Читать книгу Tödliches Erbe - Hildegard Grünthaler - Страница 7
ОглавлениеKapitel 1
Schlecht sah Jörg Brandmüller aus. Kreidebleich. Feine Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn. Helga Brombacher musterte den Chef und Gründer der Firma BraMüTec mit zunehmender Besorgnis. Im Grunde war es ja nicht verwunderlich, dass er gesundheitlich angeschlagen wirkte. Zu hoch waren die Summen, die plötzlich nacheinander im Nirwana verschwunden waren.
Helgas Mann Jürgen saß am PC, scrollte hin- und her, überprüfte, rechnete und entdeckte immer neue Luftbuchungen und Tricksereien. Vor zwei Tagen hatte Robert Sachmann, Jürgens ehemaliger Chef bei der Firma Baumer und Sachmann angerufen und gefragt:
»Herr Brombacher, haben Sie nicht mal wieder Lust, Ihre Nase ganz tief in Zahlen, Bilanzen und Buchungen zu stecken?«
Jürgen hatte gelacht und erwidert: »Sie werden es nicht glauben, aber mein Rentnerleben gefällt mir ausnehmend gut. Langweilig ist mir auch nicht. Unser altgedientes Wohnmobil haben wir verkauft und sind jetzt Besitzer eines neuen Reisemobils. Damit geht es demnächst ein Jahr lang rund um Australien.«
»Herr Brombacher, wenn ich Sie so höre, denke ich auch ans Aufhören. Aber ganz im Ernst: Es geht um meinen alten Freund Brandmüller. Er hegt den Verdacht, dass Hanno Jachnik, sein Prokurist, heimlich Firmengelder abzieht und ins Ausland verschiebt.«
»Dann sollte Herr Brandmüller schnellsten einen vereidigten Buchprüfer beauftragen«, hatte Jürgen vorgeschlagen. Aber Herr Sachmann hatte erklärt, dass Jörg Brandmüller keinen Wirbel und keine Unruhe wolle. Außerdem wäre Jachnik sowieso in Australien, wo er angeblich neue Kunden gewinnen und evtl. die Möglichkeit einer Dependance überprüfen wolle. Schließlich hatte sich Jürgen bereiterklärt, die Bücher zu überprüfen und leider sehr schnell festgestellt, dass Brandmüllers Verdacht berechtigt war.
Helga konnte sich noch gut an Hanno Jachnik erinnern. Er war die rechte Hand Jörg Brandmüllers, Geschäftsführer, Prokurist und heimlicher Chef der Firma BraMüTec. Ein äußerst charmanter und gut aussehender Mann. Mit seinem Grübchen am Kinn hatte er sie immer ein wenig an Carry Grant erinnert. Sämtliche Frauen in der Bank, egal ob jung oder alt, hatten für ihn geschwärmt. Aber ihr war der aalglatte Kerl nie sympathisch gewesen.
»Er war wie der Sohn für mich, den ich nie hatte«, seufzte jetzt der alte Firmenchef erschüttert. »Mit meiner ersten Frau, die bei einem Unfall ums Leben kam, hatte ich keine Kinder. Meine zweite Frau ist zwar noch jung, aber auch bei ihr hat sich bis jetzt noch kein Nachwuchs eingestellt. Ich hatte gehofft, dass Hanno später einmal die Firma weiterführt. Er ist überaus geschäftstüchtig und ideenreich.«
»Ideenreich, das kann man wohl sagen!«, pflichtete ihm Jürgen Brombacher hinter dem Monitor bei. »Er hat seine Raubzüge überaus geschickt hinter Luftbuchungen versteckt. Ein Glück, dass Sie noch rechtzeitig misstrauisch geworden sind, sonst stünde Ihre Firma bald vor dem Aus.«
»Auf welchen Konten er das Geld versteckt hat, kann ich von hier aus leider nicht feststellen«, mischte sich jetzt Helga ein. »Da müssten wir zusammen auf der Bank nachforschen. Ich fürchte, er hat es längst x-fach hin-und hergeschoben und unerreichbar auf dubiosen Offshore-Konten geparkt.«
An Frau Brombacher konnte sich Jörg Brandmüller noch gut erinnern. Es musste an die zwei Jahre her sein, dass sie in Rente gegangen war. Damals hatte sie beim Bankhaus Wiebke und Söhne die großen Firmenkunden betreut. Immer freundlich und kompetent, hatte sie stets dezent-elegante Business-Kostüme getragen, hatte perfekt frisiert, das blonde Haar meist zu einem Knoten geschlungen. Jetzt kam sie ihm wie eine andere Frau vor. Jugendlicher, obwohl sich sichtbar graue Strähnen durch ihr zu einem schlichten Pferdeschwanz gebundenem Haar mischten. Und lockerer, was sicher an ihrem sportlichen Outfit lag. In Jeans und Shirt hatte er sie vorher noch nie gesehen.
