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Kapitel 2 Von Bad Bramstedt ans Millerntor

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Wer die A7 von Hamburg aus nach Norden fährt, kommt nach einer halben Stunde an der Autobahnausfahrt Bad Bramstedt vorbei. Der Tourist reist weiter durch die schier endlose norddeutsche Tiefebene, kein Wald, keine Hügel, alles flach, manchmal Bäume und Sträucher, eine karge Landschaft, die fast verlassen wirkt. In den Wiesen und hinter den Feldern ducken sich Höfe im fahlen Licht der Sonne, die hier oft genug nicht ihren stärksten Tag hat.

„North to Alaska!“, wie es Johnny Horton besingt, so könnte der Reisende sich unterwegs wähnen, denn gleich hinter Bad Bramstedt beginnen für alle Bewohner der südlichen Bundesländer bereits die Polargebiete. Nur der Kurgast, den das Rheuma plagt, oder der einheimische Holsteiner, eine ganz besondere Spezies des nordischen Menschen, biegen hier rechts von der Autobahn ab. Hier und da am Rande der Straße, auf dem Weg in die Heimat des Fabian Boll, lichter Wald, dann immer geradeaus nach Westen, und alsbald passiert man das Ortsschild des holsteinischen Kurstädtchens Bad Bramstedt, das inmitten von Feldern und Auen am historischen Ochsenweg, einer alten Handelsstraße, liegt.

Bis zum Bau der A7 im Jahr 1972 war die Bundesstraße 4 die wichtigste Verbindung zwischen Hamburg und Kiel – im Sommer der Zubringer für viele Ost- und Nordseebäder in Schleswig-Holstein. Damals wie heute lebte Bad Bramstedt von Touristen, vom Kurbetrieb und vom Durchgangsverkehr. Den größten Anteil der Stadtverordneten in der Kommune stellt die CDU, gefolgt von SPD, FDP und Grünen, ganz so, wie das seit eh und je im beschaulichen, konservativ geprägten Holstein der Fall war. Die holsteinische Kleinstadt liegt am westlichen Rand der norddeutschen Marschlandschaft, genau dort, wo im Zusammenfluss von Osterau und Hudau die Bramau entsteht. In einer knappen Stunde ist man mit dem Auto in der nahen Großstadt Hamburg, und doch wirkt der Ort im Herzen von Schleswig-Holstein wie ein Relikt aus einer beschaulicheren Zeit.

In langen, meist nasskalten Wintern trotzen die Häuser dem immerwährenden Wind und Regen, der meist von Nordwesten kommt. Nur wenn die schönste Jahreszeit, der Frühling, die norddeutschen Menschen aus den Häusern gelockt hat, könnte man sich vorstellen, hier für immer daheim zu sein. Und wenn der Sommer nicht, wie in manchem norddeutschen Jahr, einfach ausbleibt, brütet die Sommerhitze über den Straßen und Dächern der Stadt. Dann gehen Kinder und Jugendliche von morgens bis abends in die Schwimmbäder, die den Charme der sechziger Jahre haben und den gemalten Bildern auf den ersten Seiten einer Schulfibel ähneln. Die Erwachsenen grillen in den Vorgärten, sobald die ersten warmen Sonnenstrahlen den kurzen Sommer ankündigen, und vor den Cafés und im Biergarten des Hotels am Marktplatz sitzen die Pärchen und genießen die wenigen warmen Abende so, als lebe man irgendwo im Süden der Republik.

In Bad Bramstedt ist die Welt noch in Ordnung. Meistens jedenfalls. Bad Bramstedt ist die nördlichste „Roland“-Stadt in Deutschland. Der als Denkmal aufgestellte, etwas traurig dreinschauende Krieger trägt im blau unterlegten Stadtwappen goldene Schuhe und in der rechten Hand ein aufgerichtetes Schwert. Dieser wackere Kämpfer könnte als Symbol genauso gut für einen anderen großen und weit jüngeren Sohn der Stadt stehen, der hier aufgewachsen ist und der es in den letzten Jahren zu Ruhm und Ansehen für sich selbst und damit auch für seine Heimatstadt Bad Bramstedt gebracht hat.

Fabian Boll ist neben dem Abenteurer, Segler und Polarforscher Arved Fuchs, der 1953 in Bad Bramstedt zur Welt kam, der derzeit populärste Prominente aus der holsteinischen Kurstadt und wahrscheinlich einer der besten Fußballer, die im „schönsten Bundesland der Welt“ geboren wurden. Fabian Boll weist allerdings darauf hin, dass auch der Modedesigner Karl Lagerfeld in Bad Bramstedt zur Schule gegangen sei.

In Schleswig-Holstein waren und sind begnadete Fußballer eher eine Ausnahme. Gute Handballer, die gab es im nördlichsten Bundesland schon immer wie Sand am Meer. Gerade mal eine einzige Elf ließe sich dagegen aus schleswig-holsteinischen Fußballspielern bilden, die seit Beginn des letzten Jahrhunderts den Sprung in die A-Nationalmannschaft geschafft haben. Vom Kieler Nationaltorhüter Andy Köpke, vom aus Lübeck kommenden Peter Nogly und dem vom Heider SV stammenden Mittelläufer Willi Gerdau, dessen beste Zeit die fünfziger Jahre waren, einmal abgesehen, gehören alle diese Spieler in die Ära des ersten Drittels im vorigen Jahrhundert: Das war die große Zeit der berühmten Kieler „Störche“. Mit Ausnahme von Willi Gerdau haben alle schleswig-holsteinischen Nationalspieler bei Holstein Kiel gespielt. In den Jahren 1910 und 1930 wurden die Störche deutscher Vizemeister, im Jahr 1912 gar Deutscher Meister. August und Adsch Werner, Oskar Ritter, Walter Krause, Hans Reese, Karl Schulz, Franz Esser, Willi Fick, Johannes Ludwig, Werner Widmayer: Namen, die kaum noch jemand kennt.

