Читать книгу Geheimnisvolle Pfade Bayerischer Wald - Herwig Slezak - Страница 15
NATIONALPARK UND NATURPARK
ОглавлениеDer Nationalpark Bayerischer Wald umfasst 24 250 Hektar, was rund 35 000 Fußballplätzen entspricht. Auf nahezu drei Viertel seiner Fläche wird auf Eingriffe von Menschenhand verzichtet gemäß der Devise »Natur Natur sein lassen«. Nach dem 50. Geburtstag im Jahr 2020 herrscht nahezu Einigkeit: Das Experiment ist geglückt. So darf im Nationalpark auch künftig die Natur ihre ureigene Kraft entfalten. Wer geschädigte Flächen im Auge behält, sieht aus dem vermeintlichen Totholz gesunden Mischwald sprießen. Skeptiker beruhigt, dass außerhalb der Naturzone die Fichten, die der Borkenkäfer befällt, weiterhin aufgearbeitet oder handentrindet werden. Nicht zu verwechseln ist der Nationalpark mit dem angrenzenden Naturpark Bayerischer Wald. Dieses großräumige Schutzgebiet ist mehr als zehnmal so groß und wird nicht nur touristisch, sondern auch land- wie forstwirtschaftlich genutzt.
TIERISCHE BEGEGNUNGEN Im Bayerwald leben Wolf, Luchs, Auerhuhn, Fischotter und Habichtskauz, die anderswo schon lange aus der freien Wildbahn verschwunden sind. Im Oberen Bayerwald in der Chamer Ecke sichteten Naturfans erst kürzlich ein äußerst seltenes weißes Reh mit einem weißen Kitz – wo genau, wird nicht verraten, um keine Störenfriede anzulocken. Vor übermotivierten Jägern sollten die beiden Vierbeiner sicher sein, denn der Volksmund sagt: Wer ein weißes Reh schießt, stirbt innerhalb eines Tages. Und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. In Acht nehmen müssen sich Rehe hingegen vor Wölfen. Spuren im Schnee verraten im Winter, wo sie sich im Nationalpark herumtreiben. Zu Gesicht bekommen wir die scheuen heimischen Tiere in freier Wildbahn ohnehin nur mit Glück. In den beiden großräumigen und naturnahen Tier-Freigeländen im Nationalparkzentrum Falkenstein in Ludwigsthal und im Nationalparkzentrum Lusen bei Neuschönau sieht das wesentlich besser aus.
Teils licht, teils dicht begegnet uns der Forst.
FRÜCHTE DES WALDES Die Muttergottes selbst soll auf dem Rachelgipfel die Menschen vor Hunger bewahrt haben. Einer Legende nach brach die Jungfrau Maria nämlich aus ihrer Krone rote Korallen, funkelnde Granaten, purpurne Rubine sowie schwarze Perlen und ebensolche Diamanten heraus. Aus diesen Edelsteinen entstanden die Erdbeeren, Himbeeren, Preiselbeeren, Heidelbeeren und Brombeeren. Die Splitter zweier Topase, die Marias Gürtel zusammenhielten, ließen dieser Geschichte nach »Schwammerl« wachsen, also Pilze. Rund 5000 Arten werden im Mittelgebirge vermutet. Darüber hinaus sprießen in den tiefen Wäldern bodendeckende Moose und Flechten, in Felshöhlen wie am Lusen sogar phosphoreszierendes Leuchtmoos.
AUF DEM HOLZWEG Für schattige Pfade sorgen Bergfichten-, Bergmisch- oder Aufichtenwälder. Da die vergleichsweise schnell wachsenden Fichten als beliebte Holzlieferanten gelten, geht es vielerorts auf Menschenhand zurück, dass diese Nadelbaumart dominiert. Dem Borkenkäfer macht es das Leben leicht, denn die Fichte ist seine Wirtspflanze. Artenreichtum zeigt dem gefräßigen Krabbeltier hingegen seine Grenzen auf.
DER WALD UND DER TOD »Durch eines Ochsen Hornesstoß, kam er in des Himmels Schoß.« Sinnsprüche auf Totenbrettern am Wegesrand veranschaulichen, warum ein Erdenbürger das Zeitliche segnete. Früher lagen die Verstorbenen bis zur Einsargung drei Tage lang zuhause auf einem Totenbrett aufgebahrt. Es bürgerte sich ein, das Totenbrett nach der Beerdigung zu verzieren, zu beschriften sowie in der Nähe von Gotteshäusern oder an Stellen aufzustellen, zu denen Verstorbene eine besondere Beziehung pflegten. Auch wenn Särge und Urnen die Totenbretter abgelöst haben, bemühen sich traditionell Gesinnte noch vielerorts, den Brauch zu erhalten oder wiederzubeleben. Neben Zeichen tiefen katholischen Glaubens gibt es im Bayerwald auch Relikte aus vorchristlicher Zeit zu entdecken. Auf dem Riederinfelsen im Süden von Bodenmais in der Nähe der Kuhalm sollen etwa die Kelten, also die regionalen Verwandten von Asterix und Obelix, blutige Opfer dargebracht haben. Von der größten Schale aus führt eine erkennbare Rinne über den Felsenrand hinweg in den Abgrund.
