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Kapitel 4 DIE CLIQUE VOM BOLZPLATZ

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Im Alltag der Familie Boll hatte der Sport zwar immer eine besondere Bedeutung, aber es stand völlig außer Frage, dass der Beruf und damit der Broterwerb absoluten Vorrang hatte. Fabians Berufswunsch war ohnehin klar: Er wollte zur Polizei, so wie viele Männer der Familie Boll seit Generationen. Vater Thomas imponierte dem kleinen Fabian, wenn er mit dem Dienstwagen nach Hause kam und in seiner Uniform aus dem Auto stieg. Dann durften sich die Jungs schon einmal ins Auto setzen und das Blaulicht anmachen. Denn Vater Boll war ein gütiger und freundlicher Mensch, kein strafender Hüter von Gesetz und Ordnung. Und auch Mutter Gerlind, schlank, attraktiv und fröhlich wie ihre beiden Söhne, sah lächelnd über die kleinen Freiheiten hinweg, die ihre Jungen sich gelegentlich nahmen. Die Schulen durchliefen die beiden Boll-Söhne mehr oder weniger problemlos, sieht man einmal von der „Ehrenrunde“ Fabians im Gymnasium ab. Selbst da gab es keinen Stress in der Familie, doch dazu später mehr.

Schon bald sollte Fabian Boll auch über die Bad Bramstedter Bolzplätze und den Fußballplatz am Schäferberg hinaus als ein überragender Akteur am Ball bekannt werden. Nicht, dass er auf dem mit spärlichem Rasen gespickten Trainingsgelände (der heute ein Kinderspielplatz ist) und anderswo das Kommando geführt hätte. Fabian wirkte im Kreis der meist älteren Spiel- und Fußballkameraden eher zurückhaltend, ja schüchtern. Die Bedeutung und Wertschätzung seitens der Bramstedter Kameraden und Fußballfreunde beruhte allein auf seinem schon damals erkennbaren außerordentlichen fußballerischen Talent. Wenn er den Ball führte, gab er den Takt an, mit dem Fuß, mit seiner Übersicht, weniger mit dem Mund. Den sportbegeisterten Eltern wurde rasch klar, dass Fabian einmal ein guter Fußballer werden könnte. Doch trotz aller Affinität zum Sport und zum Fußball erzogen die Bolls ihre Kinder nicht in übersteigertem Ehrgeiz oder gar mit dem Ziel, das Talent – insbesondere das von Fabian – so gezielt zu fördern, dass daraus einmal ein Beruf werden könnte. Fördern statt fordern, so ließe sich die Haltung der Eltern von Fabian Boll am besten beschreiben.

Die beiden Boll-Söhne begannen bereits in der F-Jugend der Bramstedter TS mit dem Fußballspielen, Sebastian ganz wie der Vater als Torhüter, Fabian zwei Jahre später im Mittelfeld und von Beginn an als Regisseur seiner Teams. Fabian erwies sich zudem als so stark, dass er ein Jahr früher, als dass normalerweise der Fall ist, von der E- in die D-Jugend wechselte. Auch in die C- und B-Jugend-Mannschaften wechselte Fabian Boll immer vorzeitig. Und so spielte er stets mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Sebastian in einer Mannschaft.

Zum allerersten Punktspiel seiner Laufbahn mit der Bramstedter TS in Hartenholm aber hatte Fabian gar nicht antreten wollen. Er spielte zwar liebend gern Fußball, und Fußball war ihm wichtiger als alles andere, sogar wichtiger als Faustball. Aber er bewegte sich am allerliebsten in einer Welt, die ihm vertraut war. Aber Hartenholm? Wo lag Hartenholm? Wieso sollte er in einem ihm wildfremden Ort namens Hartenholm gegen völlig fremde Spieler antreten? Gegen Spieler, die er nicht kannte, wollte er lieber nicht antreten. Als es losgehen sollte und Thomas und Gerlind Boll mit den Jungs zum Spiel fahren wollten, hatte sich Fabian auf dem heimischen Sofa in Bramstedt zusammengekauert. Er saß dort, verbarg sein Gesicht hinter verschränkten Armen und heulte Rotz und Wasser. Fabian wollte lieber nicht in einer „richtigen“ Mannschaft spielen. Fußball auf dem Bolzplatz ja. Fußball mit Freunden und Kumpels: okay. Fußball auf dem Bolzplatz und in Bramstedt: wunderbar. Alles andere war ihm fremd, und was ihm fremd war, das scheute der schüchterne Junge.

