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2.5 Geschwisterbeziehungen
ОглавлениеGeschwisterbeziehungen werden an dieser Stelle des Buches erstmals angesprochen, weil sie in der Latenzzeit eine hohe Bedeutung haben. Kinder reflektieren hier bereits die Beziehungen zu ihren Geschwistern. Sie differenzieren ihre Rollen, vergleichen sich und bestätigen sich in ihren jeweiligen Positionen in der Familie. Die Ankunft eines neuen Geschwisters hat einen Einfluss auf die Entwicklung der – jetzt »älteren« – Geschwister. Sie sind nun »schon groß« und doch noch »klein«. Das Erleben des neuen Kindes und seiner Beziehungen zu den Eltern kann regressive Entwicklungen auslösen. Konkurrenz und Neid auf das Neugeborgene rücken dann in den Vordergrund. Auch progressive Entwicklungen mit der Übernahme von Pflegeverhalten und Verantwortung für den Neuankömmling in Identifizierung mit Mutter oder Vater sind häufig. In jedem Fall geht es um ein Sich-Abfinden mit etwas Unausweichlichem. Dies kann schon weit vor der Latenzzeit zu einer reflektierten Reaktion und damit einhergehenden Umgehensweisen führen.
Beispiel:
Ein Dreijähriger betrachtet intensiv den neu geborenen Bruder und kommentiert seufzend: »Den haben wir jetzt!«.
In der Regel sind Geschwister ein Leben lang miteinander verbunden – es sind die längsten Beziehungen unseres Lebens. Sie sind in vielen Fällen durch das gleichzeitige Vorhandensein von Zuneigung und Abneigung, Verbundenheit und Abgrenzung und von Liebe und Hass geprägt (Kasten, 1993).
Alfred Adlers (1927) Arbeiten zum Einfluss der Stellung eines Menschen in seiner Geschwisterreihe werden häufig als Beginn der Forschung zu Geschwisterbeziehungen betrachtet. Seine Ergebnisse sind in psychoanalytischen Theorien wenig aufgegriffen worden – Geschwisterbeziehungen werden hier in der Regel vor dem Hintergrund der Beziehungen zu den Eltern verstanden und auf deren Einfluss hin untersucht. Nur im Bereich der Gruppenanalyse ist ein stärkeres Interesse an horizontalen Beziehungen (gegenüber den vertikalen der Eltern-Kind-Beziehung) und den Konflikten in Geschwisterbeziehungen deutlich. Subjektiv wird die Beziehung zu Geschwistern und die eigene Stellung innerhalb der Geschwisterreihe als eine bedeutsame Entwicklungsbedingung erlebt. Empirische Untersuchungen stützen diese Einschätzung aber wenig. Einige Untersuchungen (z. B. Kristensen & Bjerkedal, 2007; Rohrer, Egloff & Schmukle, 2015) geben Hinweise darauf, dass ältere Geschwister stärker mit den Eltern identifiziert sind, häufiger bestimmende, helfende und lehrende Verhaltensweisen zeigen und etwas intelligenter sind als die jüngeren Geschwister. Die gemessenen Unterschiede sind aber gering und tragen zur Erklärung interindividueller Varianz im Einzelfall nur wenig bei. Adlers Arbeiten werden oft als unbestätigt oder wenig relevant betrachtet. Zu der Annahme, dass jüngere Geschwister flexibler seien und eine höhere soziale Kompetenz als ihre älteren Geschwister zeigten, führt Kasten (1998) kritisch aus, Untersuchungen hätten für diese Beschreibungen keine sicheren Anhaltspunkte ergeben. Aktuelle empirische Arbeiten mit hohen Teilnehmerzahlen zeigen allerdings, dass die Stelle in der Geschwisterreihe doch einen deutlichen Einfluss auf die Studien- und Berufswahl hat. Dies wird als Bestätigung der Bedeutung der Position zwischen den Geschwistern für die Persönlichkeitsbildung angesehen (Barclay, Hällsten & Myrskylä, 2017). Spezifische Fähigkeiten werden sowohl im Umgang mit kleineren und als auch mit älteren Geschwistern erworben. Sie wirken sich langfristig aus.