Sicher: Es gab auch noch Peter Kaack, einen bärenstarken Defensivspieler vom VfR Neumünster, der zur Braunschweiger Eintracht ging, 299 Bundesligaspiele absolvierte und vielen Fußballspezialisten früherer Jahre wegen mehrerer unglücklicher, aber spektakulärer Eigentore in Erinnerung geblieben ist. Peter Kaack war dennoch ein Klassemann. Die großen, überregional bekannten Fußballvereine der fünfziger und sechziger Jahre im schleswig-holsteinischen Fußball sind rasch aufgezählt: Neben Holstein Kiel, dem Heider SV, Phönix Lübeck, VfB Lübeck, Itzehoer SV und VfR Neumünster dominierten vor allem die großen Hamburger Klubs HSV, FC St. Pauli, Altona 93 und Bergedorf 85 das Geschehen im norddeutschen Oberliga-Fußball.

In Schleswig-Holstein, dem bevorzugten Ferienland der deutschen Urlauber jener Jahre, regierte nicht zu allen Jahreszeiten König Fußball. Für viele Sportbegeisterte stand und steht der Handball gleichberechtigt in seiner Bedeutung neben dem Fußball. Auch die Fußballer der Bramstedter Turnerschaft von 1861 (Bramstedter TS) führten ein vergleichsweise beschauliches Vereinsleben in der Kleinstadt am Ochsenweg, und in manchen Jahren standen sie sogar im Schatten der leistungsstarken Handballer. In diesem Verein aber, in der Fußball-Jugendabteilung der Bramstedter TS, begann ab Mitte der achtziger Jahre ein Junge mit dem Fußballspielen, der noch von sich und seiner Stadt reden machen würde. Wer dann – Jahre später – in der Saison 2001/02 die Spiele des 1. SC Norderstedt (seit 2003 Eintracht Norderstedt) verfolgte, dem konnte ein hoch aufgeschossener Mittelfeldspieler in der Plambeck-Elf nicht entgehen. Die Nummer 10 des Klubs war die spielbestimmende Figur der Elf aus der südholsteinischen Hamburger Vor- und Schlafstadt Norderstedt, die in den siebziger Jahren aus mehreren Großgemeinden und Dörfern gebildet worden war. Damals eilte der SC Norderstedt von Sieg zu Sieg. Gegner wie der VfL Pinneberg, Altenholz, Husum oder auch die führenden Hamburger Amateurmannschaften in der Oberliga Nord mussten manche Packung im Edmund-Plambeck-Stadion quittieren. Die Nummer 10, „der Lange“ in den Reihen der Norderstedter, beherrschte das gesamte Spielfeld. Er blockte den Spielaufbau der Gegner, erstickte Angriffe der Gästemannschaften im Keim, baute das eigene Spiel auf, schoss aus allen Lagen und Entfernungen und traf mit seinen hammerartigen Granaten immer wieder einmal ins gegnerische Gehäuse.

Dieser Spieler des 1. SC Norderstedt hieß Fabian Boll.

Die wenigen Zuschauer, die die Heimspiele des 1. SC Norderstedt besuchten, kannten meist auch den Namen des groß gewachsenen Regisseurs. Viel mehr wusste man über den Zehner allerdings nicht, es sei denn, man war Insider oder Mitglied beim SC Norderstedt. Seine bescheidene Art und sein fairer Auftritt machten ihn jedoch sympathisch. Spektakulär wirkte aber vor allem seine sportliche Leistung, die Art und Weise, in der er das Spiel immer wieder dynamisch nach vorne trieb, wie er seine Mitspieler motivierte und in entscheidenden Situationen die Übersicht behielt. Ganz klar: Der Junge war auch strategisch begabt. Es war nicht zu übersehen, dass ihm als Fußballer noch wunderbare Jahre bevorstanden. Dass dieser Mann einmal einer der besten Fußballspieler in Hamburg sein würde, dass er zum Taktgeber und Herzstück einer Bundesligaelf avancieren könnte und dass er nach und nach die Herzen nicht nur der norddeutschen Fußballfans im Sturm erobern würde, ahnten die meisten Zuschauer dennoch nicht. Fabian Boll bekennt heute lächelnd, dass auch er selbst zu jener Zeit nie einen Gedanken daran verschwendet habe, einmal als Fußballer über die norddeutsche Region hinaus bekannt zu werden. Kein Zweifel, er war ein Denker und Lenker auf dem Rasen, ein Mann, der die eigenen Reihen ordnete und immer hellwach und kampfbereit war. Was aber darüber hinaus noch in diesem jungen Mann steckte, und was er durch nicht nachlassenden Willen aus sich herausholen würde, das sollten die norddeutschen Fans und viele Liebhaber des Fußballs in ganz Deutschland erst im Laufe der kommenden Jahre miterleben dürfen.

Fabian Boll - Das Herz von St. Pauli

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