Читать книгу Die Eiswolf-Saga / Die Eiswolf-Saga. Teil 2: Irrwege - Holger Weinbach - Страница 10
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Der vor dem Altar Kniende pflegte Bücher in der Regel sorgfältig zu schließen, nachdem er sie benutzt hatte. Sie waren nicht nur von unschätzbarem Wert für ihn, sondern stellten auch für die Gemeinschaft einen unersetzbaren Reichtum an Wissen und Weisheit dar. Ihre Herstellung war aufwendig und nur selten gelangte man an die Abschrift eines Werkes. Sobald er eines nicht mehr benötigte, verschnürte er den meist hölzernen, in seltenen Fällen auch ledernen Einband mit den dafür vorgesehenen Riemen und Laschen und gab sie in die Obhut des Bibliothekars im Skriptorium zurück.
Bei einem Buch machte der Mann allerdings eine Ausnahme. Es widerstrebte ihm regelrecht, dieses besondere Werk zuzuschlagen oder gar zu verschnüren. Er hatte das Gefühl, die Worte auf diesen Pergamentseiten müssten atmen können und benötigten dafür Raum, um sich zu entfalten. Ihr Inhalt und Sinn entsprachen seinem Leben. So blieb das Neue Testament stets offen auf dem kleinen Altar in den privaten Räumlichkeiten des Klosteroberhauptes liegen.
Nachdem er sich bekreuzigt hatte, erhob sich Abt Degenar langsam aus seiner demütigen Haltung. Meist nutzte der Mönch das Gebet, um wieder einen leichten Kopf zu bekommen, der von all den zu prüfenden Zahlen oft schwer wurde. Vertiefte er sich in die Heilige Schrift, so konnte er stets Kraft und neuen Elan für diese lästigen, jedoch notwendigen Aufgaben schöpfen.
Der Mönch blickte sich in dem kleinen, kargen Arbeitszimmer um, welches ihm als Abt des Benediktinerklosters zustand. Selbst nach all den Jahren fühlte er sich noch immer nicht so wohl hier, wie er es mit Fug und Recht tun könnte. Degenar fiel es schwer, sich an das Privileg zu gewöhnen, eigene Räumlichkeiten innezuhaben. Das galt sowohl für das Schlafgemach wie auch für den Vorraum, in dem sich der Altar, ein Schreibpult, ein Tisch und ein paar einfache Holzbänke befanden. Die Exedra war mit raren, teilweise sogar bunten Glasfenstern ausgestattet.
Zu Beginn seiner Amtszeit hätte Degenar am liebsten wieder bei seinen Mitbrüdern im großen Schlafsaal genächtigt, denn so war er es seit seiner Kindheit gewohnt. Dort kehrte zwar niemals absolute Ruhe ein, doch gerade das fehlte ihm in der Anfangszeit in seinen eigenen Gemächern: Er vermisste das Schnarchen, das laute Atmen und die sonstigen Geräusche der Mitbrüder. Allein das Wissen um ihre Nähe barg für Degenar stets eine gewisse Wärme in sich. In seinem eigenen Schlafgemach hingegen war es des Nachts völlig still und er fühlte sich manchmal einsam.
Doch die privaten Kammern eines Abtes besaßen auch Vorzüge. So konnte Degenar in aller Ruhe bis spät in die Nacht seinen zahlreichen Pflichten nachgehen, ohne seine Mitbrüder zu stören oder, was meist wichtiger war, selbst dabei gestört zu werden. Nächtliches Arbeiten war öfter vonnöten, als er es sich jemals hatte vorstellen können, bevor er sich diesem Amt verschrieben hatte.
Eine arbeitsreiche Nacht würde es auch heute werden, sollte er die vielen Zahlen und Kalkulationen seines Freundes Ivo, dem Cellerar, nicht rechtzeitig bis zur Vesperandacht überprüft haben. Zwar konnte er dem Kellermeister vertrauen, vor allem, wenn es um Zahlen ging, denn diesbezüglich war sein Freund überragend, doch Degenar nahm seine Pflichten ernst und so würde er sich auch diesmal erneut durch die Arithmetik mühen. Gut zu wirtschaften war ein wichtiger Grundpfeiler für die Existenz eines Klosters, denn davon hingen Zukunft und Fortbestand der Gemeinschaft ab.
