was genau passierte dann?
An dem Tag war ich auf dem Weg in die Schweiz, um eine Tochtergesellschaft zu schließen. Ich wusste, es wird ein harter Tag, als mein Gleitschirmfreund mich anrief, ob wir nicht fliegen wollen. Ich hätte an dem Tag niemals fliegen dürfen. Ich war in keiner guten Verfassung. Ich hätte es wissen müssen.
Wie alt waren Sie, als Sie abstürzten?
Ich war zweiundvierzig, und seitdem sitze ich im Rollstuhl. Ich bin vom Hals ab vollständig querschnittsgelähmt. Ich spüre nichts außer brennende Schmerzen, ein Dauerfeuer.
Was halten Sie von Mitleid?
Ich will weder Mitleid noch Mitgefühl. Was ich brauche, ist Unterstützung. Es gibt mir nichts, wenn der andere sich gut fühlt, bloß weil er barmherzig zu mir ist. Da pfeife ich drauf. Ich brauchte jemanden wie Abdel.
Wie war Ihr erster Eindruck von Abdel?
Als ich ihn sah, war mir sofort klar, dass er originell ist, witzig und zäh und unverwüstlich. Und vierundzwanzig Stunden verfügbar. Er kam frisch aus dem Gefängnis, was er mir gegenüber natürlich verschwieg. Aber mir war das von Anfang an bewusst. Er schien mir der Beste zu sein. Seine Vergangenheit kümmerte mich nicht.
Hatten Sie gleich Vertrauen zu ihm?
Am Anfang dachte er, ich sei eine Bank und würde meine Lähmung gut verkraften. Als meine Frau drei Jahre nach meinem Unfall starb, begriff er, dass er mir sehr wertvoll und nützlich sein könnte. Ich verfiel in eine Depression.
Wie schwer war Ihre Depression?
Ich habe monatelang niemand sehen wollen. Ich wollte das Bett nicht verlassen, nicht mehr aufstehen und sprechen. Nach dem Verlust meiner Frau fühlte ich mich schuldig, weil ich nicht für sie da war, als sie mich brauchte.
Was heißt das konkret?
Ich wusste nicht mit ihrer Krebserkrankung umzugehen. Als die Diagnose kam, waren wir beide einunddreißig Jahre alt. Sie war stark, ich nicht. Ich musste flüchten. Ich verschwand für ein halbes Jahr. Während meine Frau Qualen litt, verhielt ich mich völlig unverantwortlich. Ich ging zum Gleitschirmfliegen und mit anderen Frauen aus. Wie dumm von mir. Es war natürlich keine Lösung, aber es half mir, mich etwas abzulenken. Sie litt enorm darunter. Ich kam zurück, weil ich mich doch nach ihr und den Kindern gesehnt habe. Sie reagierte mit Sanftmut und hat mich getröstet wie ein Kind, was ich auch war. Nach meinem Unfall hat sie mich rührend umsorgt.
Haben Sie jemals psychologische Hilfe in Anspruch genommen?
Ja, meine Kinder und ich. Vor meiner Therapie hatte ich, wie die meisten Männer, Angst vor Gefühlen. Danach konnte ich tun, wozu mich meine Frau schon immer aufgefordert hatte, meine Schmerzen in Worte fassen. Erst so war es mir möglich, meine Geschichte aufzuschreiben.
Hat sonst niemand versucht, Sie aus Ihrer schweren Depression herauszuholen?
Nein, alle fürchteten sich vor meiner extremen Behinderung. Umso mehr brauchte ich so einen Typen wie Abdel, jemanden, der mich aus meiner körperlichen und mental schmerzhaften Verfassung herausholt. Abdel war von meinem Zustand nicht eingeschüchtert. Er machte allen möglichen Unfug mit mir. Er brachte mich nach Marokko, wo ich meine zweite Frau kennenlernte, und alles fing von vorne an.
Was gibt Ihnen Hoffnung?
Meine Frau, meine Kinder, mein neues Leben.
PHILIPPE POZZO DI BORGO geb. 1951, war erfolgreicher Geschäftsmann, bis er mit seinem Gleitschirm schwer verunglücke. Der Film Ziemlich beste Freunde basiert auf seiner Lebensgeschichte. und erreichte allein in Deutschland über 8 Millionen Zuschauer.