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KAPITEL 8

MÜDER HSV AM MILLERNTOR

In der Tagungsstadt Baden-Baden angekommen, ging ich eine Weile alleine am Flüsschen mit dem Namen Oos entlang, um mich ein wenig zu erholen. Das Wasser plätscherte über die in Beton gegossene Flussrinne, und einzelne Blätter trieben über die glatt geschliffenen Steine hinweg. Der Herbst zeigte sich in den Farben der Bäume an den Berghängen. Ein müder, abgestandener Sommerwind züngelte um die Häuser der Stadt. Die Jungmanager unserer Branche (im Alter zwischen 40 und 50) saßen in den Cafés herum, dabei immer ganz wichtig aussehend, und tauschten die jüngsten Gerüchte aus. Jeder wusste alles. Doch: Viele fühlen sich berufen, nur wenige sind auserwählt.

Selbst zu dem bevorstehenden Spiel des allmächtigen HSV am Millerntor hatten sie eine Meinung, und fast alle waren sich einig, dass wir eine Klatsche bekämen. Ich stellte mir vor, dass wir 3:1 gegen den HSV gewinnen würden.

Als ich aus Baden-Baden zurückkam, lag die Hauptstadt des deutschen Fußballs im Fieber. Selbst die, die noch nie etwas mit Fußball zu tun gehabt hatten, sprachen über das Derby.

Am Sonntagmorgen war ich schon um sechs Uhr aufgestanden. Im Fernsehen sah ich mir eine Sendung über Sibirien an. Dann duschte ich und zog die zurechtgelegten Klamotten an: braune Socken, braune Unterhose, braunes FC-St.-Pauli-Sweat-Shirt, braune Hose, braunen Pullover. Der Vormittag verging wie im Flug.

Für den Business-Seat meiner Firma hatten wir einen jungen Verlagskollegen aus Dresden eingeladen, der bereits am frühen Morgen mit dem Zug in Hamburg eingetroffen war, weil er vor dem Spiel noch über die Reeperbahn ziehen wollte. Die Karte hatten wir ihm von der Firma aus vorab per Post zugeschickt. Um halb zwei waren wir im „Shamrock“ gelandet. Mit den „Shamrock“-Fans stand ich zwischen den Sitzbänken und der Feldstraße auf dem Trottoir, als mich der Kollege aus Dresden anrief.

Er kündigte an, dass er direkt ins Stadion käme. Er sitze im „Lehmitz“ und habe dort eine nette Dame kennengelernt, die ihm noch eine andere Kneipe auf dem Kiez zeigen wolle. Der Kollege aus Dresden klang sehr euphorisiert, was vielleicht auch mit der Frau an seiner Seite zu tun haben konnte. Ich hatte noch nie eine Frau im „Lehmitz“ kennengelernt. Ich war da immer wegen der Musikbox hingegangen.

Ich beschied den Mann aus Dresden mit einem „Is okay“, und Ali, mein Freund und Geschäftspartner aus Elmshorn, bestellte die nächste Runde.

Noch nie war das „Shamrock“ vor einem Spiel so voll gewesen wie an diesem Sonntagmittag. Hier waren nur Fans vom FC St. Pauli, kein einziger HSVer. Ab und zu liefen ein paar vereinzelte HSV-Fans auf dem Bürgersteig vorbei. Ohne Schals und Trikots hätte man sie für ganz normale Menschen halten können, und das waren sie im Prinzip ja auch.

Es war ganz gut, dass ich mir gelegentlich ins Gedächtnis zurückrief, dass mein Vater und viele meiner früheren Freunde und Mitspieler in Eckelshausen, Helmut Dersch, Heinz Soldan, Herbert Funke und Werner Engelbach, HSV-Fans waren, und jedem dieser Menschen war ich auf besondere Weise verbunden.

Die nächste halbe Stunde zog sich wie Kaugummi. Ich war aufgeregt. Wir tranken noch einen. Über dem Heiligengeistfeld kreiste ein Hubschrauber. Gegen Viertel vor drei machten sich Henning, Kai und Jasper auf den Weg zu ihren Stehplätzen. Ich redete mir ein, dass im Fußball alles möglich ist. Dass jede Serie irgendwann reißt. Dass Geld keine Tore schießt. Dass wir endlich auch einmal Glück haben. Dass der FC St. Pauli eine Mannschaft ist. Und der HSV ein Haufen zusammengekaufter Starspieler.

Ali, dessen Kumpel Kuki und ich zogen los in Richtung Haupttribüne. An den Mann aus Dresden dachte ich gar nicht mehr. Wir waren ungefähr 20 Minuten vor Spielbeginn auf unseren Plätzen. In 50 Meter Entfernung tobte der harte Kern der HSV-Ultras. Die jungen Leute, die sich zum Teil die schwarzen Kapuzen ihrer Pullover und Jacken über das Gesicht gezogen hatten, traten gegen die Metallgitter und wüteten so, als wollten sie alles kurz und klein schlagen. „Scheiß Sankt Pauli, Scheiß Sankt Pauli!“, brüllten sie, und die Leute in unserem Fanblock erhoben sich und klatschten ganz cool. Das regte mich sehr auf. Ich war in Rage.