Als Degenar in jungen Jahren von seinen Mitbrüdern zur Abtwahl aufgestellt wurde, hatte er nicht ernsthaft daran geglaubt, diese auch zu gewinnen. Als einfacher Mönch hatte er noch nicht einmal irgendein Amt innegehabt, wie es meist üblich war. Zudem war seine Gegnerschaft mächtig und besaß gewichtige Fürsprecher. Das Ergebnis der Wahl war umso überraschender, denn sie fiel knapp zu Degenars Gunsten aus. Er hatte das Votum angenommen und war seither das Oberhaupt der Abtei. Doch der anfängliche Übermut, den der Sieg mit sich brachte, wich schon wenige Tage später einer kalten Ernüchterung.
Damals, vor über eineinhalb Dekaden, befand sich das Kloster in einem derart desolaten Zustand, dass nur ein grundlegender Richtungswechsel der täglichen Belange einen Erfolg versprach. Trotz der Ländereien im Klosterbesitz waren die Einnahmen zu gering, um die Ausgaben zu decken. Von einer kleinen Summe, die für besondere Zwecke hätte zurückgelegt werden können, wagte Degenar erst gar nicht zu träumen. Durch jahrzehntelange Misswirtschaft stand das Kloster kurz vor dem Ruin.
Bei der Durchsicht der Aufzeichnungen und Bestände war der alte Kellermeister damals keine große Hilfe gewesen. Degenar hatte sogar den Eindruck, als versuche Cellerar Ansgar, die Tatsachen zu beschönigen oder gar zu vertuschen. Daher beschloss Degenar, dieses Amt mit Ivo neu zu besetzen. Sein Freund galt zwar allgemein als zu jung und unerfahren, um das wichtige Amt des Cellerars zu bekleiden, doch er besaß hierfür eindeutig die besten Fähigkeiten. Ivo beherrschte nicht nur die Arithmetik, sondern behielt stets einen Überblick und hatte Verständnis für die notwendigen Zusammenhänge. Meist fand er für alltägliche Probleme schnelle und praktikable Lösungen, die selbst seine Kritiker überzeugten.
Degenars Entschluss rief trotzdem Empörung hervor. Vor allem die älteren Brüder sahen es als respektlos an, den ehrwürdigen Ansgar seines Amtes zu berauben. Um diesen Unmut einzudämmen, ernannte Degenar seinen Freund zunächst zu Ansgars Gehilfen. Somit war es Ivo möglich, sich das Amt des Altmeisters in aller Ruhe und Ausführlichkeit erklären zu lassen und sich einzuarbeiten. Bereits wenige Monate später überließ der betagte Ansgar seinem Gehilfen immer mehr Aufgaben, bis sich der junge Mönch als unentbehrlich erwies. Als der Alte schließlich erkannte, dass Ivo mehr im Amte des Cellerars stand und mehr leistete als er selbst, zog er sich schließlich von selbst zurück. Ansgar behielt zwar offiziell noch immer den Amtstitel, soviel gestand Degenar dem alten Mann aus Respekt zu, doch die Obliegenheiten wurden bis zum Tode des Meisters einzig von Ivo gelenkt.
Natürlich gab es Brüder, die offen behaupteten, Degenar habe dem alten Mönch die Lebensfreude entrissen und ihn auf diese Weise in den Tod getrieben. Mit derartigen Vorwürfen hatte der Abt gerechnet, waren ihm doch inzwischen seine Gegenspieler und deren Taktik bekannt. Anfangs war es sehr belastend, dieser offenen Feindschaft ausgesetzt zu sein. Er selbst hatte nur die ehrenwertesten Ziele im Sinn, doch nicht alle der Brüder schienen diese Ansicht zu teilen.
Urheber dieser Missstimmung war der alte Bruder Lothar, der, wie Degenar auch, seit seiner Kindheit in der Abtei lebte und ebenfalls für das Amt des Abtes zur Wahl angetreten war. Natürlich schmerzte es Lothar noch mehr als seine jüngeren Mitbrüder, den alten Cellerar solcherart deplatziert zu sehen. Zudem waren die Reformen so einschneidend, dass Lothar einige Mitbrüder gegen Degenar aufwiegeln konnte. Der neue Weg des Abtes forderte nämlich Verzicht von allen Mönchen, der auch das leibliche Wohl betraf. Diese Umstände veranlassten Lothar, erneut gegen Degenar anzugehen. Siegessicher verlangte er unverhohlen die Abwahl des Abtes, woraufhin heftige Debatten im Kapitelsaal geführt wurden.
