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KAPITEL 5

DAS FÄNGT JA GUT AN

In der Woche vor dem Bundesligastart am 20./21./22. August marschierte ich am Mittwoch brav zur BCG-Therapie bei meinem Urologen. Es war die 21. Einspritzung der Tuberkulose-Bakterien seit Ausbruch meiner Krankheit. An den eigentlichen Eingriff hatte ich mich längst gewöhnt. Wahrscheinlich war meine Harnröhre inzwischen durch die ständigen Installierungen so geweitet, dass allein deshalb alles ganz einfach ging.

Das Fieber kam immer am späten Nachmittag, auch bei dieser vorletzten „Installation“, wie Dr. Bernd Hoffmann das nannte. Ich begann schrecklich zu schwitzen. In der Nacht machten sich meine Nieren schmerzhaft bemerkbar. Was das wohl zu bedeuten hatte?

Ein weiteres Gespräch bei der Rentenberatung in Norderstedt hatte ergeben, dass ich zwar früher in Rente gehen könne, in jedem Fall aber die Kündigungsfrist meines Geschäftsführervertrags einhalten müsse. Da die Frist ein Jahr betrug, kündigte ich am Mittwoch, dem Tag meiner Therapie, zum 31. August 2011. Ich wollte nicht mehr und ich konnte nicht mehr.

Am Freitagabend fuhr ich mit meinem vierjährigen Enkel Bjarne nach Dahme in meine Ferienwohnung. Die Sommersonne schien noch warm vom Himmel. Allerdings stand hoch im Norden eine dunkle Wolkenwand über dem ostholsteinischen Land. Unendliche Stoppelfelder dehnten sich jenseits der Autobahn nach Westen. Auf der Straße zwischen Neustadt und Grömitz sah man hinter Büschen und Bäumen die sanft gewellte Ostsee in tiefem Blau in der Sonne glitzern. Hier wollte ich den wesentlichen Teil meines letzten Lebensabschnitts verbringen, lesen, schreiben, an den Wochenenden nach Hamburg zu den Spielen fahren.

Im Auto sang ich Bjarne Lieder aus meiner Kinder- und Jugendzeit vor, denn er mochte Musik. Ich sang für ihn „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ und auch das lustige Lied von Georg Danzer aus dem Café „Hawelka“ in Wien „Jö schau, so a Sau“.

Als wir hinter dem Deich von Dahme entlangfuhren, konnte Bjarne schon die Zeile „Es ist so heiß auf Hawaii, kein kühler Fleck, und nur vom Hula-Hula geht der Durst nicht weg“ singen.

Auf der Strandpromenade in Dahme warben einzelne Kneipen damit, dass sie das Freitagsspiel zwischen Bayern und dem VfL Wolfsburg übertragen würden. Es waren viele Menschen unterwegs, einzelne blieben auf unserer Höhe stehen und schauten uns lange hinterher.

Denn Bjarne, im braunen St.-Pauli-Trikot, sang nun auch hier unter den Augen und Ohren der deutschen Urlauber aus dem Frankenund Bayernlande unentwegt und ungeniert das Lied, das ich ihm im Auto beigebracht hatte: „Es gibt kein Bier auf Hawaii …“. Wenn er die Zeile mehrere Male hintereinander weg gesungen hatte, rief er im Stakkato: „Sankt Pauliii, Sankt Pauliii, Sankt Pauliii!“, während er gleichzeitig wie bei einer Demo der Achtundsechziger ruckartig die linke Faust hob und nach vorne reckte. Ich glaube, dass es Dinge gibt, die angeboren sind, die in den Genen liegen. Denn die Geste mit der Faust hatte ich ihm nur ein einziges Mal zu Hause in Henstedt gezeigt, und das war schon vor Wochen.

Um Bjarne auf andere Gedanken zu bringen, kaufte ich ihm bei einem „Dit un dat“-Laden einen knallroten Plastikrasenmäher. Wie sich herausstellte, machte der Rasenmäher aber, wenn man ihn vor sich her schob, einen Heidenlärm. Deshalb schlug ich Barni vor, in einen Biergarten zu gehen, um uns das Spiel der „Bayern“ anzusehen und etwas zu trinken. Bjarne bestellte sich eine Apfelschorle und ich mir ein Pils. Nachdem Bjarne einen Schluck genommen hatte, lief er mit seinem Rasenmäher vor der Kneipe mit Biergarten auf und ab, wobei er immer noch rhythmisch seine Begeisterungsbekundungen für den FC St. Pauli ausstieß. Es störte mich nicht weiter. Bjarnes Gesänge und Ausrufe fand ich aber angenehmer als das nervende Gerassel des Rasenmähers. Ja, dieser Junge war wahrscheinlich ein geborener Anarchist. Keine Macht für niemand!

