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KAPITEL 1

DER BUSINESS-SEAT

Vor der Aufstiegssaison 2009/10 hatte ich versucht, eine zweite Karte für die Haupttribüne am Millerntor zu bekommen, die mir ein Bekannter in der Geschäftsstelle zum Preis von rund 500 Euro in Aussicht gestellt hatte. Dann aber teilte mir mein Kontaktmann mit, dass auf der Haupttribüne nichts mehr frei sei. Stattdessen könne er mir einen Business-Seat auf der Südtribüne anbieten, ausnahmsweise zum Preis vom Vorjahr. Ich machte mir keine Gedanken darüber, was eine solche Karte kosten würde. Es schien sich ja ganz offensichtlich um ein Sonderangebot zu handeln. Ich wollte die Karte für Freunde oder Verwandte nutzen, die mal ein Spiel unseres Vereins sehen wollten. Dass wir dann getrennt voneinander sitzen müssten, war in meinen Augen vertretbar. Vor und nach dem Spiel würden wir ohnehin zusammen ins „Shamrock“ gehen.

Der Kontaktmann vom Verein schickte mir die Karte und die Rechnung. Auf der Karte stand: „Business-Seat, Block S2, Reihe 14, Platz 10“, und ganz fett: „SPONSOR“, und klein darunter: „Hermann H. Schmidt“.

Ehrlich gesagt, ich hatte über meine Mitgliedschaft hinaus nie eine Sponsorentätigkeit beim FC St. Pauli angestrebt. Zwar war ich seit einiger Zeit in den „Freundeskreis des FC St. Pauli“ berufen worden, in dem mehrere Unternehmer und Manager die Geschicke des Vereins wohlwollend begleiteten, doch bei meinen vergleichsweise überschaubaren Vermögensverhältnissen war ich als Sponsor eher nicht geeignet.

Die Höhe des Rechnungsbetrags für die Dauerkarte auf der Südtribüne raubte mir den Atem. Es musste eine Verwechslung vorliegen. Um das mir avisierte Schnäppchen zum einmaligen Sondertarif, dem Dauerkartenpreis vom Vorjahr, konnte es sich nicht handeln. Ich hätte für diese Summe angesichts meiner bescheidenen Ansprüche auf Malle überwintern können. Aber ich nahm es wie ein Mann: Andere Männer meiner Gehaltsklasse besitzen ein Segelboot, fahren einen Porsche oder unterhalten eine Zweitpartnerschaft in Sewastopol. Ich hingegen besaß nun neben meinem Stammplatz auf der Haupttribüne einen Business-Seat im Stadion des FC St. Pauli.

Na gut, weil ich nicht frei von Stolz bin, gebe ich zu: Es wäre mir peinlich gewesen, die Karte an den Verein zurückzuschicken. Womöglich hätten die, die mich dort kannten, gedacht, dass ich verarmt bin, weil ich meine Kohle mit Kumpels versaufe oder verzocke oder mit wildfremden Weibern durchbringe. Nein, diese Blöße wollte ich mir nicht geben.

Ich behielt die Karte, bezahlte die Rechnung und saß beim Saison-Eröffnungsspiel gegen Rot-Weiß Ahlen auf der Südtribüne, während ich meine Haupttribünen-Dauerkarte an einen Kollegen aus einem befreundeten Verlag verliehen hatte.

Der Platz auf der Südtribüne war nicht schlecht, aber die Ultras brüllten von der ersten bis zur letzten Minute, und als das Spiel fertig war, hatte ich gerade mal zwei Bier getrunken, eine Wurst gegessen und Kopfschmerzen von den Gesängen der Hardcore-Fans. Ich begann darüber nachzudenken, wie ich trotz meiner großen Liebe zum FC St. Pauli mit der Business-Karte mal ein richtig gutes Geschäft machen und einen entsprechenden Gegenwert erhalten könnte.

Es war kein Trost für mich, dass ich, wie mir in einem mehrere Seiten umfassenden Begleitschreiben zu Karte und Rechnung vom Präsidium mitgeteilt worden war, nun in der Stadionzeitung und im Treppenflur des Aufgangs zur Südtribüne namentlich als Mitglied der „EHRENWERTEN GESELLSCHAFT“ aufgeführt sein würde und dass außerdem der mit braunem Kunststoff bezogene Klappsitz mit meinem Namen beschriftet werden sollte.