Abermals verfehlte Bruder Lothar sein Ziel. Am Ende waren die Reformgedanken überzeugender gewesen, so dass Degenar in seinem Amt bestätigt wurde. Nach der zweiten Niederlage verspürte Lothar weder Lust noch Kraft, diesen offenen Kampf fortzuführen. Das hinderte jedoch keineswegs andere Brüder daran, ihm nachzueifern.
Um einen dieser Nachfolger war Degenar besonders besorgt, denn er zeigte sich äußerst schlau und tückisch. Es war ein junger Mönch, der ganz bewusst die offenen Auseinandersetzungen scheute. Er agierte lieber im Verborgenen und es war kein geringerer als Bruder Walram, Lothars engster Vertrauter. Er hatte viel von seinem Mentor gelernt und darüber hinaus war er mit seinem Scharfsinn den meisten Mitbrüdern weit überlegen. Mit Leichtigkeit gelang es ihm, eine Gruppe Gleichgesinnter um sich zu scharen. Degenars Hoffnung, nach Lothars Rückzug würde die Zwiespältigkeit der Bruderschaft beendet sein, erwies sich schnell als Trugschluss.
Bruder Walram war sich bewusst, dass Degenar in vielen Bereichen angesehenen war. Deshalb versuchte er nur in ganz kleinen Schritten, die Autorität seines Abtes zu untergraben und wartete geduldig auf seine Gelegenheit. Walram war überzeugt, dass sie eines Tages kommen würde. Der junge und auf seine Art charismatische Mönch hatte mit Hilfe seiner Befürworter binnen weniger Jahre die Position des Priors der Abtei erworben. Er selbst wertete dies als großen Erfolg, denn als Stellvertreter des Abtes genoss er einige Privilegien. Gerade deshalb hielt Degenar stets ein wachsames Auge auf ihn.
Nachdem die anfänglichen Schwierigkeiten überstanden waren und die Gegenstimmen immer leiser wurden, gelang es der Gemeinschaft unter Degenars Führung innerhalb einer Dekade die wirtschaftlichen Probleme zu überwinden. Seit einigen Jahren erzielte das Kloster sogar einen kleinen Gewinn.
Mit einem Kopfschütteln schob Degenar die Vergangenheit beiseite. Er wollte sich jetzt ganz auf die bevorstehende Andacht des Nachmittags konzentrieren, die Non, ohne sich von schlechten Gedanken beeinflussen zu lassen, schon gar nicht von Gedanken um Walram. Deshalb kniete er noch einmal vor dem kleinen Altar nieder, um sich erneut einen klaren Kopf zu verschaffen.
Kaum hatte er das Gebet begonnen, schlug plötzlich die Tür zu seinen Gemächern mit einem lauten Krachen auf. Vor Schreck fuhr Degenar zusammen. Diese Respektlosigkeit, derart ungezügelt in seine Räumlichkeiten einzudringen, war eine unduldsame Dreistigkeit. Noch bevor er sich dem Störenfried zuwandte, setzte der Abt eine finstere Miene auf, um seinen Unmut deutlich zu zeigen. Die strengen, maßregelnden Worte, die Degenar bereits auf der Zunge lagen, blieben jedoch beim Anblick des Eindringlings unausgesprochen. Mit hastigen Schritten betrat Degenars Freund, Cellerar Ivo, den Raum. Er war der Einzige, dem der Abt ein solches Verhalten schnell verzeihen konnte, auch wenn ihm der Schreck noch in den Gliedern saß.
Der Kellermeister schien aufgebracht, murmelte unter schnellen, kurzen Atemzügen vor sich hin und trug einen besorgten Gesichtsausdruck. Es musste einen wichtigen Grund für dieses ungewöhnliche Auftreten geben, denn unter normalen Umständen hätte es selbst Ivo niemals gewagt, derart respektlos einzutreten. Gespannt wartete Degenar auf eine Erklärung, doch die hastig dahingenuschelten, von ständigem Schnaufen unterbrochenen Worte des Cellerars waren beim besten Willen nicht zu verstehen.
