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KAPITEL 2

EIN TRAUM WIRD WAHR

Im Jahr 2009 war ich insgesamt viermal an Blasenkrebs operiert worden. An dem Tag, an dem der Urologe Bernd Hoffmann aus Ulzburg meine Krankheit entdeckt hatte, dem 30. Januar 2009, wusste ich noch nicht, was mir in den kommenden Monaten bevorstehen würde.

Wenn mir jemand ernsthaft vor der Saison 2009/10 prophezeit hätte, dass der FC St. Pauli in die Bundesliga aufsteigen würde, dann hätte ich jede Wette dagegen gehalten. Bereits das Auftaktspiel, gegen den späteren Absteiger RW Ahlen am Millerntor, hatte bei den meisten Fans und mir viele Wünsche offengelassen.

Am 17. August 2009, dem Tag, an dem unsere Jungs zum Eröffnungsspiel im neuen Tivoli zu Aachen antreten mussten, war ich wieder einmal auf dem Operationstisch des Universitätskrankenhauses Eppendorf (UKE) gelandet. Das Match in Aachen war das zweite Spiel der Saison. Als ich in jener Montagnacht nach der Operation die Augen aufschlug, fragte ich die Schwester an meinem Krankenbett, wie unser Spiel bei den Aachener Alemannen ausgegangen sei. Als sie sagte, dass wir dort 5:0 gewonnen hätten, dachte ich in meinem Dämmerzustand, dass ich aufgrund meines stets vorbildlichen Lebenswandels vom lieben Gott bereits vorzeitig ins Paradies befördert worden sei, frei nach der These „only the good die young“, und dass der Aufstieg in die Bundesliga in dieser Saison nun unmittelbar bevorstehe.

Aber bis zur Erfüllung dieses Wunschtraums war es noch ein weiter Weg.

Zu Hause gegen Kaiserslautern, unmittelbar vor meinem runden Geburtstag, sahen wir alt aus. Die roten Teufel waren einfach besser als unsere Truppe. Das hatte sich schon eine Woche vorher beim Auswärtsspiel am Bornheimer Hang gegen den FSV Frankfurt angedeutet. Nur mit Ach und Krach hatten wir dort gewonnen. Besser sahen wir dann beim Auswärtsspiel in Oberhausen aus. Wir spielten dort nach schleppendem Beginn frech nach vorne und wurden mit einem Sieg belohnt. Nach Oberhausen war ich gemeinsam mit Thomas Meggle gereist. Der Weg vom Parkplatz bis zum Stadion war für Meggi eine Art Spießrutenlauf mit Belästigungen. Zwei Blondinen küssten ihn auf die Wange, andere versuchten seine Hand zu erhaschen. Thomas war das unangenehm. In der Regel war in Deutschland so etwas früher nicht üblich, und geküsst wurde nur, wenn das Licht aus war, und bei der Oma unterm Weihnachtsbaum. Auf der Buchmesse in Frankfurt, die wir am nächsten Tag gemeinsam besuchten, blieb Thomas unbehelligt.

Das Auswärtsspiel in Rostock sah ich mir aus Sicherheitsgründen lieber im Fernsehen an.

Als Deniz Naki seine zur Legende gewordene „Halsabschneider“-Handbewegung machte, da fühlte ich mich an meine Jugendzeit erinnert. Obwohl ich nördlich des Mains geboren bin und wahrscheinlich kein sizilianisches Blut in meinen Adern fließt, wäre ich auch zu einer solchen Reaktion fähig gewesen. Deshalb fand ich Deniz Nakis Reaktion auf die Provokationen der Rostocker „Fans“ auch gar nicht so dramatisch, wie die ewig moralinsauren Teile des FC-St.-Pauli-Anhangs das im Nachhinein werteten. Und das Rammen unserer FC-St.-Pauli-Fahne in den Rasen des Rostocker Ostseestadions war mir wie eine Genugtuung für alles, was unserem Verein, unseren Spielern und Fans seitens des radikalen Rostocker Anhangs bisher angetan wurde. Ja, Corny Littmann hätte man sein müssen oder Helmut Schulte, dann hätte man dem Deniz eine Prämie zahlen können für diese gelungene Demonstration. Sieg in Rostock! Darauf kam es an. Was für ein Tag!

