Читать книгу Tödliches Erbe - Hildegard Grünthaler - Страница 9
ОглавлениеKapitel 3
Das Städtchen hatte sich verändert, war größer geworden, moderner. Die liebevoll renovierten Fachwerkhäuser in der Innenstadt gaben dem Ort einen eigenen Charme. Amerikanische Touristen, gewöhnt an gesichtslose Städte, fuhren darauf besonders ab und fotografierten wie wild. Selbst die alten Bruchbuden in der Bahnhofstraße, wo er als Kind zusammen mit seiner Mutter gewohnt hatte, waren ein wenig aufgehübscht worden.
Er lenkte seine Schritte stadtauswärts. Je weiter er sich der alten Hofstetter-Villa näherte, umso mehr fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Damals, als seine Mutter für einen Hungerlohn für die Familie Hofstetter geschuftet hatte. Sie hatte geputzt, gewaschen, gebügelt. Manchmal hatte er draußen vor dem großen Garten auf sie gewartet, denn der Bub der Putzfrau hatte das Grundstück nicht betreten dürfen. Einmal, als die Familie in den Urlaub gefahren war, hatte ihn seine Mutter, die in der Abwesenheit der Besitzer die Blumen gießen musste, mit in die Villa genommen. Noch heute hörte er das gebohnerte Parkett unter seinen Füßen knarzen, sah er die kostbaren Teppiche, die Gemälde, die hohen Stuckdecken. Damals hatte er sich geschworen, dass er einmal selbst solch eine feudale Villa besitzen würde.
In der alten Hofstetter-Villa war inzwischen die Stadtbibliothek untergebracht; der große Garten, in dem früher nur die Kinder der Familie spielen durften, war in einen öffentlichen Spielplatz umgewandelt worden. Der alte Hofstetter, der stets von einem Chauffeur herumkutschiert worden war, hatte die Zeichen der Zeit nicht erkannt und seine Schreibmaschinenfabrik mit Pauken und Trompeten in den Bankrott geführt. Es hieß, er habe den Ruin nicht verkraftet und mit einer Kugel in den Kopf seinem Leben ein Ende gesetzt.
Die Fabrik war längst abgerissen worden. Auf dem Gelände hatte die Stadt eine neue Wohnsiedlung mit modernen Eigentumswohnungen errichtet. Heute besaß seine Mutter dort eine gemütliche Wohnung. Sie hatte nicht zu ihm nach Kalifornien ziehen wollen.
Er zückte sein Smartphone und scrollte sich durch die örtlichen Immobilienmakler. Bis auf einen hatte er schon alle abgeklappert. Er musste zurück in die Innenstadt. Als er am Kino vorbeikam, machte dort ein Hochglanzposter für seinen neuesten Film Reklame. Selbstverständlich kannte man Jason West in Kleinaltheim, aber man erkannte ihn nicht. Ungeschminkt und ohne das lästige Toupet, unter dem er vor der Kamera und bei offiziellen Anlässen sein langsam immer lichter werdendes, ergrauendes Haar und die beginnende Stirnglatze überdeckte, sah er wesentlich älter aus, aber das hielt die lästigen Paparazzi fern. Außerdem hatte er sich nicht im Hotel, sondern bei seiner Mutter einquartiert und benützte seinen Künstlernamen nicht. Hier war er ganz schlicht Dieter Rödel.
Das Schaufenster des ehemaligen Schuhgeschäfts war mit Hochglanzfotos und Exposés zugeklebt. Schicke Einfamilienhäuser, alte Siedlerhäuschen, praktische Reihenhäuser, renovierte Mehrfamilienhäuser, Mietwohnungen, Eigentumswohnungen, Gewerbeobjekte, Bürohäuser - Simon Wolf makelte mit allem, was der Kleinaltheimer Immobilienmarkt hergab. Geschickt verstand er es, die Vorzüge seiner Objekte ins rechte Licht zu setzen. Er genierte sich auch nicht, die letzte baufällige Bruchbude mit blumigen Worten anzupreisen.
