Читать книгу Tödliches Erbe - Hildegard Grünthaler - Страница 12
ОглавлениеKapitel 6
Ein ganzes Jahr lang hatten sie geplant. Kaum dass sie von ihrer erlebnisreichen, und mitunter recht aufregenden, einjährigen Nordamerikareise zurückgekommen waren, hatten sie ihre Fühler nach einem neuen, geeigneten Wohnmobil ausgestreckt. Sie hatten bereits einige Europareisen mit dem neuen Mobil unternommen, um es auf Herz und Nieren zu prüfen, sie hatten die Route geplant und sich durch die bürokratischen Anforderungen gearbeitet. Und nun waren sie wirklich und tatsächlich hier.
»Sagenhaft, dieses Panorama!«, schwärmte Helga. Sie hatte den eben erstandenen Buschhut aufgesetzt, saß auf der Treppe des Opernhauses und genoss das Gefühl, Down Under in Sydney, am anderen Ende der Welt zu sein. Jürgen hatte die Spiegelreflexkamera gezückt und kommandierte: »Sag mal ‚Cheese‘!«
»Wart doch noch ein wenig mit dem Foto«, schlug Helga vor. »Du kriegst doch viel zu viele Leute mit aufs Bild!« Aber Jürgen hatte schon abgedrückt.
»Wenn ich warten soll, bis du ganz alleine auf der Treppe vor dem Sydney-Motiv sitzt, dann steh ich heute Abend noch da. Es sind einfach zu viele Touristen unterwegs!«
»Ja ja, die Touristen sind immer nur die anderen!«, feixte Helga. »Aber die Stadt ist ein Traum! Die Lage ist einfach fantastisch! Der botanische Garten mit seinen exotischen Gewächsen, die Skyline - ich kann mich gar nicht sattsehen!«
»Es war eine gute Entscheidung, dass wir schon eine Woche vor Ankunft unseres Wohnmobils nach Sydney geflogen sind und uns in einem kleinen Hotel eingemietet haben«, bekräftigte Jürgen. »Wir können die U-Bahn benützen und mit den Fähren die anderen Stadtteile erkunden.«
»Ja, wir bummeln jetzt gleich mal zum Circular Quai wo die Boote anlegen«, schlug Helga vor. »Außerdem sollen dort immer wieder Didgeridoospieler ihr Können zum Besten geben.«
Sie hörten die charakteristischen Töne dieses archaischen Musikinstruments schon von Weitem. Eine Menschentraube hatte sich um einen Aborigine versammelt. Der saß auf einem Kängurufell und war lediglich mit einem roten, lendenschurzähnlichen Tuch bekleidet. Gesicht und Körper hatte ermit weißer Farbe bemalt und mit roten Streifen verziert. Die Zuhörer belohnten sein ausdauerndes Spiel mit Münzen, die sie reichlich in ein bereitstehendes Körbchen warfen.
Helga fasste Jürgen am Arm: »Komm, wir wollen noch ein Stück weiter vor, dann sehen wir besser!« Sie versuchten, sich ein wenig weiter nach vorne durchzuschieben, als eine Frau vor ihnen etwas zurückwich und Helga auf den Fuß trat.
»Entschuldigung«, sagte die Frau reflexartig, drehte sich um, starrte Helga einen kurzen Augenblick erschrocken an und sagte dann demonstrativ auf Englisch: »Sorry! Excuse me please! My mistake!«, und war im nächsten Moment in der Menge verschwunden.
Helga blieb eine Erwiderung im Hals stecken. »Das war doch eben ... Ja, das war Nadine Brandmüller! Ganz ohne Zweifel. Ich verstehe nicht, warum die so seltsam reagiert hat. Ich glaube, sie war erschrocken, als sie mich sah«.