Dann, im November, wurde die Haupttribüne am Millerntor abgerissen. Auf Wunsch des Vorstandes sollte ich zur „Abrissparty“ am 12. November stellvertretend für die Fans aus dem Kuchen- und Bonzenblock eine Rede halten. Nachdem Cornelius Littmann und zwei Kommunalpolitiker feierlich gesprochen hatten, sagte ich:

„Liebe Fans des FC St. Pauli,

in knapp 20 Jahren habe ich bei rund 400 Spielen auf der Haupttribüne gesessen. Zunächst auf den rot angestrichenen Holzbänken, links vom Haupteingang. Da wurde es mir zu eng, weil meine Nachbarn und ich selbst im Laufe der Jahre immer dicker wurden. Ich bin dann auf einem Plastiksitz in Block 9 gelandet, gleich unterhalb der Presseleute.

Ich gebe zu: In all diesen Jahren habe ich mich nicht immer an die Regeln des Vorstandes gehalten, die für unser Verhalten im Stadion sozusagen Gesetz sind. Für mich, als einem Menschen, der, rein temperamentsmäßig betrachtet, unserem Deniz Naki sehr viel näher steht als einem Freiherrn von Knigge, war es sehr schwer, die hohen Ansprüche von Cornelius Littmann an mein Benehmen allzeit zu erfüllen. Inzwischen, nach dem Spiel in Rostock, gehöre ich zudem der Bewegung FREE NAKI an. Deniz, wir lieben dich!

Lieber Corny, liebe Anna vom Security Service Centro, vielen Dank dafür, dass ihr mich trotz meiner manchmal unflätigen Zurufe und Gesten in Richtung Schiedsrichter und Gästespieler stets auf meinem Platz belassen und nicht aus dem Stadion entfernt habt.

Zu meiner Entlastung kann ich vortragen, dass ich in der langen Zeit meines Haupttribünen-Schicksals dort circa 1.500 Astra 0,4 l getrunken, rund 8.000 Zigaretten geraucht und 400 Currywürste gegessen habe.

Es gab Tage, an denen ich, weil wir verloren hatten, tief enttäuscht über das Heiligengeistfeld in Richtung ‚Shamrock‘ geschlichen bin, aber es gab auch Spiele, nach denen ich so glücklich war, als hätte mir der liebe Gott in Form meiner Dauerkarte den vorzeitigen Zugang zum Garten Eden gewährt.

Es war aber nicht der liebe Gott, sondern es waren die Fußballgötter vom Millerntor, Thomas Meggle, Florian Bruns, Fabian Boll und Co., die mich manchmal in den Zustand der Glückseligkeit versetzt haben.

Liebe Fans des FC St. Pauli, die Haupttribüne des FC St. Pauli ist mir in 20 Jahren zur Stammkneipe geworden. Und von meinem Platz aus, in Reihe 10, habe ich hautnah Spiele miterlebt, gegen die ein Kick von Bayer Leverkusen den Charakter einer Schlaftablette hat. Es ist ein Wunder, dass ich all diese Aufregungen heil überstanden habe und noch am Leben bin. Deshalb, ihr Lieben, muss ich, auch im Namen zahlreicher Gesinnungsgenossen, in aller Form und mit Nachdruck gegen den bevorstehenden Abriss protestieren.

Nichts mehr wird so sein, wie es war.

Weil es aber wegen des schnöden Mammons nun trotzdem sein muss, habe ich folgende drei Wünsche an den Vorstand, wie mit dem Geld und den zukünftigen Mehreinnahmen verfahren werden soll.

1. Ich bitte, dafür Sorge zu tragen, dass in die neue Haupttribüne mehr Pissoirs eingebaut werden, sowohl für Männer als auch für Frauen. Diese Maßnahme baut Stress auf der Tribüne ab und erhöht den Bierumsatz.

2. Baut bitte keine unüberwindbare Barriere zwischen den neuen Zuschauerblock und das Spielfeld. Südländisch temperierte Zuschauer wie ich brauchen auch in fortgeschrittenem Alter stets das Gefühl, den Rasen bei gegebenem Anlass stürmen zu können.

3. Gebt Holger Stanislawski und André Trulsen eine lebenslange Dauerkarte, nicht für einen Sitzplatz, sondern für den Trainerjob. Etwas Besseres werdet ihr nicht finden.

Wenn noch etwas übrig ist von dem Geld, dann erhöht die Spielergehälter und die Prämien und sorgt dafür, dass uns Morike Sako erhalten bleibt, weil er der lustigste Kerl ist, den wir je hatten.

