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2.1 Entwicklungspsychologische Begriffe und Konzepte

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Klinisches psychoanalytisches Arbeiten ist ohne ein Wissen um die gesunde und beeinträchtigte Entwicklung des Menschen nicht gut möglich. Zweifel und Nichtwissen bleiben. Entwicklungspsychologische Konzepte können für psychodynamische Überlegungen oder subjektive Krankheitstheorien nicht »wörtlich genommen« werden. Erkenntnisse aus der klinischen Situation, die retrospektiv für Therapeuten und Patienten eine überzeugende Kausalität aufweisen (und damit möglicherweise intersubjektiv und als Einsicht klinisch wirksam sind), können in prospektiven Untersuchungen nur einen geringen oder keinen Einfluss zeigen. Die »Überdeterminierung« (Freud, 1895) menschlichen Erlebens und Verhaltens (es gibt in aller Regel vielfache und zusammenwirkende Ursachen, kaum je eine einzelne, die ein Verhalten bestimmt) führt im konkreten Fall zu einer hohen Komplexität und Ungewissheit. Empirisch wissenschaftliche Aussagen sind daher in ihrer Generalisierung auf konkrete Patienten ebenso mit Vorsicht und Kritik zu betrachten wie am Einzelfall gewonnene klinische Schlussbildungen in Hinsicht auf die Entwicklung von allgemeineren Konzepten.

Neue Forschungsbefunde können unsere Sicht auf klinische Phänomene verändern. Sie regen zu neuen Konzeptualisierungen an und schaffen Verbindungen zwischen dem »Kind der empirischen Entwicklungsforschung« und dem »aus der klinischen Situation konstruierten Kind«. Implizite und explizite Theorien zur Entwicklung beeinflussen als Vorannahmen von Therapeuten klinisches Verstehen und Handeln.

Emde (2011) beschreibt Entwicklung als einen »fortwährenden, lebenslangen Prozess, der nicht nur eine Vergangenheit hat, sondern auch in der Gegenwart existiert und sich auf eine Zukunft zubewegt. Der Blick ist dabei nach vorn gerichtet« (S. 779). Aus der Sicht eines Individuums zeigt sich der »nach vorn gerichtete« Blick im Begriff des »Wunsches«, der heute entwicklungsbezogene Aspekte des Triebbegriffs aufnimmt. Psychoanalytische Konzepte tragen dazu bei, empathisch die Sichtweise von anderen Menschen nachzuvollziehen und verstehen zu lernen. So steht in der Psychoanalyse inhaltlich das subjektive Erleben des Einzelnen im Fokus der Aufmerksamkeit, das methodisch auch über Einfühlung und Selbstreflexion erschlossen wird. Daten werden vorwiegend aus der Perspektive eines Patienten (seiner Selbstwahrnehmung) erfasst (siehe aber unten zur Frage von Konflikt und Strukturmodellen). Die akademische Entwicklungspsychologie dagegen beobachtet Kinder vorwiegend aus einer um Objektivität bemühten Position und gewinnt ihre Daten aus Fremdwahrnehmungen. Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung erfassen Unterschiedliches (McClelland et al., 1989). Es trägt zu Verwirrung bei, dass diese zwei Datenquellen begrifflich oft nicht unterschieden werden. Moderne Säuglingsforschung und Entwicklungspsychologie verbinden und integrieren Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung. Der »konstruierte Säugling« im Sinne des subjektiv erlebenden Säuglings, haucht dem »empirisch beobachtbaren Säugling« Leben ein.

Akademische und psychoanalytische Entwicklungspsychologie beschäftigen sich beide mit der Beschreibung, Erklärung und der Vorhersage und Beeinflussung menschlichen Erlebens und Verhaltens. Sie untersuchen Veränderungen über die gesamte Lebensspanne hinweg. Fragt man Menschen, wie sie sich erklären, dass sie so »geworden« sind, wie sie sind, dann werden vor allem die Erfahrungen in der Familie, Partnerschaft oder mit Freunden genannt, die ihre Entwicklung beeinflussten. Genetik, kulturelle Faktoren und einschneidende Lebensereignisse spielen ebenfalls eine Rolle. Konzepte dazu greifen auf unterschiedliche Modelle zurück:

Stufenmodelle der Entwicklung gehen von einem linearen Verlauf aus – deutlich etwa bei den psychosexuellen Entwicklungsstufen Freuds, den Entwicklungskrisen von Erik Erikson oder der Entwicklung des moralischen Urteils. Auch hier bleibt aber »Altes« erhalten und kann bei entsprechenden Auslösern »regressiv« wieder in den Vordergrund treten. Nicht alle Entwicklungsphänomene lassen sich gut als stufenförmig verlaufend darstellen. Abzweigungen und Fehlentwicklungen müssen berücksichtig werden. So werden Stufenmodelle zunehmend durch komplexere Konzepte ersetzt. Während noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts das Bild vorherrschte, die menschliche Entwicklung sei mit der Adoleszenz abgeschlossen (ein Stufenmodell), gehen wir heute davon aus, dass Menschen ihr ganzes Leben lang lernen und sich verändern. »Entwicklungslinien« und ihre wechselseitige Beeinflussung sind dann zu beschreiben. Die wechselseitige Beeinflussung dieser Entwicklungslinien führt zum Einbezug unterschiedlicher Wissenschaften. Die moderne Entwicklungspsychologie ist daher interdisziplinär angelegt. Sie nutzt Erkenntnisse aus Genetik, Neurowissenschaften, Sozial-, Kultur- und Sprachwissenschaften.