Mit schnellem Blick taxierte er seine Kunden. Waren sie zahlungskräftig genug für die Objekte, die sie besichtigen wollten, oder verschwendete er nur seine Zeit? Jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, die einen von den anderen zu unterscheiden. Er täuschte sich selten. Und jetzt stand da dieser Typ in seinem Laden. Simon rückte seine etwas zu bunte Krawatte zurecht, knöpfte das zu eng gewordene Jackett zu und setzte sein in langen Jahren antrainiertes Maklerlächeln auf:
»Eine Fabrikantenvilla suchen Sie?« Simon musterte seinen Besucher. Der war gut und gerne eins neunzig groß, trug Bluejeans, Sneakers und ein graues Sakko über dem T-Shirt. Wie alt mochte der sein? 50? 55 oder älter? Simon registrierte zufrieden, dass das dunkle Haar des Kunden grau meliert und zu einer Stirnglatze zurückgewichen war. Das erleichterte ihm, seine eigenen Mängel des Älterwerdens zu ertragen.
»Ja, eine geräumige Villa, so wie sie in früheren Zeiten die Fabrikbesitzer hier im Ort hatten. Große Räume mit hohen Wänden, Stuck an der Decke und gebohnerte Parkettböden.«
Der Kunde, er hatte sich als Dieter Rödel vorgestellt, kam ihm irgendwie bekannt vor, sprach mit einem leichten amerikanischen Akzent.
»Allerdings sollte sie renoviert und technisch auf dem neuesten Stand sein. Kein Badezimmer von anno dazumal.«
Eine große alte Villa! Wenn der Kerl kein Hochstapler war, sondern der reiche Ami, der er zu sein schien, war dieser Typ ein echter Glücksfall - aber das konnte er sich ja nicht gleich anmerken lassen. Er kratzte sich erst einmal überlegend am Kopf und blätterte demonstrativ in seinen Unterlagen. Längst wusste er, welches Haus er ihm anbieten würde. Die Villa, die er wegen der Größe und der Preisvorstellung der Besitzerin für schwer verkäuflich gehalten hatte. Die wollte das Anwesen zwar auf schnellstem Weg loswerden, selbstredend aber auch so teuer wie möglich. Nun, jetzt würde er hoffentlich die fette Provision einstreichen. Er blätterte, murmelte »Nein, das ist zu klein«, blätterte weiter, murmelte »Das auch nicht, es muss erst aufwendig renoviert werden«, blätterte weiter: »Aber das! Das müsste passen!«, rief er aus. »Ich glaube, ich kann Ihnen ein hochinteressantes Objekt anbieten. Die Eigentümerin ist frisch verwitwet und will so schnell wie möglich für immer zu ihrer Mutter nach Südspanien ziehen.«
Simon Wolf hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt und sofort für den nächsten Tag einen Besichtigungstermin vereinbart. Auch auf die Gefahr hin, dass sein Kunde ein Angeber war, der lediglich vorhatte, mal eine schicke Hütte zu besichtigen, um sich für kurze Zeit reich zu fühlen. Aber an wen erinnerte er ihn? Nachdem er sich eine Zeit lang ergebnislos das Hirn zermartert hatte, fuhr er seinen PC hoch und startete die Googlesuche.
Kostbare Perserteppiche lagen auf gebohnertem Parkett, Stuckornamente schmückten die hohen Decken, funkelnde Kronleuchter spendeten warmes Licht. Dieter Rödel fühlte sich in seinen Kindheitstraum zurückversetzt. Alles an und in diesem Haus war edel, gediegen, teuer. Die Villa umgab eine Aura von altem Geld und Macht, zeugte vom erlesenen Geschmack der Besitzer, nicht zu vergleichen mit dem glamourösen Tinnef neureicher Hollywoodsternchen. Nein, auch sein Haus im sonnigen Kalifornien konnte gegen dieses alte, stilvoll renovierte Anwesen nicht bestehen.