Wenn ich den Preis der Südtribünen-Dauerkarte durch die Anzahl der Punktspiele der kommenden Saison teilte, dann kam ich auf einen Betrag von rund 160 Euro, die ich pro Spiel gelöhnt hatte. Mir war klar, dass ich persönlich diesen Betrag niemals durch freies Essen und Trinken im Ballsaal und auf der Tribüne würde ausgleichen können.

Und dies, obwohl ich in einem Ort geboren und aufgewachsen bin, der in Deutschland nach der bayerischen Landeshauptstadt den zweithöchsten „pro-Kopf-Bierverbrauch“ nachweisen kann. Aber im Gegensatz zu den Münchnern haben wir alles selbst gesoffen, denn Touristen verirren sich nach Biedenkopf an der Lahn so gut wie gar nicht.

Es lag aber auf der Hand, dass ich nicht mehr der Mann war, der im Laufe eines Spiels den Preis der Dauerkarte wegsaufen kann.

Ich beschloss, den zukünftigen Einsatz der Dauerkarte mit meinen Söhnen Kai und Henning zu besprechen. Von beiden lässt sich sagen, dass sie nicht aus der Art geschlagen sind. Kai, der Ältere, kann sehr viel Bier trinken und auch große Portionen essen. Aber irgendwann ist auch bei ihm Schluss. Es steht ihm dann Oberkante Unterlippe. Trinkt er nur ein Glas zu viel, dann wird ihm schlecht. Kai lehnte es also ab, die Gegengerade zu verlassen und testhalber gegen den Business-Seat einzutauschen.

Henning ist ganz ohne Zweifel derjenige in unserer Familie, der am meisten trinken kann. Er trank mir schon als kleiner Junge immer den Schaum vom Pils ab und wollte sich bereits bei der Konfirmation seines älteren Bruders, als er noch nicht einmal zur Schule ging, ein Gedeck (Bier und Korn) bestellen. Fragte man ihn damals, was er sich zum Geburtstag oder zu Weihnachten wünsche, dann sagte der Junge: „Ein Bier und was zum Lesen.“ Henning verträgt nicht nur Bier, sondern auch andere alkoholische Getränke. Nur: Wenn Henning trinkt, dann isst er grundsätzlich nichts. Einen Betrag in Höhe des umgerechneten Dauerkartenpreises pro Spiel allein durch Trinken wieder auszugleichen: Das schien selbst für so einen zähen Kämpfer wie Henning eine aussichtslose Sache zu sein.

Er war es schließlich, der die rettende Idee hatte. Da gab es noch seinen Kumpel Jakob, mit dem er vor Jahren den Ortsverein der POGO-Partei in Norderstedt gegründet hatte. Jakob, gelernter Dachdecker, arbeitete jetzt im Hamburger Hafen. Er gierte seit Jahr und Tag danach, immer dann, wenn er nicht selbst mit seinem Verein in der Kreisliga in Elmshorn spielen musste, Spiele des FC St. Pauli anzusehen.

Zum zweiten Spiel der Zweitliga-Saison gegen die Zebras aus Duisburg würde Jakob, den meine Söhne als den „Mann aus Eisen“ bezeichneten, zum Einsatz auf der Südtribüne kommen. Henning und Kai hatten ihn an mehreren Abenden auf seine Aufgabe vorbereitet.

Kai, Henning und ich holten Jakob, den Mann, auf den ich alles gesetzt hatte, am Samstag, den 22. August, um neun Uhr zu Hause ab und fuhren mit ihm ins „Shamrock“ in der Feldstraße.

Jakob trug ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „THE CHAMPION“ auf dem Rücken und eine kurze Hose, die unterhalb der Knie endete. Ich bestellte drei Becks für die Jungs und für mich ein Wasser. Jakob sah beeindruckend aus. Er war 1,90 Meter groß, an den Beinen stark behaart. Ein kantiges Kinn verlieh ihm etwas Kämpferisches, und seine hellblauen Augen ließen mich vermuten, dass er einen Zapfhahn zum Glühen bringen konnte.

„Jakob“, sagte ich, „Jakob, du sitzt heute allein auf der Südtribüne. Essen und Trinken, alles ist frei.“

„Alles klar, Chef“, antwortete Jakob, „I’ll do my very best.“

Ich fragte Jakob: „Wie viel kannst du trinken, Junge?“

„Es kommt auf die Tagesform an“, antwortete Jakob, „aber heute habe ich ein sehr gutes Gefühl.“

Wir rechneten gemeinsam aus, was Jakob konsumieren müsste, um auf einen Gegenwert von 100 Euro zu kommen. Alsbald stritten wir darüber, ob sie im Catering des FC St. Pauli in 0,3 oder 0,4 l ausschenken und was ein Glas Bier 0,33 l im Durchschnitt in Deutschland kostet.