Jürgen Brombacher hatte er bisher nicht persönlich kennengelernt. Verkniffenen, blass, kurzsichtig und mit dicker Brille, weil er stets die Nase in Bilanzen, in Zahlen und Buchungen stecken hatte -, so hatte er ihn sich vorgestellt. Das Gegenteil war der Fall. Dieser Brombacher war zwar längst in Rente, ging langsam auf die Siebzig zu und das graue Haar lichtete sich zusehends, trotzdem wirkte er fit und sportlich, war braun gebrannt und trug modische Outdoorklamotten.
Die Brombachers wollten ihr neues Wohnmobil für ein Jahr nach Australien verschiffen, hatte ihm Robert erzählt. Vor knapp zwei Jahren, als auch Frau Brombacher in Rente gegangen war, waren sie mit ihrem alten Wohnmobil ein Jahr lang in Nordamerika herumgereist. Man könnte glatt neidisch werden, dachte Jörg Brandmüller. Die genießen ihr Leben. Und was ist mein Leben? Die Arbeit. Was hindert mich, mein Leben radikal zu ändern? Ich könnte die Firma verkaufen, anstatt mich zu sorgen, ob ich betrogen werde; reisen, statt das Geld auf der Bank zu horten. Und Nadine? Die kann sich zum Teufel scheren. Irene hat mir zugetragen, dass sie angeblich einen Liebhaber hat.
Gut, Irene konnte Nadine noch nie leiden. Vermutlich war sie der Meinung, wenn Nadine nicht auf der Bildfläche erschienen wäre, dann hätte ich sie geheiratet. Oh, nein - Irene als Ehefrau – das würde ich meinem schlimmsten Feind nicht wünschen.
Brandmüller wischte sich den Schweiß von der Stirn und wünschte, damit ließen sich auch die trüben Gedanken verscheuchen. Er fühlte sich heute nicht wohl. Schon seit dem Frühstück plagten ihn Übelkeit und Schwindelgefühle. Kein Wunder bei den Aufregungen. Dieser Brombacher scrollte auf dem Bildschirm hin und her, rechnete, schüttelte den Kopf, murmelte leise vor sich hin und förderte ständig neue Beweise dafür ans Tageslicht, dass seine Befürchtungen nicht aus der Luft gegriffen waren.
»Dann war mein Verdacht doch begründet. Wie konnte ich mich nur so in ihm täuschen?«, klagte er.
»Manchmal will man einfach nicht sehen, was doch offensichtlich ist«, tröstete Helga, »weil einfach nicht sein kann, was nicht sein darf.«
»Ja, Sie haben recht. Wenn ich ganz ehrlich sein will, habe ich tief im Unterbewusstsein schon länger gespürt, dass mit ihm nicht alles koscher ist. Ich habe die Zügel schleifen lassen und war froh, dass ich mich nicht mehr um alles kümmern musste.«
»Ja, aber jetzt sollten Sie handeln. Sie müssen umgehend die Konten sperren lassen, bevor Jachnik noch mehr abräumt!«, mahnte Helga.
»Und die Polizei einschalten!«, fügte Jürgen hinzu.
»Der Kerl ist in Australien. Das war ja seine Idee. Dort kann er jetzt unbemerkt untertauchen. Mir tut ja seine Frau leid. Nicole hat bestimmt keine Ahnung, was ihr sauberer Ehemann so alles treibt!« Brandmüllers kreidebleiche Gesichtsfarbe war inzwischen dunkler Zornesröte gewichen.
»Es ist zwar ein schwacher Trost«, versuchte Jürgen ihn ein wenig aufzumuntern, »aber auch in Australien gibt es Polizei!«
»Ich weiß gar nicht, über wen ich mich mehr ärgere: über diesen Betrug oder über meine eigene Dummheit und Vertrauensseligkeit. Ich fürchte, Nadine, meine Frau, wird mich einen alten Trottel nennen.«
Nein, aussprechen wird sie’s vermutlich nicht, aber denken ganz bestimmt. »Ich kenne doch Ihre Frau noch aus meiner Zeit bei der Bank. Das wird sie ganz sicher nicht sagen. Jeder kann sich irren«, versuchte Helga zu trösten.
Brandmüller atmete ein paarmal tief durch. »Die Aufregung ist mir zwar auf den Magen geschlagen, trotzdem meldet sich jetzt der Hunger. Ich lasse uns Kaffee und Kuchen bringen, damit wir frisch gestärkt die nächsten Schritte in dieser unerfreulichen Geschichte unternehmen können.«
»Herr Brandmüller, vergessen Sie Ihre Pillen nicht«, mahnte Simone Kreuzer. Sie brachte eine Kaffeekanne, eine Platte mit diversen Kuchenstücken und stellte außerdem eine große Wasserflasche mit drei Gläsern auf den Tisch. »Ihre Frau hat mir aufgetragen, Sie zuverlässig daran zu erinnern.«
Sie war das Stereotyp der Chefsekretärin: Eine schlanke, modisch gepflegte Erscheinung in Businesskostüm und High Heels, mit goldblond, perfekt frisiertem Haar und manikürten, lackierten Nägeln. Verbindlich lächelnd strahlte sie Kompetenz und Diskretion aus.