»Na, so schrecklich siehst du doch mit deinem neuen Buschhut gar nicht aus!«, spöttelte Jürgen. »Außerdem, warum sollte die erschrecken. Die Frau kann tun und lassen, was sie will; auch nach Australien reisen. Im Übrigen kannst du dich getäuscht haben. Es wäre schon ein großer Zufall, ihr hier über den Weg zu laufen.«
»Ich kenne die Frau doch noch aus meiner Zeit bei der Bank. Ich habe ihre Stimme erkannt. Sie tat so, als kenne sie mich nicht. Nach ihrer reflexhaften Entschuldigung auf Deutsch kam demonstrativ eine in Englisch hinterher. Ist schon irgendwie merkwürdig!«
»Ach, zerbrich dir nicht den Kopf darüber, ob sie es war oder nicht. Kann dir schnurzegal sein. Hören wir lieber dem tollen Didgeridoospieler zu und schießen ein paar Fotos von ihm!«
»Du hast recht! Und morgen sehen wir uns den berühmten Bondi Beach an!«
»Genau, und ich werde mir ein Didgeridoo kaufen!«
»Dirk, du wirst doch nicht etwa gewachsen sein?«, witzelte Becker. »Das ist in deinem Alter ja eher ungewöhnlich!«
»Gewachsen? Was soll das«, fragte Hagemann irritiert. »Okay, in die Breite bin ich ein Stück gegangen. Die zwei Zentner hab ich bald voll.«
Die Kollegen grinsten noch immer. »Es ist nur, weil deine Hosen auf Hochwasser stehen!«, erklärte Warnecke. »Sieht aus wie bei meinem Jüngsten, wenn der einen kräftigen Schuss gemacht hat! Er braucht dann dringend neue Jeans.«
»Ach das«, Hagemann zuckte mit den Schultern. »Das sind neue Jeans. Die Alten sind alle zu eng. Drum hab ich neue gekauft. Aber bei meiner schlanken Taille und meiner stolzen Größe von 165 cm, sind mir sämtliche Hosenbeine zu lang. Ich hab die gleich kürzen lassen und gestern Abend abgeholt. Probiert hab ich sie allerdings erst heute. Dummerweise hing die andere Hose, die noch passt, nass auf der Leine!«
»Ja ja, zweimal abgeschnitten und immer noch zu kurz!«, feixte Becker, und Warnecke prustete: »Der Schneiderin würde ich mit einem Haftbefehl drohen. Diese Hochwasserhosen sind Körperverletzung!«
»Ja, lacht nur«, schmollte Hagemann, »scheinbar wollt ihr gar nicht wissen, was in den obskuren Kapseln drin war.«
Augenblicklich waren die Kollegen wieder ernst.
»Na sag schon!«, verlangte Warnecke ungeduldig. »Wir nehmen die Hochwasserhosen zurück und marschieren stattdessen heute Abend zu dritt in den Jeansladen, zücke unsere Ausweise und Dienstwaffen und verlangen eine neue Hose. Umsonst natürlich. Notfalls lassen wir das SEK anrücken!«
Hagemann sah von einem zum anderen und atmete tief durch:
»Puderzucker!«, verkündete er. »Das weiße Zeug in den Kapseln ist Puderzucker!«
Die Kollegen sagen ihn ungläubig an. »Puderzucker? Warum sollte jemand Puderzucker in Kapseln füllen?« Becker war irritiert.
Hagemann grinste von einem Ohr zum anderen. »Ich hab doch gar nicht behauptet, dass nur Puderzucker drin war!«
»Jetzt spann uns nicht auf die Folter!«, forderte ihn Warnecke auf.
»Der Puderzucker war nur die Trägersubstanz!«
»Trägersubstanz? Für was? Jetzt lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!« Beckers Ungeduld wuchs zunehmend.
»Parathion! Besser bekannt als E 605, gemeinhin Schwiegermuttergift genannt«, dozierte Hagemann. »Wirkt aber auch bei reichen, alten Ehemännern. Die Dosis in den einzelnen Kapseln war jedenfalls mehr als ausreichend, um einen erwachsenen Mann ins Jenseits zu befördern.«
»Wurde das Zeug nicht längst verboten?«, fragte Becker.
»Schon, aber ich möchte nicht wissen, wie viel davon noch in Gärtnereien, in alten Gartenschuppen und Scheunen rumsteht.«
»Zum Beispiel im Gartenschuppen der Villa Brandmüller?« Warnecke war von seinem Stuhl aufgesprungen. »Sind Fingerabdrücke auf den Kapseln?«
»Nicht viele, aber ein paar hab ich doch gefunden! Auch auf dem Gerät. Jetzt müssten wir sie nur noch mit den Abdrücken der trauernden Witwe vergleichen.«
»Die trauernde Witwe hat sich nach Spanien abgesetzt. Aber bevor wir die spanische Polizei einschalten, sehen wir doch erst mal, ob wir noch Vergleichsabdrücke finden!« Mit diesen Worten griff Warnecke zum Telefon. »Frau Voigt«, sagte er, als das Gespräch am anderen Ende abgenommen wurde, »hoffentlich haben Sie in der Villa noch keinen Großputz veranstaltet!«