Читать книгу Die Schlotterbeck-Chroniken - Herrn Mark Wamsler - Страница 9
ОглавлениеDer große Lektor
Die Bibliothek befand sich im Stadtzentrum und war neben dem Rathaus und der Gesamtschule Zitterbolt eines der ältesten Bauwerke von Gruselheim. Da Julius und seine Mutter in den kleinen Gruften der Vereinigten Gruftbau-Gesellschaft am Stadtrand von Gruselheim wohnten, war es ein weiter Weg dorthin.
Julius hatte keine Lust auf den Fußweg und vor allem nicht auf einen Spaziergang durch die Schlodder-Allee. Es war fast Vor-Mond und zu der Zeit trieben sich da viele Nachtmahre und andere unheimliche und rauflustige Gesellen herum.
»Wir fliegen ’ne Runde, Flap.«
Wenn es eine Vampir-Eigenart gab, die Julius an sich mochte und sehr gern nutzte, dann war das das Fliegen. Als jugendlicher Vampir hatte Julius zwar noch keine voll ausgeprägten Flugfähigkeiten, was es ihm somit auch unmöglich machte, aus Gruselheim heraus-zufliegen oder gar andere Orte oder Städte zu besuchen. Flugdauer und Höhe hingen vom Alter und der Konstitution eines Vampirs ab und man munkelte, dass Lord Draco und ein paar andere alte Vampire es schon über die Turmspitze der Mondlanze auf den Gipfel vom Grauenstein geschafft hatten. Die Mondlanze war ein riesiger magischer Wach- und Aussichtsturm auf dem Grauenstein, dem höchsten Berg in den Dunkelbergen, welche Immernacht magisch von anderen Welten abgrenzte. Doch für einen Flug ins Stadtinnere reichte es.
»Bereit, Flap?«
Julius spannte seine Oberschenkelmuskulatur an, um sich mit einem kräftigen Sprung in den ewigen Nachthimmel zu katapultieren. Flap hatte wie immer Mühe, hinterherzukommen.
»Heeeey Juliuuuuuus, mach laaaangsaaaamer!«, schnaubte die Fledermaus.
Julius hatte die Augen geschlossen und genoss den Flug. Die kalte Immernachtluft schnitt ihm ins Gesicht und sein Kapuzenpulli flatterte wild im Wind.
Ich fliege eigentlich viel zu selten, dachte er sich und korrigierte mit seinen Handflächen in eine leichte Linkskurve. Die öffentlichen Verkehrsmittel wie der Vollmond-Express waren halt zum einen gemütlich und zum anderen konnte er mit dem Smartphone spielen oder schauen, was es Neues auf Monstagram gab. Beim Fliegen benötigte er all seine Sinne, wollte er nicht gegen ein Hindernis knallen oder mit anderen fliegenden Einwohnern von Gruselheim zusammenstoßen. Zerknirscht dachte Julius an den Vorfall, als er während des Vampirfluges kurz ans Handy gegangen war, nur um eine Sekunde später mit einer Post-Hexe zusammenzustoßen. Obwohl Vampire über eine ausgezeichnete Selbstheilung verfügen, hatte die vom Besenstiel der Hexe gebrochene Rippe sehr geschmerzt und mit Grausen dachte er an den fiesen Zauberspruch. Zur Strafe hatte die Post-Hexe Julius genötigt, alle ihr Pakete und Briefsendungen aufzulesen.
»Da vorne ist es, mach mal langsamer!«, quiekte Flap durch das Rauschen des Windes.
Und tatsächlich erhob sich vor ihnen der Stadtkern von Gruselheim mit seinen großen altehrwürdigen Gebäuden. Die Bibliothek sah aus wie eine Mischung aus Fachwerkhaus und gotischer Kathedrale, ebenso beeindruckend wie unheimlich. An der Seite der zwei Türme feixten die gemauerten Wasserspeier schon von Weitem.
»Heeey, es wird einen schönen Vollmontag geben, die trotteligen Vampire fliegen mal wieder tief!«
»Yo, Spitzzahn, mach langsamer, deine Lunch Box kommt mit seinen Stummelflügeln nicht hinterher!«
Ja, die Wasserspeier der Gruselheimer Bibliothek waren bekannt für ihre hämischen Sprüche, Streiche und Scherze. Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass ein gewisser Lektor ihnen mit Magie diese Flausen in die steinernen Köpfe gesetzt hatte.
»Na wartet!«, grinste Julius und hielt mit voller Geschwindigkeit auf den ersten Wasserspeier zu.
»M… Mo… Moment, Kleiner, was zum Teufel wird das denn jetzt?«
Julius klappte die Hände nach hinten und stob knapp vor dem vorlauten Wasserspeier senkrecht nach oben, worauf dieser vor lauter Schreck ein paar Steinchen in die Tiefe rieseln ließ.
»Sehr witzig, Blutpanscher!«, maulte es von oben, als Julius lässig vor der Eingangstür auffederte und auf den hechelnden Flap wartete.
»Yo, Flugmäuschen, friss mal weniger Käfer, sonst hält man dich bald für den Mond!«, schallte es vom Turm und meckerndes Gelächter ertönte.