Der Spielbeginn rückte nun immer näher. Bruder Sebastian stand bereits gestiefelt und gespornt in Torhüter-Montur im Flur, während Mutter und Vater Fabian mit gutem Zureden versuchten, ihn zunächst einmal zum Einsteigen ins Auto zu bewegen. Je länger sie auf ihn einredeten, umso hemmungsloser weinte der Junge. Schließlich wussten sie sich nicht mehr zu helfen, bis der Vater seinem jüngeren Sohn versprach, er dürfe sich nach dem Spiel in einem „Dit und dat“-Laden in Bramstedt etwas aussuchen und die Mama würde am Abend Schokoladenpudding, seinen Lieblingsnachtisch, kochen. Erst jetzt machte Fabian Anstalten, ins Auto zu steigen. Und ab ging die Post zum Spiel nach Hartenholm.

In Hartenholm am Platz angekommen, setzten sich die Schwierigkeiten fort. Fabian wollte nicht aus dem Auto herauskommen. Er wollte einfach nicht gegen fremde Jungen Fußball spielen. Da wurde es Vater Boll zu bunt. Er schnappte sich den Jungen, trug ihn in die Kabine, zog ihm das Trikot an, und von dieser Sekunde an machte Fabian keinen Mucks mehr. Es war das erste und letzte Mal, dass sein Vater eine solche Maßnahme ergriff. Aber es war – wie wir heute wissen – das Beste, was er für den norddeutschen Fußball im Allgemeinen und den des FC St. Pauli im Besonderen tun konnte. Hätte sich Fabian damals durchgesetzt, dann wäre dem FC St. Pauli wahrscheinlich einer seiner größten und besten Spieler aller Zeiten vorenthalten worden.

Fabian Boll erzählt im Rückblick auf dieses denkwürdige Spiel, dass er bis zum Zeitpunkt des Spiels in Hartenholm nur die Bolzplatzregeln gekannt hätte. Wenn in Hartenholm zum Anstoß angepfiffen worden sei, zu Spielbeginn oder nach einem Treffer, dann habe er sich immer gleich an den gegnerischen Sechzehner gestellt, und jedes Mal habe ihn der Schiedsrichter zunächst einmal in die eigene Hälfte zurückschicken müssen. Das Spiel, das Fabian hatte verweigern wollen, weil er gegen ihm fremde Spieler nicht spielen wollte, gewannen die Bramstedter, und der kleine Fabian hatte mit seinen ersten beiden Treffern im Vereinsfußball und einem überzeugenden Auftritt als Spielmacher einen entscheidenden Anteil an diesem Sieg. Von nun an war der Bann gebrochen.