„Was ist bloß mit diesem blonden Jungen los, da platzt einem ja der Kopf“, sagte ein älterer Mann zu seiner Begleiterin an einem Nebentisch.

„Das Kind gehört längst ins Bett“, antwortete die grauhaarige Frau.

Ich tat so, als hörte ich die Leute nicht.

„Sankt Pauliii!“, schrie Bjarne auf der Promenade, und dann fing er wieder an zu singen, nun aber ein Lied, das ich gar nicht kannte, dabei bewegte er seinen Kopf ruckartig von oben nach unten, als sei er ein Indianerhäuptling oder Sänger einer Punk-Band. Ich stand auf und kassierte den Rasenmäher ein. „Der Sprit ist alle“, sagte ich zu Bjarne. Er leistete keinen Widerstand.

„Die sind alle verrückt, diese Leute vom Kiez, von Kindesbeinen an“, sagte der alte Mann am Nachbartisch und schüttelte den Kopf.

„Sie werden dazu erzogen von ihren Hartz-IV-Eltern“, stimmte ein Mann mit ungepflegtem Vollbart zu.

„Ja“, bestätigte der alte Mann, „die Eltern und Großeltern bringen es den Kindern systematisch bei, wie man randaliert.“

„Und später werden Terroristen oder Zuhälter daraus.“ Die grauhaarige Frau neben dem Bartmann hatte es so laut gesagt, dass ich es hören sollte.

Aber ich reagierte gar nicht. Ich sah hinaus aufs Meer und nahm noch einen Schluck Bier.

Ich schnappte mir Bjarne und ging mit ihm zurück in die Wohnung, um zu Abend zu essen.

Als ich ihn in sein Bett legte, schlief er schon fest und machte keinen Mucks mehr. Am Samstagmorgen weckte Bjarne mich um 6:30 Uhr auf. Wir duschten. Ich zog ihm sein weißes FC-St.-Pauli-Auswärtstrikot mit der Nummer 17 an, auf dem der Name BARNI gedruckt war. Nummer 17, weil Fabian Boll der Lieblingsspieler von Barni war.

Nach dem Frühstück gingen wir hinüber zum Strand, mieteten einen Strandkorb und begannen eine Sandburg zu bauen. Gegen Mittag aßen wir zwei Fischfrikadellen und tranken etwas. So langsam begann es in mir zu kribbeln. Nach dem Mittagsmahl schlief Bjarne im Strandkorb ein, und im Westen zogen Wolken auf.

Um Schlag 15 Uhr verließen wir den Strand und gingen zurück zur Wohnung. Ich wollte im Radio einen Sender suchen, auf dem wir uns das gesamte Spiel anhören könnten. Vielleicht würde es ja auch vom NDR übertragen. Weit gefehlt! Ich landete nach langem Suchen immer wieder bei Moderator Uwe Bahn, dem bekennenden HSV-Fan. Dann, endlich, 15:30 Uhr. Das erste Spiel des FC St. Pauli in der Bundesligasaison 2010/11! Bjarne saß so gespannt vor dem Radio, als würde darin gleich etwas ganz Außergewöhnliches passieren.

Aus dem Äther war bei der ersten Liveschaltung nach Freiburg zu erfahren, dass der FC St. Pauli frisch von der Leber weg nach vorne spielte. Gegen Freiburg wiesen wir mit drei Siegen, zwei Remis und nur einer Niederlage bisher eine gute Bilanz auf. Es nervte mich sehr, dass ständig Berichte aus allen Spielen einander abwechselten und dass aus dem Dreisam-Stadion kaum etwas Konkretes zu erfahren war.

3.000 der 24.000 Besucher in Freiburg waren aus Hamburg angereist, so der Reporter. Wir erspielten uns Chancen. Kein Wunder, in der letzten Saison in der zweiten Liga waren wir die stärkste Offensivmannschaft im gesamten bezahlten Fußball gewesen.