»Wie ich diese Steinproleten hasse!«, knurrte Flap und setzte sich keuchend auf Julius’ Schulter. Dieser öffnete die große, knarzende Eingangstür zur Bibliothek.
Leicht muffige Luft schlug ihnen entgegen und Julius rätselte, ob es am Alter des Bauwerks oder an den Besuchern lag. Drinnen gab es sowohl schwere Eichentische und uralte Folianten als auch moderne Computer sowie neuere Bücher, Zeitschriften und Comics. Kronleuchter und Kerzenständer sorgten für warmes Licht und konkurrierten mit dem Flimmern der PC-Monitore. Die Bibliothek erstreckte sich über mehrere Stockwerke, die über verschiedene Wendeltreppen und einen Aufzug zu erreichen waren. Julius schlenderte im Eingangsbereich zu Frau Weberknecht und meldete sich an.
»Hallo, Frau Weberknecht, lange nicht mehr gesehen. Wie geht es Ihnen?«
Frau Weberknecht schaute mit einem ihrer Augenpaare von ihren Karteikarten auf und lächelte. Sie war eine Spinnendämonin kurz vor der Rente und ihr gedrungener Spinnenkörper steckte in einem weiten Blütenkleid, das mehrere Öffnungen für die acht Gliedmaßen hatte.
»Wenn das nicht mein Lieblingsvampir ist. Schön, dich mal wieder zu sehen, Julius Schlotterbeck. Warst schon länger nicht mehr hier. Habt ihr ein Schulprojekt oder willst du tatsächlich ein Buch lesen?«
»Gedrucktes ist tot, Frau Weberknecht!«, grinste Julius und fügte angesichts der sichtlich getroffenen Bibliothekarin hinzu: »Aber ich brauche tatsächlich was für ein … hmm … Schulprojekt und vielleicht nehme ich mir ja noch ein paar Comics mit.«
»Comics, pfffft!«, machte Frau Weberknecht verächtlich und winkte mit einem Spinnenarm ab, während ihre anderen Arme auf die Tastatur klackerten und Karteikarten sortierten. »Wir haben hier so viele schöne Bücher und die jungen Kreaturen von Gruselheim wissen nichts Besseres, als ständig an ihren Smartphones oder vor dem ScaryNet zu sitzen.«
Frau Weberknechts Augenpaare schauten plötzlich traurig und so lenkte Julius schnell ein: »Ich interessiere mich sehr für die Geschichte Gruselheims.«
Frau Weberknecht strahlte plötzlich. »Aaaah, das ist schön. Wo wir doch so eine lebhafte Geschichte hier in Gruselheim haben. Die Hexengilden. Die großen Kriege der Schreckritter. Die Ghoul-Invasion von 1822. Der Vampirkrieg. Der große Magier-Streik 1904. Die Schlacht von …«
»Frau Weberknecht«, unterbrach Julius freundlich, aber bestimmt, »ich muss dringend den großen Lektor Donatus sprechen. Meinen Sie, er hat kurz Zeit für mich?«
Frau Weberknecht wurde still und schaute auf ihren Schreibtisch.
»Du willst zum großen Lektor? Bist du dir sicher, Julius? Ich kann dir gerne weiterhelfen, wenn es um Bücher geht. Wer hier etwas sucht, wird es meist finden – ob er will, oder nicht.«
Julius beugte sich über die Theke und setzte eine geheimnisvolle Miene auf, die Flap sogleich versuchte, zu imitieren. »Frau Weberknecht, ich habe eine wichtige Aufgabe und deswegen muss ich unbedingt mit dem alten Donatus sprechen. Bitte sagen Sie mir, wo ich ihn finden kann.«
Frau Weberknecht klappte den Karteikasten mit einem lauten Klacken zu.
»Für dich, junger Mann, ist er der große Lektor. Und ja, er ist natürlich im Haus. Du findest ihn im dritten Stock. Aber ich warne dich, junger Vampir, er ist heute besonders schlecht gelaunt! Vorhin war eine Schulklasse da und hat nicht nur einen Riesenlärm gemacht, sondern auch eine seiner Medusen-Vasen vom Tisch gestoßen.«
Julius biss sich auf die Unterlippe. »Schlechter als sonst? Auweia«, murmelte er und drehte sich zu Flap. »Vielleicht solltest du eher bei Frau Weberknecht bleiben. Der alte Don… ääähm, der große Lektor steht, glaub ich, nicht so auf Haustiere und Dämonen-Begleiter.«
Flap überlegte kurz und quietschte dann vergnügt: »Kein Ding, Bro, ich bleib hier und stehe Schmiere.«
Frau Weberknecht nestelte mit einem ihrer acht Arme an einer Schublade herum. »Du bist aber eine niedliche kleine Fellkugel. Hast du Hunger? Magst du Leckerli?«
Flap funkelte sie an. »Bin ich ein dämlicher Hund oder was? Ich bin eine hocheffiziente, mit Echolot ausgestattete Kommando-Einheit mit … oooh – getrocknete Motten, leeeckeeer!« Flap flatterte hurtig hinter die Theke und fraß genüsslich aus Frau Weberknechts Spinnenhand.
»Na dann viel Spaß und lass es dir schmecken, du hocheffiziente Kommando-Einheit. Bis später!«, grinste Julius und verließ die Empfangstheke in Richtung Wendeltreppe.