TRIFTIGE GRÜNDE Steter Tropfen treibt das Holz. Bis ein gefällter Baum aus dem Bayerwald anno dazumal als Heizmaterial in den Donaustädten ankam, dauerte es fast ein Jahr. Zunächst schlugen die Waldarbeiter im Sommer das Holz. Im folgenden Winter zogen es die »Waidler« mittels Schlitten zu begradigten Bächen. Im Oberlauf dieser Triftgewässer staute man das Nass in Klausen, Schwellen genannt. Eigens angelegte Kanäle führten zusätzlich Wasser heran. Zur Schneeschmelze wurden die Sperren gezielt geöffnet. Das talwärts schießende Nass riss die vorbereiteten Stammteile mit sich. Stromabwärts verkeilten sich diese etwa 3 Meter langen »Sägeblochen« idealerweise nicht ineinander. Die Ursprünge dieser ausgeklügelten Transportmethode reichen ins späte Mittelalter zurück. Vor 150 Jahren erreichte die Trift im Bayerwald ihren Höhepunkt. Moderne Transportmittel bereiteten dem aufwendigen Treiben ein Ende. Erhaltene Schwellen bekommen wir heute immer noch zu Gesicht, und zwar vor dem Schwellhäusl (Tour 11), am Höllbach (Tour 13), neben der Racheldiensthütte (Tour 15, 16), am Lusen (Tour 17), bei Altschönau (Tour 18) oder am Steinbach (Tour 19).
LICHTE HOCHWEIDEN Von dem Zeitpunkt an, als Menschen den Bayerischen Wald besiedelten, entstanden Kulturlandschaften. Dazu zählen Hochweiden, in den Höhen von Niederbayern als Schachten bezeichnet (auf Tour 13 passieren wir drei Schachten). Hintergrund: Über 300 Jahre lang trieben Hirten vorwiegend Jungstiere und Ochsen im Hochsommer auf die almartigen Freiflächen. Vor rund 60 Jahren gab man die mühselige Arbeit auf. Damit die Inseln im Waldmeer nicht zuwachsen, wurden allein im Arbergebiet in letzter Zeit sieben Hochweiden reaktiviert, und zwar Arberschachten, Bodenmaiser Mulde, Buchhüttenschachten, Bürstling, Diensthüttenschachten, Hochzell und Mittagsplatzl. Das Experiment könnte Schule machen, wobei heutzutage Weidezäune die Hirten großenteils ersetzen. Auch im Lamer Winkel stoßen wir auf Hochweiden, wobei dort nicht von Schachten, sondern etwa von der Osserwiese gesprochen wird.
Wanderrevier, wie es im Buche steht: der Bayerische Wald
INTAKTE NATUR, ECHTES LEBENSGEFÜHL, GÜNSTIGE PREISE Im Anschluss an eine Untersuchung im Jahr 2021 meldete die Passauer Neue Presse: Die Menschen in Niederbayern empfinden ihre Region als das ursprüngliche Bayern und betrachten den Bayerischen Wald als unverfälschte Lebenswelt. Autor Teja Fiedler spricht zugespitzt von »kitschresistentem Bayern ohne Make-up«. Interessant und angenehm: In keiner anderen weißblauen Region schätzen die Einheimischen das Preisniveau niedriger ein als in Niederbayern. Natürlich gehören der Lamer Winkel und der Falkensteiner Vorwald bereits zur Oberpfalz. Aber der einst niederbayerische Altlandkreis Bad Kötzting kam erst durch die Gebietsreform von 1972 zum Landkreis Cham im nördlich angrenzenden Regierungsbezirk. Ein Stück verlorene Identität stellen heute lokalpatriotisch Gesinnte zur Schau, die – wie seit ein paar Jahren gestattet – ihr Auto mit dem Altlandkreis-Nummernschild »KÖZ« versehen. Der Falkensteiner Vorwald wiederum gehört schon immer zur Oberpfalz. Da sich die Lebensart und die Landschaft ähneln, kümmert sich der Tourismusverband Ostbayern (TVO) zusammen ohnehin um beide Regionen. Sein Sitz: die UNESCO-Welterbestadt Regensburg. Kontaktiert werden kann die übergeordnete Anlaufstelle unter der Telefonnummer 0941/58 53 90 oder im Internet unter www.ostbayern-tourismus.de. Zu guter Letzt zählt: Wer auf sagenhaften Pfaden über das grüne Dach Europas wandert, wird kleine wie große Geheimnisse lüften. Und jetzt schreiten wir zur Tat.