Читать книгу Tödliches Erbe - Hildegard Grünthaler - Страница 11
ОглавлениеKapitel 5
Nadine überprüfte noch einmal ihr sorgfältiges Make-up. Kein Fältchen war mehr zu sehen, das ihre 39 Jahre verraten könnte. Die Frisur saß perfekt. Nicht ein einziges graues Haar hatte sie bisher entdeckt. Sie hoffte, dass sie es nicht färben und abschneiden musste. Bevor sie ins Schlafzimmer ging, fixierte sie ihr goldblondes Haar noch einmal leicht mit Spray.
Der Kleiderschrank war noch gut gefüllt. Die gediegenen, repräsentativen Klamotten, in denen sie als Ehefrau des Firmenbosses Geschäftspartner und Kunden begrüßt und bewirtet hatte, brauchte sie in ihrem neuen Leben nicht mehr. Das ganze Winterzeug noch weniger. Sie nahm den Blazer vom Bügel, der so gut zur dunkelblauen Hose und der cremefarbenen Seidenbluse passte und entschied sich dazu, auch noch einen leichten Pulli mitzunehmen, bevor sie in bequeme Sneakers schlüpfte. Sie benötigte in den nächsten Tagen knitterfreie und praktische Kleidung.
Ihren Flug in die Schweiz und am nächsten Tag weiter nach Malaga hatte sie im örtlichen Reisebüro gebucht. One-Way. Sie hatte nicht die Absicht zurückzukommen. Das Gepäck war überschaubar. Nur die nötigsten Kleidungsstücke und Schuhe, Kosmetik und natürlich ihr Schmuck. Sie würde sich fast immer in der Wärme aufhalten und außerdem hatte sie vor, sich neue, extravagantere oder fetzigere Klamotten nachkaufen.
Sie war froh, diesen alten Kasten mit seinen vielen antiken Möbeln hinter sich zu lassen. Ihr wäre schon immer ein modernes Haus oder ein schickes Penthouse lieber gewesen. Aber Jörg hatte davon nichts wissen wollen. Familienerbe, so etwas verkauft man nicht. Bla bla bla. Ein Glück, dass sie es so schnell losgeworden war. Jetzt konnte dieser Jason West, oder wie immer er in Wirklichkeit hieß, darin einziehen und sein Kindheitstrauma vom armen Putzfrauensohn aufarbeiten.
Zum Glück hatte alles wie am Schnürchen geklappt. Notar, Grundbuch usw. Er hatte es eilig gehabt, weil der nächste Filmdreh bevorstand und sie natürlich auch. Ein Glück, dass sie sich nicht um das Mobiliar und den sonstigen Krempel hatte kümmern müssen, weil der Kerl das antike Gerümpel so toll fand. Na ja, ohne Schminke und Toupet sah der auch schon antik aus. Hollywood-Star - vor noch nicht allzulanger Zeit wäre sie wahrscheinlich auf den geflogen, denn der Typ hatte offensichtlich Geld wie Heu. Aber inzwischen hatte sie genug von solch alten Säcken, und Geld hatte sie jetzt selbst. Das alte Leben mit seinen gesellschaftlichen Zwängen lag hinter ihr, der erste Schritt ins neue, aufregende war getan. Draußen wartete bereits das Taxi. Als die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel, atmete sie auf.
Karola Voigt starrte fassungslos auf etliche Dutzend grauer Müllsäcke, die sich in der Diele stapelten.
»Bitte schaffen Sie das Zeug in den Säcken zur Müllumladestation. In den Schränken hängen noch Jörgs Anzüge und viele meiner Kleider. Machen Sie damit, was Sie meinen. Wegwerfen, oder spenden Sie den ganzen Kram der Heilsarmee oder sonst wem. Dieser Schauspieler hat das Haus komplett möbliert gekauft, einschließlich Geschirr usw. Er wird später entscheiden, was er behalten will. Seine Mutter wird Ihnen bei der Durchsicht behilflich sein. Ach ja, das restliche Gehalt für Sie und Ihren Mann habe ich auf Ihr Konto überwiesen.« Mit diesen Worten war sie sie grußlos zur Tür hinausgerauscht und in das wartende Taxi gestiegen.
Arrogante Kuh! »Rüdiger«, sagte die Haushälterin zu ihrem Mann, »du wirst mir helfen müssen, die ganzen Säcke wegzubringen. Wir werden den Anhänger brauchen, sonst fahren wir x-mal.«
»Klar, und dann sehen wir die vielen Kleider in den Schränken durch. Vielleicht ist da was für dich dabei.«
»Ach Rüdiger, das wäre ja schön. Aber die Klamotten passen mir leider nicht.«
Rüdiger Voigt betrachtete seine kleine, pummelige Frau mit der großmütterlichen Dauerwellenfrisur. Nein, die elegante Garderobe der großen, schlanken Frau Brandmüller war nichts für sie. Genauso wenig wie ihm die Anzüge ihres verstorbenen Ehemanns passen würden. Und überhaupt, wann und wo sollte er die tragen?