Längst hatte Bjarne seinen Schneidersitz vor dem Radio aufgegeben. Er hatte sich ein Springseil aus der Spielzeugkiste geholt und benutzte nun das eine Ende als Mikrofon. Wie ein Flummi auf zwei Beinen tobte er über den Teppich und schrie „Sankt Pauliii, Sankt Pauliii“ in das imaginäre Mikrofon. Sowie Bjarne in Richtung Ausgang des Wohnzimmers tanzte und sprang, störte er den Empfang des Radios. Der Lautsprecher knarzte und krachte, dass es eine Sau grauste. Aber ich sagte nichts. Nach 45 Minuten war der Junge ausgelaugt. Er hatte sich mit hochrotem Kopf auf das Sofa gelegt und war eingeschlafen.

Dass Moderator Uwe Bahn unsere Elf als die „Komiker vom Kiez“ bezeichnete, fand ich nicht witzig. Der sollte doch besser die Wasserstandsmeldungen ansagen.

Der Reporter in Freiburg sprach nach 55 Minuten von einer klaren Überlegenheit des FC St. Pauli. Über einzelne Spielzüge erfuhr man nichts, außer, dass Matthias Hain bisher kaum etwas zu halten gehabt hatte.

Ich setzte mich auf den Balkon und hörte mir von dort aus die Reportage an. Die Sonne war nun hinter den Wolken verschwunden. Ein leichter Wind wehte von der Ostsee herüber. In den Bäumen an der Aue fielen die ersten gelben Blätter auf den gemähten Wiesenstreifen am Spazierweg, der hinüber zu Deich und Strand führte.

In der 60. Minute wechselte Stani Florian Bruns, das Geburtstagskind, gegen Max Kruse aus. Ich tigerte in der Wohnung umher, vom Balkon ins Bad, vom Bad in den Flur, vom Flur ins Wohnzimmer. Bjarne lag wie ein kleiner Engel auf dem Sofa und streckte alle viere von sich.

Gut 20 Minuten vor Schluss brachte Stani Fin Bartels aufs Feld. Weitere zehn Minuten später, als die Millerntor-Abwehr wohl auf Abseits spekulierte, kam es knüppeldick: Nach eindeutiger Überlegenheit unserer Braun-Weißen während der gesamten Spielzeit verpassten uns die als Mitabsteiger gehandelten Breisgauer den vorläufigen Knockout und gingen mit 1:0 in Führung. Gut, dass der Junge schlief, gut, dass er das nicht miterleben musste. Aber mein Team, unser Team kam noch einmal. So wie in seinen allerbesten Tagen. Und es kam mit einem meiner Lieblingsspieler, Fabian Boll. Der Junge nämlich donnerte knapp zehn Minuten vor Schluss den Ball zum Ausgleich in die Maschen. Fabian: Neun Jahre beim FC St. Pauli, aus der Amateurliga in die erste Liga. Da kann man sehen, was Wille, Fleiß und Charakter bewirken können. Doch das war an diesem Tag, dem 21. August im Jahr des Herrn 2010, beileibe noch nicht alles. In der 90. Minute traf Sukuta-Pasu, der gegen Eutin 08 noch ein Ausfall gewesen war, zum 1:2 für uns. Nur Sekunden später erhöhte Bartels nach Pass von Sukuta-Pasu auf 1:3. Ich sprang von meinem Stuhl auf. Ich ging zum Sofa und hob Bjarne hoch in die Luft. „Unser FC St. Pauli hat 3:1 in Freiburg gewonnen“, sagte ich zu ihm. Es dauerte eine Weile, bis Bjarne das begriffen hatte. Ich machte mir ein Astra auf, Bjarne bekam ein Kinderbier. Wir stießen miteinander an. Dann hissten wir die Piratenflagge auf dem Dahmer Balkon. Es war sonnenklar: Der FC St. Pauli würde in dieser Saison unter den Top Ten im deutschen Fußball landen.

Am Sonntagmorgen fuhr ich ganz früh mit Bjarne zurück nach Henstedt, wo ich mir ab Mittag das Spiel der Kaltenkirchener gegen Rhen II und dann Rhen I gegen Flensburg 08 ansah.

Wir kommen wieder!

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