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ОглавлениеKAPITEL 4
DIE REISE NACH EUTIN
Als am Mittwochmorgen um halb sechs Kai an der Haustür klingelte, war ich wie zerschlagen. Ich hatte schlecht geschlafen. Doch schließlich war ich vor mehr als 40 Jahren einmal Soldat gewesen, und zwar bei den Bongos, wo normalerweise nur die „schweren Männer“ unterwegs sind. Da würde ich ja wohl die 80 Kilometer nach Eutin in einem Tag auf dem Sattel abreiten können!
In Kisdorf warteten Henning und Jasper beim Autohaus Wessel auf uns.
Unmittelbar bevor wir dort eintrafen, hatte eine Krähe auf Hennings T-Shirt geschissen. In Kisdorf gibt es nämlich einen berüchtigten Wald, in dem eine Krähenkolonie residiert. Die Kisdorfer Krähen scheißen alles voll. Aber Krähen sind geschützt, man darf sie nicht mir nichts dir nichts abknallen. Ich wischte Henning die weiße Kacke mit Wasser aus meiner Selterspulle ab.
Am Ortsausgang von Kisdorf geht es für Flachlandtiroler gleich mal in die Vollen. Ungefähr zwei Kilometer muss man bergan fahren. Jasper hatte sich gleich an die Spitze gesetzt und fuhr den Abschnitt an, als hätte er vor zwei Wochen den Tourmalet in den Pyrenäen mit dem Fahrrad bezwungen. Henning folgte an seinem Hinterrad, und nach dem ersten Anstieg hingen Kai und ich schon mindestens 100 Meter hinten dran. Ehrlich gesagt: Ich fand das Tempo viel zu hoch. Und mein Gewicht auch. Aber ich wollte die Stimmung nicht von Anfang an vermiesen.
Hinunter nach Kisdorferwohld holten Kai und ich die beiden Jungspunde wieder ein. Im Osten lugte die Sonne hinter dicken Wolken hervor. Es war jetzt angenehm warm, die Uhr zeigte Sechs.
Gegen sieben waren wir in Leezen. Wir hielten an einer Tankstelle, Jasper, Kai und Henning kauften sich ein Bier und tranken es in wenigen Zügen aus. Ich goss mir die Hälfte einer Flasche Sprudel ins Gesicht und den Rest trank ich aus, auf Ex.
Auf den nächsten Kilometern in Richtung Mözen stieg die Straße ständig an. Henning machte nun das Tempo, Jasper in seinem Windschatten, und alsbald hingen Kai und ich wieder 400 Meter hinten dran. Es war wohl doch keine so gute Idee gewesen, zu einem Freundschaftsspiel des FC St. Pauli so eine Tour auf sich zu nehmen. Vor meiner Krankheit hätte ich die bisher absolvierte Strecke mit links geschafft.
In Mözen hatte einst Horst Hrubesch gewohnt. Dort, wo die Straße von der B 432 in den Ort abbog, warteten Jasper und Henning. Wir könnten hier baden und eine Forelle essen, schlug Jasper vor.
Es war jetzt kurz vor acht. Ich musste gar nichts sagen. Henning und Kai wollten weiter. Noch eine Steigung, dann passierten wir das Ortsschild von Bad Segeberg.
Am Straßenrand zeigte ein Schild den Abzweig zum Klüthsee an. Ich stieg in die Pedale und wollte diesen lächerlichen holsteinischen Hügel schaffen, ohne abzusteigen. Aber der Hügel zog sich nun schon über zwei Kilometer. Ich wollte meinen Krebs in den Griff kriegen. Ich wollte noch sehen, wie aus meinem Enkel Bjarne ein guter Fußballer wird. Ich wollte noch eine ganze Menge leben. Nach zwei weiteren Kilometern hatte ich diesen verdammten Anstieg geschafft, ohne vom Rad zu fallen.
