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Kapitel 3
ОглавлениеScout
Scout hatte schon viel von Amerika gesehen. Große Städte und kleine, einige mit Charme oder Stil und andere, auf die er in Zukunft verzichten konnte. Er musste zugeben, dass vieles für Pine Cove sprach. Es gefiel ihm hier.
Für eine Kleinstadt war Pine Cove sehr stolz. Manche Städte wurden nie groß genug, um ihre eigene Identität zu entwickeln. Hier in Pine Cove fühlte sich Scout von allen freundlich willkommen geheißen. Die Aussicht auf den See, der am Ende der Hauptstraße lag, war atemberaubend schön. Die Läden auf beiden Seiten der Hauptstraße waren modern, als wollten die Menschen nicht in der Vergangenheit verharren, wie es in vielen anderen Kleinstädten der Fall war, die Scout kennengelernt hatte.
Andererseits hatte Pine Cove aber auch einen seltsam weltfernen Charme. Beispielsweise das Motel. Im Gegensatz zu den vielen gesichtslosen, schäbigen Zimmern, in denen Scout in den letzten zehn Jahren übernachtet hatte und die mehr an ein Stundenhotel erinnerten, bestand das Pine Cove Lodge aus malerischen Blockhütten.
Ja, sosehr Scout den Trubel von Großstädten schätzte, konnte er doch auch die Menschen verstehen, die lieber in einer kleinen Stadt wie Pine Cove lebten. Er parkte seinen Mietwagen an der Hauptstraße. Es gab hier nur wenige Filialen großer Handelsketten. Während er zu dem Diner am See ging, entdeckte er einen kleinen Tante-Emma-Laden, einen türkischen Barbier – Frisiersalon –, ein Antiquariat und eine Bäckerei, aus der es einfach himmlisch duftete. Wäre er nicht mit Christopher verabredet gewesen, hätte er hier wahrscheinlich einen Stopp eingelegt und sich einen Apfelplunder mit Milchkaffee gegönnt. Vielleicht ein andermal.
Christopher Oakley war sein Boss, seit Scout vor einigen Jahren – er war damals Ende zwanzig gewesen – seine Karriere als Profiboxer beendet hatte, um als private Sicherheitskraft zu arbeiten. Christopher war Ende vierzig und ein ehemaliger Militärpolizist. Er hatte beim Militär aufgehört und die Sicherheitsfirma gegründet, als er Vater geworden war. Normalerweise bekam Scout seine Aufträge telefonisch oder sie trafen sich im Büro der Firma in San Diego. Nur gelegentlich, wenn es um einen besonders komplexen Fall ging, fanden ihre Besprechungen vor Ort statt.
Komplex konnte vieles bedeuten. In diesem Fall vermutete Scout, dass ihr Klient eine bekannte Persönlichkeit war. Das Ungewöhnliche war aber, dass ihr Klient nicht selbst der Auftraggeber war. Stattdessen hatte sich eine Freundin des Mannes an sie gewendet und sie beauftragt, ihren Freund zu beschützen.
Offensichtlich wollte der Klient keinen Personenschutz. Solche Fälle waren immer sehr anstrengend und es fiel Scout schwer, neutral zu bleiben und sich nicht schon ein negatives Bild von dem Mann zu machen, bevor er ihn überhaupt kannte. Aber solange er bezahlt wurde, würde er seinen Job erledigen und dafür sorgen, dass dem Mann nichts passierte.
Ob es dem Kerl gefiel oder nicht.
Als er das Sunny Side Up betrat, war Christopher schon da und winkte ihm zu. Scout nickte der Kellnerin zu und ließ sie wissen, dass er erwartet wurde und sie ihm keinen Sitzplatz zuweisen musste. Dann ging er durch den Diner zu Christopher, der weiter hinten in einer der Nischen saß.
»Hey, Mann. Wie geht's?« Scout klopfte ihm auf die Schulter und schüttelte ihm die Hand, bevor er sich setzte.
Christopher begrüßte ihn nickend, schob einen Schnellhefter über den Tisch und winkte der Kellnerin zu, die Scout vorhin schon begrüßt hatte. Sie hob lächelnd einen Finger und ließ sie wissen, dass sie gleich an ihren Tisch käme. Christopher nickte wieder und wandte sich Scout zu.