Hermann Hesse schrieb: ‚Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.‘ Darauf hoffe auch ich, nächstes Jahr, im neuen Stadion und in der ersten Liga.“

An den Wiederaufstieg in die Bundesliga, den ich im letzten Satz meiner Abrissrede erwähnt hatte, glaubte ich im November 2009 nicht wirklich.

Vielleicht hätte ich Prophet werden sollen! Doch zunächst, unmittelbar vor Weihnachten, am 16. Dezember 2009, musste ich zur nächsten Krebsoperation antreten. Allmählich verlor ich, mich selbst, meine Krankheit und meinen Beruf betreffend, die Zuversicht. Bislang hatte die BCG-Therapie, bei der mittels eines Katheters Tuberkulose-Bakterien in den Körper gepumpt werden, welche die Krebszellen bekämpfen sollen, anscheinend nicht richtig geholfen.

Diese Prozedur hatte ich nun schon ungefähr 15-mal über mich ergehen lassen müssen. In unmittelbarer Folge stellten sich regelmäßig Fieberschübe, Gliederschmerzen und eine bleierne Müdigkeit in meinem Körper ein. Doch wie durch ein Wunder teilte mir mein Arzt Bernd Hoffmann noch vor Weihnachten des Jahres 2009 mit, dass in meiner Blase keine neuen Krebszellen gefunden worden seien. Das war mein schönstes Weihnachtsgeschenk.

Von Kaiserslautern blieb mir in Erinnerung: eine Leere vor dem Bahnhof wie in einer osteuropäischen Provinzstadt, zwei hübsche und freundliche Kellnerinnen in einem Café am Hauptbahnhof, die mich in meiner Totenkopf-Jacke anlächelten, als käme ich von einem anderen Stern, sowie eine nicht weiter erwähnenswerte Niederlage.

Den Trip nach München gegen die Sechziger lohnte allein der schöne Frühschoppen im „Augustinerkeller“ auf Einladung unseres Vorstands und das Wiedersehen mit meinem alten Freund Hartmut Grimm. Nach der berechtigten Niederlage gegen zehn Sechziger verstärkte sich mein Eindruck, dass wir in dieser Verfassung in der ersten Liga nichts zu suchen hatten.

Zum Spiel in Düsseldorf am Ostermontag traf ich mich mit Hemby, meinem Cousin, und mit den Töchtern meines vor vielen Jahren verstorbenen Freundes Helmut Dersch, Marion und Anke, die auch Fans des FC St. Pauli sind. Sobald die Sonne zum Vorschein kam, war es auch gleich so warm, dass man ohne zu frieren im Freien sitzen konnte. Also beschlossen wir, vor dem Spiel eine lustige Schifffahrt auf dem Rhein zu machen, doch am Ende des Tages hatten wir einmal mehr auswärts verloren. Dabei waren die Düsseldorfer nicht unbedingt stärker als wir.

Inzwischen hielten mich neben dem FC St. Pauli und meiner Krankheit auch berufliche Ärgernisse in Atem. Wegen eines Artikels, den ich Anfang Februar über Pressevielfalt und Marktmacht geschrieben hatte, forderte ein Hamburger Verlag eine Unterlassungserklärung von mir. Auf Anraten meines Anwalts Michael Nesselhauf unterschrieb ich nicht. In der Folge entwickelten sich Auseinandersetzungen ohne Ende, in die neben mir auch unabhängige Pressegrossisten und Journalisten einbezogen wurden.

Zum vorletzten Heimspiel gegen TuS Koblenz waren mein Chef und dessen Sohn mit von der Partie. Nach Fürth fuhr ich aus Aberglaube nicht mit, um sicherzugehen, dass wir dort eine Chance haben würden.

Fabian Boll und Thomas Meggle hatten mich ausdrücklich darum gebeten, daheim zu bleiben, weil unsere Spiele fast immer in die Hose gingen, wenn ich auswärts mitfuhr. Dafür waren Kai und Henning mit Jasper, einem Freund von den Beiden, im Fan-Zug unterwegs. Und siehe da: Sieg und vorzeitiger Aufstieg in die Bundesliga! Wahrscheinlich sind wir aufgestiegen, weil ich in Fürth nicht dabei war.

Das noch ausstehende Spiel daheim gegen Paderborn: Geschenkt. Aber nach dieser Niederlage schwante mir für die Bundesligasaison 2010/11 nichts Gutes. Wenige Tage später sagte unser Sportdirektor Helmut Schulte in einem Interview: „Wir spielen unten mit.“

Wir kommen wieder!

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