Das Modell einer »sukzessiven Konstruktion« beschreibt, dass jede Entwicklung auf zuvor entwickelte Voraussetzungen aufbaut. Höhere Stufen sind also komplexer und integrieren Elemente und Relationen der vorherigen Stufen. Dieses Modell gilt besonders für die kognitive Entwicklung und die Entwicklung sensomotorischer Fähigkeiten. Das Modell der Sozialisation geht dagegen davon aus, dass Entwicklung durch Anleitung und Anforderung, Information und Belehrung, durch Beobachtung und Nachahmung von Vorbildern, durch Bestrafung und Belohnung voranschreitet. Dieser Prozess wird durch Familie, Freunde, Schule, Beruf und Medien gestaltet und findet in einem Spannungsfeld zwischen Aneignung kultureller Normen, der Entwicklung von Reflexionsfähigkeit und der eigenen Identitätsgestaltung statt.

Für psychoanalytische Entwicklungspsychologien ist die Fokussierung auf das subjektive Erleben eines Menschen charakteristisch. Ein subjektiver »Sinn« von Entwicklung wird vorausgesetzt und in Therapien erkundet. Dies kann als das Verfolgen einer besonderen Entwicklungslinie verstanden werden – etwa als Entwicklung des »Selbst« in Abgrenzung von und Interdependenz mit biologischen und sozialen Entwicklungslinien. Innerhalb dieser Entwicklungslinie werden stufenförmige Modelle verwendet; zugleich kann auf »Altes« nachträglich Einfluss ausgeübt werden. So wird zum Beispiel mit dem Konzept von Entwicklungsstufen und sensiblen Perioden davon ausgegangen, dass ein bestimmter Entwicklungsstand gegeben sein muss, damit Erfahrungen bestimmte Wirkungen haben können. In der Psychoanalyse wird dies mit dem Konzept der »Nachträglichkeit« aufgegriffen: Mit neuem Wissen kommt es zu einer »nachträglichen« Reinterpretation von Erfahrungen. Dieser Vorgang kann Symptome hervorrufen – wenn Wissen in einer auslösenden Situation plötzlich einsetzt und zugleich abgewehrt wird. Er kann aber auch dazu beitragen, Symptome wieder aufzulösen. In Therapien werden unglückliche Erfahrungen dann z. B. nicht mehr vorwiegend als das Leben dauerhaft prägende Traumata erlebt, sondern als Erfahrungen, die überlebt und überstanden wurden.

Die Parallelität von somatischen, kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklungen und die wechselseitige Abhängigkeit der Entwicklungslinien voneinander führt zu »sensiblen Phasen« für den Erwerb vieler Kompetenzen. Wird eine solche Phase nicht genutzt, werden bestimmte Fähigkeiten nicht oder nur stark eingeschränkt erworben. Es gibt »Fenster der Entwicklung« für bestimmte Fähigkeiten. Mit diesen Fenstern ist auch eine Verletzlichkeit der Entwicklung verbunden, wenn ein Entwicklungsschritt aus biopsychosozialen Gründen nicht zeitgerecht erfolgt ist.

Ein Kind, das in seinem ersten Lebensjahr unter schwer vernachlässigenden Bedingungen aufgewachsen ist, macht nicht die Erfahrung, von wichtigen anderen Menschen »gehalten« zu werden. Diese Erfahrung und ein damit einhergehendes »Urvertrauen« kann es später nur noch eingeschränkt nachholen. Es hat gelernt, sich nur auf sich allein zu verlassen – um zu überleben. Kognitiv reifer schreibt es sich in späteren Entwicklungsphasen das Erleben, von anderen Menschen gehalten zu werden, selbst zu (z. B. in einer liebevollen Adoptivfamilie, in die es im dritten Lebensjahr gegeben wird). »Gehalten zu werden« wird im eigenen Erleben zu einem Erfolg der eigenen Liebenswürdigkeit, der gekonnten Manipulation anderer oder der Anpassung an Erwartungen. Es bleibt damit an das eigene Verhalten gebunden und führt tragischerweise trotz guter späterer Erfahrungen nicht mehr zu einem Vertrauen in andere Menschen (keine Bindungsentwicklung mehr).

Die verschiedenen »Psychologien« innerhalb der Psychoanalyse unterscheiden sich in vielen Aspekten ( Kap. 2.2). Einige Annahmen werden aber in ihren entwicklungspsychologischen Konzepten weitgehend geteilt:

• die Annahme von Kausalität in den Erzählungen eines Menschen;

• die Hypothese, dass aktuelle Verhaltensweisen und Symptome mit der Verarbeitung vergangener Erfahrungen zusammenhängen – eine Entwicklungsperspektive;

• das Konzept des Unbewussten – eines Wissens, auf das Menschen nicht aktiv zugreifen können und das ihr Erleben und Verhalten beeinflusst;

• die Betrachtung von Entwicklung als nicht abschließend und nicht linear – Altes bleibt erhalten und kann – regressiv – wieder aktiviert werden.

Als theoretische Grundlagen psychoanalytischer Therapien sind diese Annahmen wiederholt überarbeitet und erweitert worden. Sie sind vielfach als Konzepte in das Allgemeinwissen eingegangen und nicht mehr auf therapeutisches Fachwissen beschränkt.

Unterschiedliche Weiterentwicklungen setzten dabei ihre je eigenen Schwerpunkte. So stellen manche Autoren das Vorliegen einer – mehr oder weniger – einheitlichen psychoanalytischen Entwicklungstheorie in Frage. Der kommende Abschnitt schaut daher auf die verschiedenen »Schulen« der Psychoanalyse und ihre jeweiligen entwicklungspsychologischen Schwerpunktsetzungen. Er versucht, eine integrierende Perspektive zu erreichen.

Entwicklungspsychologische Grundlagen der Psychoanalyse

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