Es war uns allen klar, dass, was auch immer geschehen würde, die Aufgabenstellung für Jakob sehr anspruchsvoll war. Anderthalb Stunden vor Spielbeginn verließen wir die Wirtin April Young und das „Shamrock“ und gingen hinüber zur Südtribüne.

Als wir Jakob am Aufgang zu den Bonzenplätzen ablieferten und die schwarzen Ordner ihm das gelbe Armband wie eine Handschelle anlegten, sah Jakob, der Mann aus Eisen, nicht mehr zurück. Er hob die linke Faust zum Gruß wie einst 1968 die Black-Panther-Sympathisanten Tom Smith und John Carlos bei der Siegerehrung zum 200-m-Finale im Olympiastadion von Mexico-City. Ich erschauerte in Ehrfurcht.

„Wir holen dich nach dem Spiel hier an Ort und Stelle wieder ab“, rief ich Jakob noch hinterher.

Unmittelbar vor Spielbeginn klingelte ich Jakob über Handy an, um die Lage zu peilen und den Zwischenstand zu erkunden.

„Ey Alter“, sagte Jakob sehr ruhig und bestimmt, „ich habe schon zwei Currywürste mit Pommes verdrückt und bis jetzt sieben Bier getrunken.“

„Das kann sich sehen lassen“, erwiderte ich anerkennend, „aber mach schön langsam, übernimm dich nicht. Nicht, dass dir noch schlecht wird.“

„Mir und schlecht werden“, äffte Jakob mich nach, „sehe ich vielleicht aus wie ein Mann, dem nach sieben Bierchen schlecht wird?“

Ich gab keine Antwort, und dann sagte Jakob noch: „Aber es ist ein geiler Platz, den du da gekauft hast. Hier, direkt an der Treppe, kommt die Kellnerin alle fünf Minuten vorbei. Bei jedem zweiten Mal lasse ich mir drei Bier geben. Das flutscht nur so. Schluck, schluck, schluck, und weg ist das Astra.“

„Gemach, gemach“, gab ich zu bedenken, „in der Ruhe liegt die Kraft. Denk dran, Jakob: Ein Spiel hat 90 Minuten.“

„Jawohl, Herr Lehrer“, gab Jakob zur Antwort, „ich esse jetzt erst mal vier Scheiben von dem Schweinebraten und ein bisschen Rotkohl dazu.“

Tut. Tut. Tut. Jakob hatte das Gespräch beendet. Ich suchte die Südtribüne mit bloßem Auge ab und sah von ferne, wie ein großgewachsener Mann in halblangen Hosen die Tribünentreppe hinunterschritt. Die Sonne knallte auf den Rasen. Der Schiedsrichter pfiff das Spiel an.

Ich überschlug kurz, was Jakob schon geleistet hatte: sieben Bier, zwei Currywürste mit Pommes, und nun kämen noch mal vier Scheiben Schweinsbraten mit Rotkohl und mindestens drei weitere Biere hinzu. Da kamen schon mal locker schlappe 50 Euro zusammen.

Das Spiel gegen den MSV Duisburg war wirklich kein Knaller. Der Kick plätscherte so vor sich hin. Was Jakob jetzt wohl trieb? Gottlob schenkten sie keinen Schnaps aus im Ballsaal.

Ich dachte, dass es gut sei, wenn er öfter zum Klo ginge, denn eine gute Verdauung schafft Platz für Nachschub, und wie der Engländer schon ganz richtig sagt: „What comes in, must come out.“

In der Halbzeit meldete sich Jakob wieder. Seine Stimme klang gedämpft, die Sprache hatte an Fahrt verloren.

„Alter“, sagte er langsam, „mein Alter, ich sehe mir jetzt das Spiel auf der Großbildleinwand im Ballsaal an. Ich sitze an der Theke. Und dreimal darfst du raten, was hinter der Theke ist.“

Ich schwieg einen Moment, um zu überlegen.

Und wieder Jakob: „Nu rate mal, Alter!“

„Woher soll ich das wissen“, entgegnete ich, „nun lass schon die Katze aus dem Sack. Jakob, was ist hinter der Theke?“

„Na, was schon“, tönte Jakob, „was ist hinter der Theke, was wird da wohl sein, du Eimer. Eine rattenscharfe Alte ist hinter der Theke.“

Jakob schien schon ganz schön knülle zu sein. Auf dem Platz lag eine Niederlage gegen die Zebras in der Luft.