Geduldig versuchte Degenar den beleibten Mönch erst einmal zu beruhigen. Er goss Wasser in einen Becher und bot Ivo mit einer einladenden Geste einen Sitzplatz in der Exedra an. Geistesabwesend nahm Bruder Ivo den Becher entgegen, murmelte weiter von Dingen, die Degenar nicht verstand und setzte sich. Erst als Ivo das Gefäß mit einer vor Aufregung zitternden Hand an den Mund führte, erstarb der unverständliche Wortschwall und mit jedem Schluck beruhigte sich der Cellerar zusehends. Schließlich holte er tief Luft und begann mit deutlicher Stimme langsam zu sprechen.
„Ich habe wirklich keine Ahnung, wer er ist oder woher er kommt.“
Bruder Ivo klang hilflos.
Degenar nahm auf einer zweiten Bank gegenüber Platz und schaute seinem Freund in die Augen. Antworten fand er dort jedoch nicht, also stellte er die notwendigen Fragen. „Von wem sprichst du?“
„Na, von dem Jungen natürlich!“ Ivo blickte Degenar ungläubig an, als könne er nicht verstehen, wie man eine solch überflüssige Frage stellen konnte.
„Von welchem Jungen?“
Erst jetzt besann sich der Kellermeister. „Tut mir Leid, ich sollte besser von vorne beginnen …“
„Ja, die Geschichte von Beginn an zu hören, würde es meinem Verstand erheblich erleichtern, deinen Ausführungen Folge zu leisten.“ Degenar konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
„Ja, richtig“, fuhr Ivo fort. „Gut. Also, wo soll ich anfangen? Ach ja, von vorne!“ Der umherwandernde Blick des Cellerars hielt schließlich inne und Ivo begann einen ausführlichen Bericht.
„Ich befand mich gerade auf dem Rückweg von den Feldern, um die Vorbereitungen für das abendliche Mahl zu überwachen. Du weißt, dass ich zurzeit meinen Küchengehilfen verschärft auf die Finger schauen muss …“ Ivo schweifte in Gedanken kurz ab, besann sich aber sogleich wieder auf seinen Bericht. „Ich war allein unterwegs, denn ausnahmsweise hatte sich heute keiner der Brüder beim Prior über Rückenschmerzen beklagt, wie es sonst oft während der Feldarbeit der Fall ist. Guter Dinge befand ich mich im Wald, auf halbem Wege zurück. Plötzlich vernahm ich es: ein Schnauben und Prusten. Zunächst dachte ich an Wegelagerer und beschleunigte meine Schritte. Doch ich wurde nicht verfolgt.“
Der Kellermeister legte eine Pause ein, als durchlebe er die Situation erneut. „Ich hielt inne und vernahm kurz darauf erneut dieses Schnauben. Diesmal konnte ich es eindeutig einem Tier zuordnen. Es befand sich irgendwo im Gehölz hinter mir. Ich wurde neugierig, fasste Mut und bahnte mir einen Weg durch das Unterholz, um der Sache auf den Grund zu gehen. Nach wenigen Schritten traf ich auf einen schmalen Pfad. Und da stand es, nur ein Dutzend Ellen vor mir: ein Pferd!“
„Ein Pferd?“ Degenar konnte seine Überraschung nicht verbergen. Ein jedes Tier hätte er im Unterholz erwartet, verletztes Wild, ein hilfloses Jungtier oder gar ein entlaufenes Schwein. Ein Pferd allerdings war ungewöhnlich.
„Ja, ein Pferd“, erwiderte Ivo. „Doch es war kein sehniger, geschundener Gaul eines fahrenden Händlers. Nein, es war ein Tier von eindeutig edlerem Geblüt. Eines, wie es sich nur wenige leisten können. Weil es weder gesattelt noch gezäumt war, fand ich keinen Hinweis auf seine Herkunft. Sein Zustand verriet mir allerdings, dass es wohl schon mehrere Tage unterwegs war.