»Nicht schlecht«, beantwortete er Scouts Frage. »Aber es ist gut, dass ich persönlich gekommen bin, um dich in diesen Job einzuweisen. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, es könnte etwas kompliziert werden.«
Scout zog fragend die Augenbrauen hoch und drehte die Akte um, damit er sie lesen konnte. Emery Klein stand da ganz oben auf der ersten Seite. »Hat sich eine neue Entwicklung ergeben?«
Christopher wartete mit seiner Antwort, weil in diesem Moment die Kellnerin an ihren Tisch kam. Er bestellte zwei Kaffee und eine Grapefruit. Scout, der von gestern Abend noch verkatert war, bestellte Pfannkuchen und Bratkartoffeln mit Speck. Er hatte früher sehr auf sein Gewicht achten müssen, um nicht in eine andere Gewichtsklasse eingestuft zu werden, hatte aber auch gut aussehen wollen, wenn er in den Ring stieg. Es hatte eine Weile gedauert, bis er realisierte, dass er sich jetzt gelegentlich eine Schwäche erlauben konnte, zumal er immer noch viel trainierte.
»Gestern ist in seine Wohnung eingebrochen worden«, erklärte Christoper, nachdem die Kellnerin wieder gegangen war. »Mr. Klein hat eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen, als er geflohen ist. Die Polizei hat den Tatort heute früh untersucht. Es scheint einige Beschädigungen an Mr. Kleins Eigentum gegeben zu haben. Unsere Auftraggeberin, eine Ms. Coal, hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass er nach diesen Vorkommnissen vermutlich seine Meinung geändert hat und mit dem Personenschutz einverstanden wäre.«
Scout wollte die Akte gerade aufschlagen, als die Kellnerin mit dem Kaffee zurückkam. Er bedankte sich lächelnd. »Ist diese Ms. Coal in einer Beziehung mit Mr. Klein?«, fragte er, als sie wieder allein waren. Ungefähr ein Dutzend der Tische war besetzt, aber keiner davon befand sich in ihrer Nähe. Christopher hatte eine auffällige Narbe auf der linken Seite des Gesichts, die er oft einsetzte, um fremde Menschen auf Abstand zu halten. Sie wussten ja nicht, dass er im Grunde seines Herzens ein alter Softie war.
Christopher nippte an seinem Kaffee und sah Scout über den Tassenrand an. »Nein. Ich glaube, sie ist seine beste Freundin. Mr. Klein ist schwul.«
Scout musterte ihn einen Moment. »Natürlich«, sagte er dann und trank ebenfalls einen Schluck Kaffee.
Scout verstand sich sehr gut mit seinem Boss, doch Christoper hatte die Neigung, viele ehemalige Soldaten mit Macho-Allüren einzustellen. Echte Alpha-Männchen.
Und nicht die Art Männer, die daran interessiert waren, einen schwulen Klienten zu schützen.
Es war nicht das erste Mal, dass Scout, der selbst schwul war, damit beauftragt wurde, einen Klienten der LGBT-Gemeinschaft zu übernehmen. Es störte ihn nicht. Im Gegenteil, er war sogar stolz darauf. Aber er ärgerte sich darüber, dass seine Kollegen mit ihren Vorurteilen einfach so durchkamen. Warum durften sie ihre persönliche Überzeugung über ihre Arbeitsmoral stellen? Oder damit sogar das Leben eines anderen Menschen gefährden?
Scout war katholisch, arbeitete aber für Menschen jeden Glaubens. Er hatte sogar schon einige Klienten übernommen, deren politischer Überzeugung er in jeder Beziehung widersprochen hätte. Doch danach bewertete er ein Menschenleben nicht. Sein Job war es, für ihre Sicherheit zu sorgen, unabhängig von den äußeren Umständen. Und diese Aufgabe nahm er sehr ernst.
Wie dem auch sein mochte, jetzt war er hier und die Stadt gefiel ihm. Es gab also keinen Grund, sich darüber zu ärgern. Vielleicht ergab sich demnächst die Gelegenheit, mit Christopher über das Problem zu reden.
In der Zwischenzeit wurde er durch einen riesigen, zotteligen Hund beschwichtigt, der an ihren Tisch kam, um Hallo zu sagen. Lachend kraulte er den Hund hinter den Ohren. »Hallo, mein Hübscher. Wer bist du denn?«
»Sorry, tut mir leid.« Ein älterer Mann indianischer Abstammung kam mit wedelnden Händen an ihren Tisch gelaufen. »Peri freundet sich mit jedem an. Aber ich glaube, Sie wollen Ihr Frühstück lieber selbst essen.«
Scout lachte. »Das stimmt. Aber ich liebe Hunde.«
Der ältere Mann – Scout nahm an, er war der Geschäftsführer oder einer der Besitzer – stemmte seufzend die Hände in die Hüften, als Peri sich vor Scout und Christopher auf den Boden fläzte und es sich bequem machte. »Das ist vermutlich auch gut so, weil er Sie offensichtlich auch mag.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Tyee Perkins. Sunny ist mein Mann. Sind Sie geschäftlich hier oder zu Ihrem Vergnügen?«
Wow. Der Mann hatte offensichtlich gleich erkannt, dass Scout und Christopher Fremde waren. Normalerweise hätte Scout das verdächtig gefunden, doch Tyee Perkins erinnerte ihn an den Boxtrainer seiner Kindheit, der ihn damals unter die Fittiche genommen hatte. Und da er selbst ein gutes Personengedächtnis hatte, wunderte es ihn nicht, dass Tyee sich an die Menschen erinnern konnte, die in seiner kleinen Stadt lebten.