Als sie dann „Hells Bells“ spielten, wusste ich plötzlich, dass am Millerntor alles anders ist, dass wir von allen anderen Vereinen der Welt Millionen Lichtjahre entfernt sind, dass hier meine Heimat ist, und dass mein Herz hier so laut und wild schlägt wie nirgendwo sonst auf der Welt.

Schnell wurde deutlich, dass der HSV keine Übermannschaft war, von der wir eine hohe Packung beziehen würden. In der ersten halben Stunde plätscherte der Kick hin und her, bei leichter Feldüberlegenheit der Braun-Weißen. Erst in den letzten 15 Minuten der ersten Halbzeit kam der HSV etwas auf. Immer noch tobte unablässig der aggressive Teil der HSV-Fans, ohne dass der Schlafwagenkick der Rothosen eine entscheidende Wende genommen hätte.

Auf meinem Handy wurde ein Anruf angezeigt. Ich hörte die Mobilbox ab. Der Mann aus Dresden befand sich jetzt in Stellingen an der Müllverbrennungsanlage. Seine Bekanntschaft aus dem „Lehmitz“ hatte ihm gesagt, dass er mit dem Bus zum Fußball ins Volksparkstadion komme, und sie hatte ihn noch zur Haltestelle gebracht. Es sei ihm gleich so komisch vorgekommen, dass das Millerntor am Volksparkstadion liegen solle. Er sei nun bei einem sehr großen Stadion angekommen, in dem aber gar nicht gespielt würde. Die Zuschauer würden ein Spiel auf der Leinwand ansehen. Der Kollege äußerte, dass er vermutlich beim falschen Stadion sei. Am Millerntor befinde er sich jedenfalls nicht. Er fahre jetzt mit dem Bus zurück zur Reeperbahn.

Er werde nicht mehr ins Stadion kommen. Er würde gleich wieder ins „Lehmitz“ gehen. Da finde er schon hin. Es sei nicht schlimm, wenn er das Spiel verpasse. Fußball sei ohnehin nicht so ganz sein Ding. Vielleicht sei die hübsche, dunkelhäutige Frau ja noch da und sitze am Tresen. Um noch was vom Spiel zu sehen, sei es jetzt ohnehin zu spät. Mir war es egal.

Zu Beginn der zweiten Halbzeit kamen die Braun-Weißen aus der Deckung. Nach einer Stunde hatte ich das Gefühl einer leichten Feldüberlegenheit unserer Elf. Naki stellte seine Kreativität unter Beweis, Boll und Lehmann ackerten wie die Weltmeister, und in der Innenverteidigung spielten Thorandt und Zambrano eine überragende Partie. Van Nistelrooy bekam gegen Zambrano nicht einen Stich. Dann brachte Stani Gerald Asamoah. Sofort war zu sehen, wie der Mann seinen Körper einsetzt und keinen Ball verloren gab. Er brachte Schwung ins Spiel und setzte sich vor dem Strafraum von Rost glänzend in Szene: Er passte links hinüber zu Fabian Boll, der den Ball aus 18 Metern mit rechts unhaltbar ins von ihm aus gesehene linke äußerste Eck des Gästetorhüters versenkte. Im Block der HSV-Fans herrschte plötzlich Totenstille.

Da waren noch 13 Minuten zu spielen. Mein erster Gedanke war, dass wir nun nicht mehr verlieren würden. Mein zweiter Gedanke war, dass wir immer ein Scheiß-Pech haben, wir, der FC St. Pauli, ich, Hermann Schmidt, und dass ganz bestimmt noch irgendetwas Ungutes passieren würde. Ich dachte, es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn wir tatsächlich gegen den HSV gewinnen würden.

In der 87. Minute unterlief dem besten Mann auf dem Platz neben Thorandt und Deniz Naki ein entscheidender Fehler. Unter dem erheblichen Druck der Gästestürmer wehrte Carlos Zambrano einen Ball ab, der auf dem Fuß von Mladen Petric landete. Der Kroate zog aus der Luft ab und versenkte den Ball unhaltbar für Kessler in unserem Tor.

Da war die Messe gelesen. Ich empfand das 1:1 nun wie eine Niederlage. Als ich Kai, Henning und Jasper am Auto traf, waren wir bedient. Wir schwiegen uns an. Die Zeitungen am Montag schrieben übereinstimmend, dass der FC St. Pauli die bessere Mannschaft gewesen sei. Davon konnte sich die Mannschaft wenig kaufen. Allgemein kritisiert wurde das defensive Spiel beider Mannschaften. Ich hatte das Match ganz anders gesehen. Die Rothosen waren als haushoher Favorit ins Derby gegangen. Unsere Defensive stand so hervorragend, dass die Norderstedter nicht den Hauch einer Chance auf Sieg gehabt hatten. Es war kein Unterschied zu sehen gewesen in diesem Spiel. Und ein wenig hatte ich die Hoffnung, dass unser Hoch noch eine ganze Weile anhalten könnte.

Wir kommen wieder!

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