»Beachten Sie bitte die hochwertigen, dreifach verglasten Fenster, eine Spezialanfertigung!« Der Makler wuselte mit ehrerbietigen Gesten durch die Räume, pries die teuren Vollholztüren, die frisch renovierten Badezimmer, die hochmoderne Küche, die sparsame Heizung. Jason West, alias Dieter Rödel, oskargekrönter Hollywoodstar und bewunderter Actionheld beabsichtigte, in diesem Kleinstadtkaff eine Villa zu kaufen. Wenn er diese Sache zu einem erfolgreichen Abschluss brächte, fiele mit Sicherheit auch ein bisschen Glanz für ihn und sein Maklerbüro ab. Er musste dem Filmfritzen dieses Haus verticken. »Alles edel und geschmackvoll«, schwärmte er weiter, »aber Frau Brandmüller möchte nicht alleine in dem großen Haus leben.«
Die nickte zustimmend. Mach deine Dollars flüssig, damit ich endlich abhauen kann. »Die ständige Erinnerung an die glücklichen Jahre, die ich hier in diesem Haus mit meinem Mann verbracht habe, ist so schmerzlich, dass ich es so schnell wie möglich verkaufen will.« Nadine betupfte mit einem Taschentuch ihre Augen, vorsichtig darauf bedacht, ihr Make-up nicht zu verwischen. Sie folgte dem Interessenten und dem Makler durch die stilvoll möblierten Räume. Auch wenn sie einst als schlichte »Tippse« bei BraMüTec angefangen hatte, die große Dame hatte sie längst drauf. »Jedes Möbelstück birgt so viele Erinnerungen - ich kann nichts davon behalten.« Ich hasse dieses dunkle alte Gerümpel, aber Jörg hatte behauptet, dass moderne Möbel in diesem Haus ein Stilbruch wären. »Ich werde die Möbel an einen Antiquitätenhändler verkaufen, es sei denn, der Käufer möchte das Haus möbliert erwerben.« Sie wandte sich wieder ab, um diskret, aber trotzdem so, dass es bemerkt wurde, die Augen abzutupfen und die Nase zu putzen.
Mit der Trauernde-Witwe-Nummer im schwarzen Seidenkleid wärst du die ideale Seifenopernbesetzung, dachte der Hollywood-Experte und sagte dann laut: »Ich kann sehr gut verstehen, dass die vielen Erinnerungen für Sie sehr schmerzhaft sind.« Er war zwar längst Amerikaner durch und durch, aber neben dem Actionhelden hatte er auch den vollendeten Gentleman im Repertoire. Nadine Brandmüller erinnerte ihn sehr an Ehefrau Nummer drei, die ihn bei der Scheidung kräftig geschröpft hatte.
So perfekt geschminkt wie Frau Brandmüller war, das schulterlange, goldblonde Haar in kunstvolle Wellen frisiert, verbrachte sie wahrscheinlich ihre Tage beim Friseur und der Kosmetikerin, wenn sie nicht ihre schlanke Figur im Fitnesscenter trainierte. Aber das Haus, die Möbel - ein Traum. Und der parkähnlich angelegte Garten mit dem großen Pool war genau das, was er gesucht hatte.
»Wer hält denn das Haus und den Garten in Schuss?«
»Das macht meine Haushälterin, Frau Voigt. Ihr Mann kümmert sich um den Garten.«
»Wie Sie sehen«, sprang der Makler sofort darauf ein, »bräuchten Sie sich darum gar nicht zu kümmern. Das Ehepaar Voigt wäre vermutlich froh, wenn sie die Jobs behalten könnten.«
»Ich bin an diesem Haus samt dem Mobiliar sehr interessiert«, verkündete Dieter Rödel. Ich hoffe, wir können uns über den Preis einigen.«
»Oh, das werden wir ganz bestimmt«, dienerte Simon Wolf. Er hatte bereits vorsichtig durchs Fenster gespäht und festgestellt, dass sein Plan aufgegangen war. Er richtete es so ein, dass er genau neben seinem Kunden durch die Tür nach draußen trat, denn just in diesem Moment setzte das Blitzlichtgewitter ein.
»Herr West, was machen in Sie in Kleinaltheim?«
»Herr West, wollen Sie hier ein Haus kaufen?«
»Herr West, welche Rolle werden Sie in Ihrem nächsten Film verkörpern?«
Simon Wolf strahlte in die Kameras, als wenn der Auflauf ihm gegolten hätte. Nadine Brandmüller drehte jedoch erschrocken um und verschwand im Haus.