Mit der Geburt eines weiteren Kindes innerhalb der Familie verändern sich die Rollen und werden neu verteilt. Typischerweise kümmern sich meist die Mütter um das Neugeborene. Die Väter übernehmen vermehrt alltägliche Aufgaben, kümmern sich um die Mutter sowie die gemeinsamen älteren Kinder. Für Eltern ist die Geburt des zweiten oder dritten Kindes ein Ereignis, das nicht so lebensverändernd ist wie die Geburt des ersten Kindes. Sie sind bereits mit den elterlichen Aufgaben und Kompetenzen vertraut; ihr erstes Kind hat sie bereits zu Eltern gemacht und auch in dieser Hinsicht »erzogen«. Für die Geschwister ist die Geburt eines weiteren Kindes in der Familie jedoch bedeutsam. Adler (1927) beschreibt die »Entthronung« für das erstgeborene Kind als ein traumatisches Ereignis, in der die Ursache für die Geschwisterrivalität liege. Aufgaben der Eltern liegen darin, den Kontakt zwischen den Geschwistern herzustellen, sie miteinander vertraut zu machen und allmählich den Aufbau einer Beziehung anzuleiten. Sie sollen all ihre Kinder versorgen und zufrieden stellen, möglichst ohne dass sich das ältere Geschwisterkind benachteiligt fühlt und dadurch die Rivalität verstärkt wird (Kasten, 1998, S. 91 f.). Rivalität zwischen Geschwistern bleibt aber in der Regel lebenslang ein Thema – von Kain und Abel an begleitet sie Entwicklungen, regt zu besonderen Leistungen an oder zerstört diese. Rivalität taucht im Lebenszyklus wiederholt und in unterschiedlicher Form auf (Beschreibung phasenspezifischer Herausforderungen und Konflikte bei Petri, 1994). Oft wird sie noch nach dem Tod der Eltern (z. B. in Fragen um das Erbe) wirkmächtig. Die existentielle Herausforderung des Umgehens mit der Ungerechtigkeit des Lebens, der Abschied von Wiedergutmachungsansprüchen und der Verzicht auf Rache werden in späteren Lebensphasen zum Thema.
Die Ankunft eines Geschwisterkindes führt zu progressiven und regressiven Entwicklungen der älteren Geschwister. Sie identifizieren sich mit dem Pflegeverhalten der Eltern (z. B. als »Beschützer« ihres kleinen Geschwisters) oder mit dem jüngeren Kind (und können dann auf frühere Entwicklungsstufen zurückgehen). Neid auf das Neugeborene kann verstärkt in den Vordergrund rücken und wird auf unterschiedliche Weise abgewehrt und bewältigt. Eine Spezialisierung der Kinder wird als »Nischenbildung« beschrieben. Geschwister suchen ihren Platz und entwickeln sich vor diesem Hintergrund unterschiedlich – wenn eine Position schon besetzt ist, suchen die neu dazugekommenen Geschwister nach anderen Rollen, um sich differenzieren zu können. Geschwister sind dadurch auch in ein- und derselben Familie unterschiedlichen Umwelten ausgesetzt – und sie schaffen sich mit einer Differenzierung weitere Unterschiede in der Art, wie sie ihre Familie erleben und von den Familienmitgliedern erlebt werden.