Der erste Trainer von Fabian Boll war ein Arbeitskollege seines Vaters. Jens Johannisson spielte in der ersten Mannschaft der Bramstedter TS und betreute zusätzlich die F-Jugend des Vereins. Fabian Boll kam im Alter von sechs Jahren in die Mannschaft und war einer der Jüngsten im Team, wenn auch nicht der Kleinste. Außergewöhnlich für einen Spieler in diesem Alter war seine Beidfüßigkeit, er war mit beiden Füßen gleich stark. Fabian Boll selbst, der zum Unterstatement in eigener Sache neigt, gibt zu, dass es kaum einen Spieler in seinen Jugendmannschaften gab, der beidfüßig schießen und spielen konnte, zugleich räumt er aber ein, dass sein linker etwas schwächer ist als der rechte Fuß. „Es war zu sehen, dass er ein Guter wird“, sagt der damalige Trainer Johannisson, „er schoss alle Freistöße, er ragte heraus. Fabian spielte mit Köpfchen. Er zeigte Einsatz und war nicht nur kämpferisch ein Vorbild.“ Auch als einen außergewöhnlich zurückhaltenden Jungen beschreibt ihn der Trainer der in Blau-Weiß spielenden Bramstedter TS. „Man durfte Fabian nicht zu hart anfassen und nicht schimpfen, weil er sich das zu Herzen nahm und er dann an Selbstvertrauen verlor“, so Jens Johannisson. Fabian Boll als Junge ein „Sensibelchen“? Das kann man sich heute kaum vorstellen. Nach drei Jahren übergab Trainer Johannisson die Mannschaft an Matthias Neumann, von dem Fabian Boll sagt, dass er alles von ihm gelernt hat, was im Fußball wichtig ist. Matthias Neumann, heute Inhaber eines Sportartikel-Fachgeschäfts und langjähriger Vereinsfunktionär beim FC Altona 93, war in den neunziger Jahren aktiver Fußballer bei der Bramstedter Turnerschaft und trainierte außerdem die Jungen der C-Jugend-Mannschaft, die er von Jens Johannisson übernommen hatte. Fabian Boll betont, dass er in seiner Zeit als Fußballer bis zur C-Jugend ausschließlich besonders gute Trainer gehabt habe, allen voran Matthias Neumann. Zurückblickend erzählt Neumann, die Mannschaft, die er übernommen habe, sei ein „goldener Jahrgang“ mit mehreren überdurchschnittlich begabten Spielern gewesen. Teil des Teams war die Clique um Sebastian und Fabian Boll, die schon als nichtschulpflichtige Kinder Tag für Tag in ihrer Reihenhaus-Siedlung in Bad Bramstedt zusammen Fußball gespielt hatte. Das Talent von Fabian sei unübersehbar gewesen. „Er war ein Straßenfußballer“, berichtet Neumann und ergänzt: „Fabian war nicht einmal körperlich stark und gemessen an seinem Bruder damals nicht sonderlich groß.“

Wie alle Freunde und Erwachsenen aus jener Zeit schildert auch Matthias Neumann den jungen Fabian als schüchternen Spieler, der eher ängstlich gewesen sei. Aufgrund seiner ruhigen Art und seines Spielvermögens sei er in der Gruppe der Mitspieler hoch angesehen gewesen. Nie habe er sich in den Vordergrund gedrängt. Aufgefallen sei er durch sein überragendes Können. Die Anweisungen des Trainers habe Fabian aufgrund seiner Spielintelligenz, seiner schnellen Auffassungsgabe und einer hohen Spielgeschwindigkeit exzellent umsetzen können. Die Mannschaft um Spielgestalter Fabian Boll habe zu den vier Top-Teams der C-Jugendmannschaften in Schleswig-Holstein gehört. Die Jungs beherrschten in der Offensive dank der fachmännischen Anleitung Neumanns Positionswechsel, das Kreisen der Stürmer und die strategische Ausrichtung der Spieler hinter den Spitzen. Neben der sportlichen Qualität legte er besonderen Wert auf Tugenden wie Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, bedingungslosen Einsatz und Ehrgeiz. Sieben Spieler jener C-Jugend aus Bad Bramstedt hätten es bis in die Oberliga geschafft, so Matthias Neumann.

Der ältere Bruder Sebastian sei einer der Wortführer in der Mannschaft gewesen, obgleich er als Fußballer Fabian nie das Wasser habe reichen können. „Wäre Fabian seinerzeit dem Ruf von Werder Bremen gefolgt“, vermutet Matthias Neumann in einem Gespräch, „dann hätte er dort heute 350 Bundesligaspiele auf dem Buckel.“ Einige Zeit später nämlich, als A-Jugend-Spieler, hatte Fabian Boll im Sommer 2000 ein Angebot von Werder Bremen, das er aus beruflichen Gründen nicht annahm. Alles auf eine Zukunft als Fußballprofi zu setzen, das schien Fabian Boll zu gewagt. Wie viele Talente waren als Profis gescheitert! Und das Risiko, auf der Reservebank oder in der zweiten Mannschaft eines Profiklubs zu landen, wollte er angesichts seiner guten Berufsaussichten bei der Kriminalpolizei nicht eingehen. Hätte, wenn und aber: Es ist, wie es ist. Verantwortliche des FC St. Pauli und die Fans des Vereins können sich glücklich schätzen, dass Fabian Boll einen anderen Weg wählte, und Fabian selbst wohl auch: Aufgrund seiner Vereinstreue und seines Werdeganges als Kriminalbeamter muss er den Abschied vom Profifußball nicht fürchten. Ob er seine Doppelfunktion im Beruf auch in Diensten von Werder Bremen hätte verwirklichen können, scheint fraglich. Auch diese Unklarheiten sorgten für den Verbleib von Fabian in Hamburg und seiner gewohnten Umgebung.