Christopher bestätigte Tyees Vermutung, indem er ihm antwortete, sie wären geschäftlich hier. In diesem Moment kam die Kellnerin mit einem Telefon in der Hand zu Tyee gelaufen. Sie war sehr jung und sah aus, als würde sie noch zur Schule gehen oder hätte sie gerade erst abgeschlossen.
»Opa Tyee«, rief sie aufgeregt und sah zwischen ihm und dem Tisch hin und her. »Entschuldige, aber es ist Onkel Micha. Er hört sich an, als ob… Könntest du bitte mit ihm reden?« Sie hielt ihm das Handy hin in der Hoffnung, dass ihr Großvater das Gespräch übernehmen würde.
Ja, das sah nicht sehr angenehm aus. Tyee verdrehte seufzend die Augen, aber in seinem Blick lagen auch Mitgefühl und eine gewisse Traurigkeit. »Haben Sie Kinder?« Scout schüttelte den Kopf und Christopher nickte. Tyee sah ihn verständnisvoll an. »Man hört nie auf, sich um sie zu sorgen. Nie. Okay, Rona, ich übernehme das. Sie haben doch nichts dagegen, dass Peri hierbleibt, oder? Wenn er stört, müssen Sie sich nur melden.«
Scout versprach es ihm, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, dass ihm das alte Fellknäuel lästig werden könnte. Während Tyee und Rona sich entfernten, griff er nach unten und streichelte dem Hund lächelnd über den Kopf. Peri gähnte und rekelte sich zufrieden.
Scout liebte Hunde. Er wünschte, er könnte sich auch einen Hund zulegen, doch sein Job ließ es nicht zu. Das war einer der Gründe, warum zu dem Tattoo an seinem Arm, das unter dem Anzug versteckt lag, auch ein Wolf gehörte. Scout fühlte eine unerklärliche Seelenverwandtschaft zu Wölfen und Hunden. Sie machten ihn einfach glücklich.
»Also dann«, sagte er und nickte Christopher zu. »Zurück zum Geschäft.«
»Ja. Das hier ist alles, was wir bisher haben.« Er zeigte auf die Akte mit dem Namen des Klienten. »Ich habe bisher nur zweimal mit Ms. Coal gesprochen. Ich hatte gehofft, das lässt sich heute ändern, muss allerdings dummerweise zurück nach Kalifornien und mein Rückflug geht schon bald. Aber wenigstens kann ich dir den Fall noch persönlich übergeben.«
Emmerich Klein. Bevor Scout die Akte öffnete, hätte er auf einen älteren deutschen Herrn getippt. Dann sah er die handschriftliche Notiz, die darauf hinwies, dass der Klient es vorzog, Emery genannt zu werden. Das hörte sich schon jünger an.
Scout wollte den Vormittag jedoch nicht mit Vermutungen über seinen Klienten vertrödeln. Er trank einen Schluck Kaffee und schlug den Ordner auf, um sich durchzulesen, was sie bisher über Mr. Klein wussten.
Und erstarrte, bevor er auch nur ein Wort gelesen hatte.
Weil da ein Foto war.
Heilige Mutter Gottes, fluchte er leise vor sich hin, weil ihm beim Anblick des Fotos der Schreck in die Glieder fuhr. Konnte das möglich sein? Wieso sah ihm aus dem Bild ausgerechnet der Mann entgegen, mit dem er sich gestern Abend eingelassen hatte?
Emery Klein mochte ihn kaum angesehen haben, aber Scout hatte sich sein Gesicht fest ins Gedächtnis eingeprägt. Und es war definitiv dasselbe Gesicht wie auf dem Foto.
Mist.
»Gibt es ein Problem?«, fragte Christopher, dem der erschrockene Ausdruck in Scouts Gesicht nicht entgangen war.