An einer Brücke über die Trave machten wir die nächste Pause. Von der Straße aus sah man einen See. Die Sonne stand jetzt im Südosten, und die hohen Bäume warfen Schatten auf das Wasser. Libellen tanzten über den sich kräuselnden Wellen. Ein leichter Ostwind strich über das Schilfgras. Am Ufer stolzierte ein Storch auf und ab, „Pickpick“, wie ein Fallbeil schnappte er mit dem roten Schnabel zu und förderte einen Frosch aus dem Morast zutage. Je näher wir der Holsteinischen Schweiz kamen, umso schöner wurde die Landschaft. Sanft wellten sich die mit goldgelben Ähren bestandenen Hügel, bis sie am Horizont scheinbar in den Himmel mündeten. Schwalben schlugen zwei-dreimal kurz und kräftig mit den Flügeln und segelten dann ruhig durch die Sommerluft.
In Ahrensbök bogen wir links ab, weiter nach Norden, durchquerten Siblin, Schienkuhlen, Braak in immer neuen Varianten unserer sachten Berg- und Talfahrt, um nach zwei weiteren Pausen gegen zwölf Uhr das Ortsschild von Eutin zu passieren. Die Kreisstadt von Ostholstein lag im Tiefschlaf. Wir fragten an einer Tankstelle nach dem Sportplatz, aber die wussten von nichts. Wahrscheinlich handelte es sich um HSV-Anhänger. Ein älterer Mann sagte uns dann, wie wir zum Fritz-Latendorf-Stadion und zum Campingplatz kommen würden.
Am schönen Kellersee, im Ortsteil Fissau, stellten wir die Räder ab und bauten unsere Mini-Zelte ganz in der Nähe des Ufers auf.
Im Nu waren wir alle im Wasser. Jasper schlug vor, bis zu einem Boot zu schwimmen, das etwa 100 Meter vom Ufer entfernt vor Anker lag. Naja, ich schwamm hinterher. Als ich beim Boot ankam, musste ich erst mal eine Pause machen, ich hielt mich an der Ankerkette fest, so außer Atem war ich. Ich hing noch am Boot, als die Jungens längst wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Eine Folge meiner Krankheit? Die BCG-Therapie? Oder einfach nur Altersschwäche? Mit Müh und Not, völlig platt, erreichte ich das Ufer. Ich blieb noch eine Weile im Wasser, um den Jungens nicht zu zeigen, wie kaputt ich war.
Der Himmel bewölkte sich zunehmend, warm war es aber immer noch. Ich lag jetzt im Gras und döste vor mich hin, unterdessen Jasper und Henning schon eine Kiste Astra geholt hatten. Die würde ja wohl bis zum Einschlafen reichen. „Opa, willst du auch ein Rotlicht-Bier?“, fragte Kai scherzend. Dabei war ich ja nun wirklich ein Opa. Ja, ich wollte ein Rotlicht von Astra mit 6 % Alk im Gesöff.
Während ich so dalag, fragte ich mich, was wohl aus dem lustigen Morike Sako geworden war. Ich hatte Thomas Meggle gebeten, etwas für ihn zu tun. Und wo war Paddi Borger eigentlich abgeblieben? Auch von diesem guten Jungen hatte ich lange nichts mehr gehört. Vielleicht hatten sie inzwischen alle einen Job im Büro oder irgendwo sonst. Das wünschte ich jedem Spieler, der es nicht bis ganz oben geschafft hat.
Die Jungens machten Sprüche über Frauen, die in der Nähe am Grasstrand lagen oder sich vor den Zelten und Campingwagen bewegten.
Es ging die Rede – ganz wie damals, als ich noch jung war – von dicken Möpsen, einem Arsch wie dem eines Brauereigauls, frustrierten Hühnern und holsteinischen Bauernmägden.
Um fünf Uhr fuhren wir los zum Stadion. Ich hatte mir eine lange Hose angezogen und eine Jacke mitgenommen. Gleich hinter der Kasse traf ich den Vizepräsidenten Dr. Bernd Spies, den ich gerne als zukünftigen Präsidenten des Vereins gesehen hätte. Fabian Boll, Marcel Eger, Florian Lechner und Bene Pliquett begrüßten mich freundlich. Kai holte Bier, Henning und Jasper die Würste.