»Danke, Frau Kreuzer, das hätte ich fast vergessen«, gestand Brandmüller. Er fischte eine längliche, mehrfach unterteilte Pillenbox aus der Sakkotasche. »Freitag« war an der Längsseite aufgedruckt. Er schob sie bis zur Markierung »Mittags« auf, kippte die Kapseln in die Hand und schluckte sie auf einen Sitz hinunter. »Das Herz, wissen Sie, und der Blutdruck, das Cholesterin, die Leber, - und ständig hab ich das ganze Tablettenzeug durcheinandergebracht«, bekannte er, nachdem er Wasser nachgetrunken hatte. »Mein Arzt hat deshalb zu diesem Pillenorganizer geraten und mir einen genauen Medikationsplan erstellt. Jetzt brauche ich das nur noch einmal wöchentlich zu sortieren und einzufüllen. Von Montag bis Sonntag ist da alles drin, was ich schlucken muss. Zuhause erinnert mich meine Frau an die Pillen. Sie ist allerdings am Dienstag für eine Woche zu ihrer Mutter geflogen. Die lebt, seit sie verwitwet ist, in Südspanien. Aber jetzt wurde sie krank und Nadine wollte sich ein paar Tage um sie kümmern.«
»Ein Glück, dass Sie von fürsorglichen Frauen umgeben sind«, tröstete Brombacher, während er Sahne in seinen Kaffee rührte.
Von jungen sexy Frauen, dachte Helga.
»Ja, diese Frau Kreuzer ist ein Engel. Meine vorherige Sekretärin ist seit letztem Jahr in Rente. Die war zwar supertüchtig, aber ganz ehrlich - auch ein echter Drachen - und längst nicht so jung und attraktiv wie Frau Kreuzer«, fügte Brandmüller nach einer kurzen Pause hinzu.
Die Entdeckung des offensichtlichen Betrugs hatte ihn nicht nur ziemlich geschockt, sondern war ihm auch auf den Magen geschlagen. Obwohl er vorher Hunger verspürt hatte, schaffte er nur ein halbes Stück Kuchen, trank aber drei Tassen Kaffee dazu.
»Ich soll ja weniger essen, vor allem nicht so viel Süßes und nichts Schweres, hat mein Arzt gesagt. Aber normalerweise schmeckt’s mir halt so gut. Die Arbeit soll ich auch langsamer angehen lassen, hat der gute Doktor verordnet. Drum hab ich den Hanno machen lassen. Das hab ich jetzt davon, dass ich auf den Arzt gehört habe«, seufzte er.
Er griff zum Telefon. Seine Hände zitterten, als er mit schwacher Stimme Anweisungen gab, die Firmenkonten zu sperren. Jürgen nahm sich wieder die Bücher vor ...
»Der Kerl hat Sie ganz schön abgezockt«, murmelte er, nachdem er weitere Luftbuchungen entdeckt hatte. »Sie sollten das unbedingt einem Wirtschaftsprüfer übergeben, sonst sind Sie auch noch wegen Steuerhinterziehung dran.«
Jörg Brandmüller gab keine Antwort. War er vorhin noch rot vor Zorn gewesen, zeigte seine Gesichtsfarbe jetzt ein unnatürliches Weiß. Er stöhnte, krümmte sich vor Schmerz, schnappte nach Luft und kippte vom Stuhl.
Bevor Helga und Jürgen reagieren konnten, kam Frau Kreuzer aus dem Vorzimmer ins Chefbüro gestürmt. »Herr Brandmüller, was haben Sie? Geht es Ihnen nicht gut? Ich rufe Dr. Kinzel!«
»Sollten wir nicht besser den Notarzt ...«, wollte Helga vorschlagen, aber die Sekretärin hatte bereits die Kurzwahltaste gedrückt:
»Herr Doktor, schnell! Herr Brandmüller - ich glaube, es ist das Herz! Ja, wir sind im Büro! Bitte beeilen Sie sich!«Sie legte auf und fügte erklärend hinzu: »Die Praxis ist nur zwei Straßen weiter. Er wird gleich hier sein.«
Dr. Kinzel, der alte Hausarzt und ehemalige Schulfreund Jörg Brandmüllers hatte nicht mehr so viele Patienten. Die Spatzen pfiffen von den Dächern, dass der gute Doktor sich mit reichlich Cognac über den frühen Tod seiner Frau hinwegtröstete und mitunter schon etwas angesäuselt in seiner Praxis erschien. Aber er war schnell. Keine fünf Minuten später traf er mit seinem Notfallkoffer ein. Er schob Helga, die versucht hatte, Brandmüller mit einer Herzdruckmassage wiederzubeleben, beiseite, schüttelte aber kurz darauf den Kopf. Ihm blieb nur noch, den Totenschein auszufüllen.