Freud hat betont, dass Geschwisterbeziehungen nicht notwendigerweise liebevoll zu sein brauchen. Sie bieten ein Übungsfeld für das Umgehen mit Ambivalenz. Wut, Neid, Ablehnung werden in einer Beziehung erlebt, die mit lebenslanger Verbundenheit einhergeht. Rivalität und Zugehörigkeit bestehen nicht trennbar nebeneinander – Geschwister sind Spielpartner und Rivalen. Ihre Rollen füreinander ändern sich im Lebenslauf. Sie sind Bindungspartner, Übergangsobjekte (Adam-Lauterbach, 2013) und wichtige Ressource der sozialen Unterstützung. Die Bedeutung der Geschwisterbeziehung folgt dabei in vielen Fällen einer U-Kurve mit viel Nähe in der Kindheit, eher wenig Nähe im jungen Erwachsenenalter und wieder mehr Nähe im Alter nach dem Auszug der eigenen Kinder. Schon sehr junge Kinder haben zeitlich etwa so viel Kontakt mit ihren Geschwistern wie mit ihren Eltern. Ab dem dritten Lebensjahr verbringen Geschwister mehr Zeit miteinander als mit ihren Müttern oder Vätern (Kasten, 1998). In der Gruppe der über 70 Jahre Alten haben in Deutschland 80 % der Menschen noch Geschwister, nur 45 % noch einen Ehepartner. Geschwister werden im Alter daher wieder Bezugspunkt und Ressource. Die Beziehung zwischen Geschwistern stellt die längste Beziehung dar, die ein Mensch zu einem anderen Menschen innehat. Kasten (1993) beschreibt eine tiefwurzelnde (oftmals uneingestandene) emotionale Ambivalenz mit dem gleichzeitigen Vorhandensein von intensiven positiven Gefühlen wie Liebe und Zuneigung und negativen Gefühle wie Ablehnung und Hass als Charakteristikum der Geschwisterbeziehungen. Darstellungen der Geschwisterbeziehungen aus psychoanalytischer Sicht finden sich bei Kasten (1993), Petri (1994) und Sohni (2004) und in den Sammelbändern der »Familientherapie« (2015, 16, Heft 30) und der »Psyche« (2017, 71, Heft 9/10).
Trotz dieser Arbeiten wird die Bedeutung von Geschwisterbeziehungen in den psychoanalytischen Theorien vergleichsweise wenig beachtet – am ehesten noch in der Literatur zu Gruppenanalyse und psychodynamischer Gruppenpsychotherapie (z. B. Staats, Bolm & Dally, 2014). In Gruppen kann gut beobachtet werden, wie Konflikte der Teilnehmer mit ihren Geschwistern in deren Ursprungsfamilie auf aktuelle Beziehungen in der Gruppe und auch auf Beziehungen der Kinder (der Gruppenteilnehmer) untereinander übertragen werden.
Beispiel:
Die als jüngstes Kind subjektiv in vielem »zu kurz« gekommene Mutter unterstützt immer wieder finanziell und emotional die jüngere, in ihrem Erleben zu kurz kommende Tochter; der als ältester Sohn geborene und gegenüber seinem jüngeren Bruder auf viel Aufmerksamkeit bedachte Vater fördert besonders den älteren Bruder über sein besonderes Interesse. Die Eltern bemühen sich bewusst um »Gerechtigkeit«. Die Rivalität der Geschwister wird durch das Verhalten der Eltern aber gesteigert. Beide fühlen sich benachteiligt. Die Geschwister erleben ihre Eltern als ganz unterschiedlich und brauchen ihre Zeit, um sich über ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Elternbilder verständigen zu können und die Sicht des jeweils anderen als ebenfalls berechtigt wahrzunehmen.
Neben Gemeinsamkeiten, werden oft deutliche, betonte Unterschiede zwischen Geschwistern beschrieben. Diese auseinanderführenden Entwicklungen werden auf zwei verschiedene Vorgänge zurückgeführt. Einerseits sind Geschwister von Beginn an subjektiv unterschiedlichen Umwelten ausgesetzt. Sie entwickeln sich daher auch unterschiedlich. Interaktionen in der Familie hängen von ihrem genetisch angelegten Temperament ab und von einer Umwelt, die durch ihre Ankunft schon anders ist als die ihrer Geschwister. Andererseits schaffen sich Geschwister diese unterschiedlichen Umwelten und Nischen auch aktiv, um sich zu unterscheiden und mit unterschiedlichen Entwicklungswegen Rivalität zu moderieren. Diese »Deidentifikation« trägt dazu bei, dass miteinander aufwachsende Geschwister sich in einigen empirischen Studien stärker unterscheiden als getrennt aufwachsende Geschwister. Identifizierungen und Abgrenzungen innerhalb der Geschwisterreihe nehmen Einfluss auf unbewusste Beziehungsvorstellungen und Erwartungen. Die dort gemachten Erfahrungen werden übertragen – auf die eigenen Kinder, Freunde, Arbeitskollegen und Partner.