Die beiden Boll-Brüder spielten bis zur B-Jugend bei der Bramstedter TS zusammen in einem Team. Als Fabian 14 Jahre alt wurde, bekam die Bramstedter TS nicht mehr genügend Spieler für eine B-Jugend zusammen. Die Bramstedter Jugendtrainer hätten es gerne gesehen, wenn Fabian gleich in der A-Jugend (16 bis 18 Jahre) mitgespielt hätte. Das wollten aber weder er noch sein Vater. Bruder Sebastian wechselte als Torhüter zur Kaltenkirchener Turnerschaft, und Fabian ging in die B-Jugend des Itzehoer SV, einem Klub, der einst eine große Rolle im schleswig-holsteinischen Amateurfußball gespielt hatte.

Inzwischen besuchten Fabian und Sebastian das Jürgen-Fuhlendorf-Gymnasium in Bad Bramstedt. Fabian war – nach Aussage seines Bruders – immer ein mittelmäßiger Schüler. Die bereits erwähnte Ehrenrunde drehte er in der neunten Klasse. Seine schwachen Fächer waren Französisch, Mathematik und Erdkunde. Typisch Fabian: Er setzte sich sofort auf den Hosenboden, paukte noch einmal alle bisherigen Lehrbücher und Arbeitsblätter der Schulbuchserie „Etudes Françaises“ durch, schrieb sich alle Vokabeln, die er nicht kannte, heraus und lernte sie auswendig. In der gymnasialen Oberstufe schließlich wählte er als Leistungskurse Französisch und Erdkunde – die Fächer, derentwegen er zwei Jahre zuvor noch sitzengeblieben war. Beim Abitur hatte Fabian als schriftliche Prüfungsfächer Mathematik und Sport. Sein Lieblingsfach in der Schule aber war schon immer Sport gewesen. Außer Sport und hier dem Fußball im Besonderen hatte Fabian keine ausgeprägten Interessen für andere Freizeitbeschäftigungen. Selbst der Faustball musste, nachdem Fabian als Fußballer immer stärker wurde, zuweilen zurückstehen. Und dies, obgleich es Fabian im Faustball ebenfalls bis in die Landesauswahl und zum Nationalmannschaftslehrgang gebracht hatte. Wie im Fußball spielte Fabian schon als Jugendlicher im Zentrum und bereitete die Angriffe seiner Mitspieler am Netz vor. Die vom Vater trainierte Faustball-Mannschaft der Bramstedter TS musste nun trotzdem manchmal ohne ihn antreten, weil er inzwischen auch als Fußballer zu Auswahllehrgängen berufen worden war. Natürlich waren Sebastian und Fabian nicht nur und nicht ausschließlich aktive Faust- und Fußballer. Wie andere Jungs hörten sie gerne Musik, bevorzugt Songs der englischen Popgruppe Queen, der amerikanischen Band Guns N’ Roses und der australischen Band AC/DC. Ihre Anhängerschaft für bestimmte Fußballvereine der Bundesliga pflegten sie zwar, aber darüber hinaus konnten sie sich für jede Form des guten Fußballs begeistern. Während Sebastian Boll dem FC Bayern bis heute verbunden geblieben ist, bezeichnet Fabian seine einstige, nicht lange währende Sympathie für den HSV jetzt ironisch als „Jugendsünde“. Wo er das mit allen Unterschriften der damaligen Stars versehene HSV-Trikot gelassen hat, das ihm Sebastian zur Konfirmation schenkte, hat er längst vergessen. Denn die Liebe zum HSV war nicht von langer Dauer gewesen, das wird aber an anderer Stelle noch näher erläutert.

Fabian Boll - Das Herz von St. Pauli

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