„Jakob“, sagte ich, „reiß dich zusammen, solche sexistischen Sprüche kannst du beim FC St. Pauli nicht bringen, und schon gar nicht in diesem noblen Ballsaal. Sie werden dich noch rausschmeißen.“

„Mann“, sagte Jakob, „Mann, Hermann, mich und rausschmeißen. Die Frau hinter der Theke heißt Lucy und sieht aus wie eine Zigeunerin, einfach hinreißend. Und ich kommunisiere mit ihr.“

„Wie“, fragte ich, „was soll das heißen, du kommunisierst mit ihr.“

„Ja, kommunisieren, das ist schon etwas mehr als reden“, antwortete Jakob, „die Sprache ist nämlich die Quelle aller Missverständnisse.“

„Soso“, sagte ich resignierend.

„Und“, ergänzte Jakob, „wie sagte schon der berühmte französische Flugzeugpilot und Dichter Saint-Exupéry, kurz bevor er in der afrikanischen Wüste abstürzte, er sagte ganz einfach: ‚Man sieht nur mit den Augen gut.“‘

Ich konnte nur noch den Kopf schütteln.

„Das wird noch böse enden“, dachte ich.

Nun flüsterte Jakob: „Ja, und sie hat mir schon aus der Hand gelesen. Augen hat sie, die Lucy, schwarz wie die Nacht. Damit hat sie mir aus der Hand gelesen. Ich sage dir, sie verfolgt jeden Millimeter meiner Hand-Innenfläche, jede Spur und jede Linie, und sie sagt, dass in der Lebenslinie geschrieben steht, dass ich treu und ehrlich bin und im Mai des kommenden Jahres wird etwas ganz Unglaubliches passieren.“

„Was soll passieren im nächsten Frühjahr“, fragte ich ganz ruhig.

„Darauf kommst du nie, Alter“, sagte Jakob nun wieder lauter.

„Nee, keine Idee“, antwortete ich.

„Der FC St. Pauli steigt auf“, sagte Jakob bedeutungsschwanger, „es steht in meiner Hand geschrieben.“

Ich war sprachlos.

„Da staunst du, was?“ fragte Jakob.

Ich sagte nichts mehr.

„Lucy, mach mir noch mal drei Bier“, hörte ich ihn von ferne sagen. Jakob hatte sich wohl die nächste Runde bestellt.

„Ich bin bei Bier Nummer 13“, erklärte er wieder leise und fügte dann flüsternd hinzu: „Ich verschwinde nun mal kurz in der Besenkammer.“

„Jakob“, sagte ich, „Jakob, hör jetzt auf mit dem Scheiß, die Toilette ist einen Stock höher.“

„Die Besenkammer such ich“, sagte Jakob, „nicht die Toilette.“

Ich war mit den Nerven fertig. Hoffentlich zeigte der meine Dauerkarte mit dem Namen HERMANN SCHMIDT nicht herum. Das konnte ja noch heiter werden. Wo doch sexuelle Belästigungen und jedwede andere Unverschämtheit in unserem Verein von Corny & Co. mit drakonischer Härte verfolgt wurden.

Nach 90 mittelmäßigen Minuten stand das Spiel 2:2, und der Schiedsrichter pfiff ab. Florian Bruns war der überragende Mann auf dem Platz gewesen. Henning, Kai und ich warteten vor der Südtribüne auf Jakob. Nach einer Viertelstunde stand Jakob mit einem strahlenden Lächeln vor uns. Neben ihm stand eine dunkelhaarige, junge Frau, die so schön war, dass es meinen Söhnen und mir die Sprache verschlug. Sie sah aus wie die jüngere Schwester von Julia Roberts, nur noch verführerischer.

„Und ab geht die Lucy“, sagte Jakob, und Lucy zwinkerte uns zu.

Er legte den rechten Arm um ihre Hüfte, gab mir die Dauerkarte zurück und verabschiedete sich. Wohin sie anschließend gegangen sind, das wird Jakobs Geheimnis bleiben und ebenso, ob Jakob tatsächlich 13 Bier an diesem Nachmittag getrunken hat.

Die Investition für die Business-Karte aber hat sich durch eine glückliche Fügung bezahlt gemacht. Wir haben dem Mann von der Kartenabteilung des FC St. Pauli ein Schnippchen geschlagen. Lucy und Jakob haben sich nämlich zu Weihnachten 2009 verlobt. Wo kriegt man schon eine Frau fürs Leben zu einem solchen Spottpreis?

Das größere Wunder freilich war der von Lucy vorhergesagte Aufstieg des FC St. Pauli ein paar Monate später.

Wir kommen wieder!

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