Zur Entwicklung sozialer Kompetenz tragen Geschwisterbeziehungen in vielfältiger Weise bei. Sie ermöglichen eine – im Verhältnis zu den Eltern anders gelagerte und leichter erreichbare – Perspektivübernahme und Triangulierung. Beziehungen zu Geschwistern unterscheiden sich aber auch von denen zu Eltern. Geschwister geben direktere Rückmeldung. Während Eltern in Auseinandersetzungen häufig nachgeben, bleiben Geschwister eher »stur«. Konflikte werden durchgestanden. Die Geschwister erziehen sich gegenseitig – »unter der Supervision der Eltern«. Die horizontalen Bindungen und Konflikte zwischen Geschwistern treten oft nach dem Tod der Eltern besonders deutlich hervor.
Diese – entwicklungsfördernde – Sicht auf Geschwisterbeziehungen wird aber auch hinterfragt. Aus psychoanalytischer Perspektive wird das Erleben von Neid und Rivalität als wichtig zur Abgrenzung und Ich-Entwicklung angesehen. Aus verhaltenstherapeutischer Sichtwerden dagegen häufige körperliche Gewalt und Ausschluss als eine Ursache späterer Schwierigkeiten im Erwachsenenleben beschrieben. Rivalität gelte es zu verhindern – nicht als eine normale Entwicklungsphase hinzunehmen (Witte et al., 2019). Die Autoren beschreiben in einer umfangreichen Befragung Erwachsener zu ihrem Erleben in der Kindheit, dass ein geringer Altersabstand zwischen Geschwistern mit verstärkten Konflikten und Feindseligkeit einhergeht. Eine höhere Anzahl der Geschwister war dagegen mit geringerer Feindseligkeit und geringerer Konflikthäufigkeit im Erwachsenenalter verbunden.
Auch wenn Eltern sich um Gerechtigkeit bemühen – die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind unterschiedlich. Die Rolle eines Lieblingskindes, der »Prinzessin« oder des »Prinzen«, ist dabei auch eine Belastung für das Kind. Eine Einschränkung der Entwicklungsmöglichkeiten ist bereits in der Kindheit deutlich und kann – über anhaltende Konflikte mit den Geschwistern und nicht bewusste und nicht verhandelte Erwartungen zwischen Eltern und Kindern – über das ganze Leben hin wirksam sein. Im Einzelfall bleibt offen, ob das Erleben von Neid und Rivalität zwischen Geschwistern, wie es in der Geschichte von Aschenputtel so deutlich beschrieben ist, erfolgreich bewältigt oder zu einer bleibenden Belastung wird. Dies gilt ähnlich auch für sexuelle Erkundungen zwischen Geschwistern, in denen die Grenze zwischen Gewalt und einem einverständlichen Begehren und Erkunden nicht immer klar ist – und auch im Laufe des Lebens verschoben werden kann.
Einige Besonderheiten der Entwicklung von Geschwistern werden hier kurz angesprochen, weil sie hohe klinische Bedeutung haben. Scheidungen der Eltern wirken sich auch auf die Geschwisterbeziehungen aus ( Kap. 7.5). Verluste können, zumindest zum Teil, in einer Patchwork-Familie wieder kompensiert werden. In diesen Familien liegt es an der Zusammenarbeit der einzelnen Familienmitglieder, ob die Entwicklung der Kinder durch ihre Geschwister gefährdet oder bereichert wird. Der Tod von Kindern bringt nachfolgende Geschwister in eine besondere Situation. Die Rolle eines »Ersatzkindes« ist häufig mit lang anhaltenden Schwierigkeiten in der Selbstentwicklung verbunden, die mit einem überdauernden Erleben von Schuld und Scham einhergehen. Auch das Aufwachsen mit stark behinderten Geschwistern oder Pflegekindern in der Familie bietet besondere Schwierigkeiten. Es ist eine Herausforderung, hier Unterschiede im Umgang mit den Kindern nachvollziehbar zu gestalten und nicht zu verleugnen. Lauterbach (2007) beschreibt, wie Geschwisterbeziehungen »flach« und wenig wichtig bleiben können. Sie führt dies auf eine Parentifizierung von Kindern zurück – hier bleibt die Entwicklung emotionaler Beziehungen auf der horizontalen Ebene aus.