Scout riss sich zusammen und schüttelte den Kopf. »Er ist jünger, als ich erwartet habe. Hast du nicht gesagt, er wäre ziemlich betucht?«
Was sollte der Unsinn? Er sollte Christopher darüber informieren, dass es einen Interessenskonflikt gab, wenn er den Job annahm. Er hatte den Mann erst vor wenigen Stunden um den Verstand gefickt. Wie konnte er ihn da noch objektiv schützen? Er war Profi und sollte sich auch so verhalten.
Aber… seine Professionalität und sein Verstand hatten das Nachsehen. Scout hatte sich die ganze Nacht in seinem Bett hin und her gewälzt, weil er den kleinen Schlingel nicht vergessen konnte. Er war schon in Versuchung gewesen, heute Abend wieder in diese Bar zu gehen und sich zu erkundigen, ob jemand den Mann kannte und wusste, wie er hieß.
Und jetzt war ihm sein Schlingel gewissermaßen in den Schoß gelegt worden.
Sollte Scout den Job ablehnen und Christopher übertrug ihn an einen seiner Kollegen, bestand außerdem das Risiko, dass dieser Kollege seine Arbeit nicht ernst nehmen würde. Emery war nicht nur schwul, er war auch verdammt extravagant, auffällig und vorlaut und alles das, was ein unsicherer Mann als zu schwul bezeichnen würde. Er war genau die Art von schwulem Mann, über die sich die anderen immer beschwerten, wenn sie sagten, sie hätten ja nichts gegen Schwule und eheliche Gleichstellung, aber müssten die sich immer so aufführen?
Es wäre zwar richtig, Christopher die ganze Geschichte zu gestehen und den Auftrag an einen verantwortungsbewussten Kollegen abzugeben, aber… was konnte es schon schaden, wenn Scout es vorher selbst versuchte? Und dann schlummerte da außerdem diese etwas peinliche und vollkommen selbstsüchtige Hoffnung in Scout, dass da vielleicht doch noch etwas zwischen ihnen sein könnte, das über die letzte Nacht hinausging.
Es war zwar falsch von ihm, aber er redete sich ein, dass Emery sicherer war, wenn er ihn nicht einem seiner Kollegen überließ, der sich das erste Mal um einen schwulen Klienten kümmern musste und den seine Vorurteile vielleicht davon abhielten, seinen Job verantwortungsbewusst wahrzunehmen.
Allein der Gedanke, dass Emery etwas zustoßen könnte, brachte sein Blut in Wallung.
»Du hast gesagt, es wäre gestern Nacht knapp gewesen?«, fragte er und blätterte durch die Unterlagen, die das Büro über Emery zusammengetragen hatte.
Christopher nickte. »Mr. Klein hat einen Eindringling überrascht, als er kurz nach Mitternacht nach Hause kam. Er ist sofort geflohen, meinte aber, es wäre vermutlich ein Mann von durchschnittlicher Größe gewesen. Mr. Klein konnte das Gesicht nicht erkennen, weil sich der Mann eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Während Mr. Klein wegrannte, hat ihm der Eindringling von hinten ein Keramikgefäß an den Kopf geworfen. Mr. Klein hat eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen und wurde in der Wohnung von Ms. Coal behandelt.«
Scout war froh, dass in diesem Augenblick ihr Essen gebracht wurde. Dadurch gewann er etwas Zeit, um sich wieder zu fangen. Es war zwar irrational, aber er ärgerte sich über sich selbst, weil er Emery nicht nach Hause begleitet hatte. Und über Emery ärgerte er sich, weil der sich abgesetzt hatte, noch bevor sie wieder richtig zu sich gekommen waren. Andererseits hatte Emery nicht wissen können, was passieren würde.