»Die Sachen lassen sich bestimmt im Secondhandshop verkaufen«, entschied er. »Und für den Erlös kaufst du dir ein paar schicke Sachen, die dir passen. Ja, und eine modernere Frisur solltest du dir auch zulegen. Nur weil du bald 60 wirst, bist noch nicht zu alt dafür!«
Die Bankgeschäfte in Zürich waren schnell erledigt. Sie checkte in einem Hotel ein und flog am nächsten Morgen weiter nach Malaga. Mit einem Taxi ließ sie sich nach Torre del Mar zu ihrer Stiefmutter fahren. Am Tag darauf nahm sie die Eisenbahn. Nach mehrmaligem Umsteigen kam sie endlich in Paris an. Sie widerstand der Versuchung, eine ausgedehnte Shoppingtour durch die Modehäuser der Stadt zu unternehmen, sondern ließ sich per Taxi zum internationalen Flughafen kutschieren. Sie buchte einen Flug nach Bangkok und verbrachte eine Nacht im Flughafenhotel. In Bangkok blieb sie zum Ausspannen für zwei Tage in einem Luxus-Resort, bevor sie mit einem Return-Ticket den Flieger nach Sydney bestieg. Ohne Rückflug und ohne Visum würde man sie sonst nicht ins Land lassen.
Als der Flieger abhob, atmete Nadine auf. Erst jetzt konnte sie sich richtig entspannen, obwohl sie sicher war, dass sich ihre Spur nicht so einfach nachverfolgen ließ. Aber warum sollte das jemand versuchen. Es gab keinen Anlass, sie zu verdächtigen und schon gar keine Möglichkeit, ihr irgendetwas nachzuweisen. Und genau in diesem Moment überfiel es sie eiskalt: Sie hatte das belastende Material nicht richtig entsorgt. Zuerst hatte sie es aufgehoben, weil sie sich nicht sicher war, ob gleich der erste Versuch die entsprechende Wirkung zeigen würde. Dann hatte sie es in eine Tüte gepackt, um damit zur Müllstation zu fahren. Dummerweise hatte sich genau zu diesem Zeitpunkt der Makler angekündigt. Sie hatte die Tüte versteckt und vergessen. Erst als sie ihre persönlichen Sachen zusammengepackt hatte, war sie ihr wieder unter die Finger gekommen. Aber vermutlich war inzwischen längst alles auf dem Müll gelandet. Sie war jetzt auf dem Weg in eine der schönsten Städte der Welt, hatte für eine Woche ein luxuriöses Hotel gebucht und dann würde sie weiter nach Brisbane fliegen.
»So, das wäre die letzte Fuhre, danach nehmen wir uns die edle Garderobe der Dame vor!« Rüdiger Voigt hievte den letzten Müllsack auf den Anhänger, blieb dabei aber an einer schadhaften Außenkante hängen. Die Plastikfolie zerriss, und der Inhalt des Sacks verteilte sich klappernd auf dem Pflaster.
»Kannst du nicht aufpassen?«, schnauzte ihn seine Frau genervt an. Sie holte eilig einen neuen Müllsack und schimpfte: »Jetzt müssen wir den ganzen Krempel wieder aufsammeln!«
Der Gescholtene zuckte ergeben mit den Schultern und begann, Kosmetika, diverse Lockenstäbe und Haarbürsten, High Heels, ausgemusterte Handtaschen und anderen Kram in den neuen Sack zu stopfen. Warum er in eine undurchsichtige Plastiktüte mit dem Aufdruck eines Drogeriemarkts hineinsah, bevor er ihn zu den anderen Sachen in den Müllsack warf, wusste er selbst nicht.
»Was ist denn das für ein komisches Ding?« Das eckige Kunststoffgerät, das er in der Hand hielt, bestand aus mehreren Teilen. Eine Platte hatte runde Vertiefungen, während die andere scheinbar das Gegenstück war, denn die Zapfen passten genau in die Vertiefungen hinein. Außerdem war da noch ein Beutel mit halben, weißen Kunststoffkapseln dabei. Aber nicht nur das, in einer kleineren Tüte fand er etliche gefüllte Kapseln.«
»Ich kann dir sagen, was das ist«. Karola griff in den Beutel, der mit ›Leerkapseln, weiß, Größe 0‹ beschriftet war. »Damit kann man selbst Kapseln aus Vitaminpulver oder anderen schlecht schmeckenden Nahrungsergänzungsmitteln herstellen«.
»Aha, und warum sollte man das tun?«
»Das kommt billiger, als wenn man solche Vitaminkapseln fertig in der Apotheke kauft. Meine Tante Hedwig benützt auch so ein Ding für die ganzen Vitamine, die sie schluckt«.
»Verstehe. Drum ist sie schon so alt und noch immer fit. Aber was ich nicht kapiere: Deine Tante Hedwig bezieht nur ne kleine Rente und muss sparen. Das leuchtet ein. Diese Frau Brandmüller hingegen ist zwar knauserig, wenn es um uns geht, aber Geld hat sie mehr als genug. An sich selbst hat die bestimmt noch nie gespart. Warum sollte die sich ihre Vitaminkapseln selbst herstellen? Und sieh mal, da in dem Beutel sind ja auch ein paar fertige Kapseln drin. Was das wohl für ein Zeug ist?«
»Rüdiger, wir werden diesen Kapselfüller samt den Leerkapseln aufheben, besonders aber die vollen. Weiß der Teufel, was da drin ist.«
»Gift?«
»Gut möglich. Wir sollten damit zur Polizei gehen.«
»Karola, das gibt nur unnötiges Theater«.
»Die Brandmüller hat vermutlich ihren Mann umgebracht!«
»Das geht uns doch gar nichts an«.
»Doch, das geht uns was an!«
»Und wenn das Zeug ganz harmlos ist?«
»Egal, ich geh damit zur Polizei!«