Читать книгу Entwicklungspsychologische Grundlagen der Psychoanalyse - Hermann Staats - Страница 18
2.4 Latenz im Hinblick auf die kognitive Entwicklung
ОглавлениеUm das siebte Lebensjahr herum beginnen Kinder, etwas von der Leichtigkeit abzulegen, mit der sie Gefühle und Gedanken spontan äußern. Dafür treten Bemühungen, Triebe zu unterdrücken, und logisches sowie rationales Denken in den Vordergrund. Regeln, die unter anderem im gemeinsamen Spiel erworben werden, sind für das Kind in dieser Zeit von großer Bedeutung. Gruppennormen werden verinnerlicht und haben immer mehr Bestand. Mit dem Verständnis gemeinsamer sozialer und moralischer Regeln werden Dinge und Sichtweisen neu bewertet. Magisches Denken weicht der Objektivität und Realität. Es werden also verstärkt Primär- (Triebe, unbewusst) und Sekundärprozesse (logisches Denken, bewusst) voneinander abgegrenzt und operationales Denken beginnt. Kinder entwickeln ein Verständnis für Vergangenes und Zukünftiges und können sich selbst und ihre Gedanken reflektieren (Tulodziecki et al., 2004, S. 24). Ein reflektierendes Nachdenken über Handlungen verändert bestehende Sichtweisen. Welt und Umwelt werden mit dem Ziel eines Erkennens objektiver Sachverhalte erkundet. Kinder verlassen die Perspektive des Erlebens der Welt als weitgehend auf sich selbst bezogen – sie »dezentrieren«. Dennoch bleiben Primärprozesse in der Latenzzeit deutlich erkennbar bestehen, und auch egozentrische Sichtweisen haben weiterhin Bestand.
»Ein Kind mag zwar in der Lage sein, im Rahmen eines Schulversuchs die unveränderliche Konstanz eines Gewichts oder Volumens zu erkennen, sich anderseits jedoch schnell betrogen fühlen, wenn das Stück Kuchen der Mutter vermeintlich größer ist als sein eigenes« (Tyson & Tyson, 2009, S. 193).
Auch die Triebimpulse und das Bemühen um deren Regulation spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Dezentrierung und der Selbstreflexion. Zunächst verstehen Kinder noch nicht, dass und wie die Gefühle anderer ihre eigenen Gefühle beeinflussen. Es ist ein Entwicklungsfortschritt, sich mit den Augen anderer zu sehen. Stolz und Scham entwickeln sich zu eigenständigen Empfindungen. Sie sind in der Latenzzeit meist noch an die reale Präsenz anerkennender Personen gebunden und werden erst in der Adoleszenz unabhängiger von der Realpräsenz anderer. Ambivalente Gefühle werden ab dem 9. Lebensjahr bewusst erlebt und geschildert. Dies bereitet das sich und anderen »Fremd«-Werden der Präadoleszenz ( Kap. 3) vor. Hohe und lange andauernde Anspannungszustände erschweren die Entwicklung von Selbstreflexion (ausführlicher hierzu Tyson & Tyson, 2009, S. 190 ff. und Einschub ADHS).
Familie und Gesellschaft stehen in einer konflikthaften Beziehung in Bezug auf die Sorge für und um Kinder. Freud hat diese Konflikthaftigkeit als etwas Grundsätzliches betont. Zugleich waren in seiner Zeit die Aufgaben, die Familie und Gesellschaft zugeordnet wurden, vergleichsweise klar abgegrenzt und in der Gesellschaft wenig hinterfragt. Über die – schulische – Bildung hinaus werden Kita und Schule dagegen heute Erziehungsaufgaben zugesprochen und abverlangt. Das Leben mit Gleichaltrigen hat dabei oft auch die Aufgabe, das Leben mit Geschwistern ( Kap. 2.5) zu ersetzen.