Bis auf… Halt. Sie hätten es doch wissen können. Ms. Coal hatte Christopher schon vorher kontaktiert und um eine vorläufige Einschätzung der Lage gebeten. Scout brach abwesend eine Scheibe Speck in der Mitte durch, schob sich die eine Hälfte in den Mund und bot die andere Peri an. Der Hund kaute glücklich, während Scout Emerys Akte durchlas. »Mr. Klein hat also immer detailliertere und unverblümtere Morddrohungen erhalten?«
Christopher nickte. »Ja. Er ist das, was man einen Social Media Influencer nennt.«
»Und was ist das?«
Christopher schnaubte und rollte mit den Augen. Es war keine sehr professionelle Reaktion auf Scouts Frage. »Soweit ich weiß, ist das jemand, der auf Instagram berühmt wird, weil er gut aussieht. Ein echter Einstein oder so. Wie auch immer, die Drohungen sind auf jeden Fall homophob, aber sie sind nicht das übliche Mach dich zum Teufel. Es gibt eine ganze Reihe Drohungen, die vermutlich von ein und derselben Person stammen, aber sie sind alle anonym. In diesen Nachrichten wird ihm vorgeworfen, er hätte etwas gestohlen, was dem Absender zustünde. Außerdem behauptet der Absender, er wüsste, wo Mr. Klein lebt.«
Scout verging zunehmend der Appetit, während er sich die Nachrichten und Kommentare durchlas, die sich als Kopie in der Akte befanden. Viele der Absender waren dreist genug, um direkt mit ihrem Benutzernamen auf Emerys Posts zu antworten und bei ihren Drohungen alle möglichen homophoben und rassistischen Schimpfworte zu benutzen. Die privaten Nachrichten, die Emery und seine Freundin zusammengestellt hatten und die vermutlich alle von derselben Person stammten, waren jedoch wesentlich schlimmer und bedrohlicher.
Scout war der modernen Technologie gegenüber nicht sehr freundlich eingestellt. Er konnte kaum sein altes Smartphone bedienen. Aber er hatte ein Gefühl für Menschen und als er sich die privaten Nachrichten durchlas, fielen ihm sprachliche und grammatikalische Muster auf, die sich ständig wiederholten. Das sprach dafür, dass es sich wirklich um ein und denselben Absender handelte.
Und wer immer es auch war – er hasste Emery aus tiefstem Herzen und war offensichtlich fasziniert von der Vorstellung, ihm Schaden zuzufügen. Ob das hieß, dass er seine Fantasien auch verwirklichen wollte, musste die Polizei entscheiden. Oder…
»Warum kontaktieren wir nicht das FBI? Es ist schließlich eine ganze Serie von Morddrohungen.« Scout musste zwar zugeben, dass er darüber erleichtert war, persönlich für Emerys Sicherheit zu sorgen, aber Morddrohungen waren keine Lappalie, die man auf die leichte Schulter nehmen durfte. Besonders dann nicht, wenn ein Wohnungseinbruch und Körperverletzung dazukamen.
Christopher schüttelte den Kopf. »Mr. Klein ist – wie Ms. Coal es so schön formuliert hat – stur wie ein Maulesel. Er schwört, es müsste Zufall sein und würde sich schon wieder beruhigen. Deshalb hat sie uns engagiert. Sie glaubt, dass er dadurch die Drohungen endlich ernst nimmt. Offensichtlich will er jedoch selbst nach allem, was letzte Nacht passiert ist, keinen Personenschutz. Er meint, es wäre ausreichend, dass die Polizei informiert wurde. Er wollte sogar den Einbruch nicht melden, aber sie hat ihn dazu gedrängt. Sie hat ihn darauf hingewiesen, dass auch seine Nachbarn gefährdet wären. Daraufhin hat er nachgegeben.«
Warum war das keine Überraschung? Scout hätte beinahe gelacht. Verdammter Rotzbengel.
Er hatte das Gefühl, Emery selbst nach ihrem kurzen Zusammentreffen schon recht gut zu kennen. Und während er ihm innerlich eine Standpauke hielt, wurde ihm die Brust eng. Mein Gott, musste Emery sich gefürchtet haben. Und er dachte nicht nur an sich selbst, sonst hätte er sich nicht um seine Nachbarn gesorgt.
Wie dem auch sein mochte – niemand hatte es verdient, mit dem Tod bedroht zu werden. Scout hatte schon für einige richtige Arschlöcher gearbeitet, aber immer sein Bestes gegeben, ohne sich darüber zu beschweren. Jedenfalls nicht laut.
Das wollte er auch für Emery tun, daran bestand für ihn kein Zweifel. Und sie waren beide erwachsene Menschen. Scout war überzeugt davon, dass sie professionell miteinander umgehen konnten. Schließlich war Emerys Leben in Gefahr.
Andererseits war Scout auch nur ein Mensch und konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken gelegentlich abschweiften, während er und Christopher ihr Frühstück aßen. Irgendwann würde der Zeitpunkt kommen, an dem er seine Aufgabe erfüllt hatte. Bis dahin würden jedoch Tage oder Wochen, vielleicht sogar Monate vergehen. Und in dieser Zeit konnte er den kleinen Schlingel besser kennenlernen, der ihm in nur einer Nacht das Herz gestohlen hatte.
War es da so falsch, wenn Scout hoffte, dass er in dieser Zeit herausfinden konnte, ob seine Gefühle von gestern Nacht der Wirklichkeit standhielten?