Die Jungs blieben in Höhe des Bierstandes stehen, ich machte mich auf den Weg hinter die Ersatzbank unserer Mannschaft. Das Spiel begann mit einer Viertelstunde Verspätung und ohne Boller. Marcel Eger und Florian Lechner spielten von Anfang an.
In der ganzen ersten Halbzeit überragte ein Spieler unserer Braun-Weißen alle anderen: Rouwen Hennings, den ich zu Beginn seiner Laufbahn beim FC St. Pauli stets kritisch gesehen hatte. Ständig in Bewegung, wechselte er klug die Seiten, schlug scharfe Flanken genau getimt in den Strafraum, hämmerte aufs Tor oder stand im Sechzehner genau dort, wo der Ball hinkam.
Sukuta-Pasu enttäuschte. Marcel und Flo zeigten, dass sie um ihre Plätze kämpfen werden. Das Spiel lief flüssig. Es gab Überraschungsmomente, Finten und Tricks zuhauf. Die Zuschauer spendeten in der zweiten Halbzeit immer wieder Beifall auf offener Szene, und den forderte vor allem das Spiel eines Mannes heraus: Deniz Naki zog alle Register. Es war zu sehen, dass er einmal ein ganz Großer werden kann. Und Holger Stanislawski würde ihm den Weg dahin bereiten. Dachte ich.
In der zweiten Halbzeit lernte ich drei junge Leute aus Hamburg kennen, den Studenten Lasse Koch, seinen Bruder und die Freundin von Lasse, Miriam Schmidt, die Germanistik studierte. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt und vor allem über den FC St. Pauli. Lasse hatte den Durchblick. Am ersten Spieltag wollte er nach Freiburg. Wir überlegten gemeinsam, wer in der Startelf aufgeboten werden sollte.
Und nachdem Stani den Peruaner Zambrano in die Innenverteidigung gestellt hatte, wurde uns rasch klar, dass dieser Junge eine absolute Verstärkung für unsere Abwehr sein würde. 20 Minuten vor Schluss machte ich mich aus dem Staub und holte meine Jungens wieder ab. Es nieselte ein wenig. Eine Viertelstunde vor Schluss schossen die Eutiner noch das Ehrentor zum 1:7.
Es wurde bereits dunkel, als wir am Campingplatz eintrafen. In der Nähe des Ufers gab es Grillplätze, an denen man ein Feuer machen durfte. Jasper, Kai und Henning sammelten Holz. Am anderen Ufer des Sees sah man die Scheinwerfer von Autos, die zwischen den Waldlichtungen durch die mondlose Nacht fuhren. Als ich das Feuer ansteckte, flogen die Funken über das knisternde Holz hinweg hoch in die Luft. Der Wind vom Kellersee her wurde stärker, und Henning erzählte die Geschichte vom totgefahrenen Hund aus dem Kosovo. So lange hatte ich ihn noch nie an einem Stück reden hören. Kai war in der Zeit schon eingeschlafen. Für mich war es ein wunderbarer Tag gewesen: Allein mit meinen beiden Söhnen und deren gutem Freund Jasper auf dem Rad unterwegs zu einem Pauli-Spiel. Der Krebs verschwunden, vielleicht besiegt? Alles würde gut werden. Vielleicht.
Am nächsten Morgen war ich gegen fünf Uhr wach. Auf der Toilette traf ich einen alten Mann, der mich fragte, ob ich Angler sei. Ich verneinte. Er sagte, ich sähe aber aus wie ein Angler. Ich und aussehen wie ein Angler? Unglaublich! Waren einzelne Holsteiner denn schon am frühen Morgen betrunken? Ich ging unter die Dusche, das Wasser war angenehm warm.
Gegen acht Uhr hatten wir alle gefrühstückt und machten uns auf die lange Heimreise in Richtung Süden. Als wir in Henstedt-Ulzburg ankamen, waren wir insgesamt dreimal nass bis auf die Haut gewesen, glücklicherweise aber auch dreimal wieder von der Sonne getrocknet worden.