Kurz bevor ich es erreichte, stieß ich mit dem Fuß gegen etwas, das im dichten, hohen Farn verborgen lag und meinen Augen entgangen war. Es war ein großes Bündel, eingeschlagen in feines Leinen. Als ich das Tuch zurückschlug, warf der Inhalt weitere Fragen auf, statt die bisherigen zu beantworten. Eingehüllt in dem Tuch lag ein Junge zu meinen Füßen!“
„Ein Junge?“ Degenar hatte aufmerksam zugehört. Die Nachricht über ein Findelkind ließ ihn mit einem Male unruhig werden. „Hast du ihn mitgebracht? Wo ist er jetzt? Wie alt ist er? Wie lautet sein Name?“
Die vielen Fragen des Abtes überrumpelten den Cellerar, der auf der Bank nach hinten rutschte und wieder zu Wort zu kommen versuchte. Als Degenar schließlich verstummte, versuchte Ivo so viele Antworten wie möglich zu geben.
„Ich habe das Pferd mitsamt dem Kind ins Kloster gebracht. Es schien mir das Beste zu sein, da ich weit und breit niemanden sehen konnte. Die Stute habe ich im Stall untergebracht, den Knaben in einem der Gewölbe. Er schläft tief und fest, so wie ich ihn gefunden habe. Er hat bisher weder ein Wort gesprochen noch die Augen geöffnet. Ich schätze sein Alter auf etwa sechs oder sieben Jahre.“
Mit Gewölbe meinte Ivo vor allem Kellergewölbe und unterirdische Lagerräume. Dort traf man neben dem Kellermeister und seinen Gehilfen selten einen anderen Menschen an. Die Lager und Gewölbe waren einsame und kühle Orte, an denen sich niemand gerne länger aufhielt als es unbedingt notwendig war.
„Hat dich jemand beobachtet?“
Der sorgenvolle Ton verunsicherte Ivo, schließlich war der Junge nicht das erste Findelkind der Abtei. „Soweit ich es beurteilen kann, hat mich niemand gesehen.“
„Gut!“ Der Abt erhob sich und begab sich ohne weitere Fragen zur Tür. Ivo blickte ihm verwirrt nach, wusste nicht, wie er den plötzlichen Aufbruch deuten sollte. Degenar wartete geduldig auf seinen Freund und erst als sich der beleibte Cellerar nicht regte, sprach der Abt mit drängenden Worten.
„Lass uns den Knaben anschauen, bevor ihn jemand anderes zu Gesicht bekommt. Du weißt doch, dass es in unserem Kloster genug Augen und Ohren gibt, die nur allzu gerne von einem Fehltritt des Abtes oder dessen Freund berichten würden.“
Endlich erhob sich Ivo und folgte Degenar. Zügig schritten sie an der zentral gelegenen Klosterkirche vorbei und zwischen mehrere Gebäude hindurch, bis hin zum Vorratskeller unter dem Refektorium. Dort blieb der Cellerar stehen und schaute sich nach allen Seiten um. Sie waren allein. Ivo schob den Riegel einer einfachen Holztür zur Seite und verschaffte sich und seinem Freund Zutritt zu den düsteren Kammern unter der Erde. Am Eingang nahm er eine Lampe von der Wandhalterung und entzündete die darin befindliche Kerze. Mit dem dürftigen Licht kletterte Ivo langsam die Steintreppe hinab.
Der Abt folgte einem spontanen Impuls und schloss die Tür, bevor er seinem Freund nacheilte, um niemandem einen Hinweis darauf zu liefern, dass sich jemand in den dunklen Grundmauern des Refektoriums aufhielt.
In dem Gewölbe herrschte trotz des heißen und trockenen Sommers eine angenehme Temperatur. Für einen kurzen Augenblick empfand Degenar so etwas wie Neid auf seinen Freund wegen der Kühle. Doch sofort machte er sich klar, dass die Arbeit hier unten in den übrigen Jahreszeiten umso widriger sein musste.
Am unteren Ende der Treppe entzündete Ivo eine weitere Kerze und reichte sie Degenar. Die beiden Freunde schritten an unzähligen Regalen mit verschiedensten Gütern vorbei, hinein in die Tiefen des großen Raumes. Der Abt fragte sich, wie sein Freund sich in diesem dunklen Labyrinth nur zurechtfinden konnte. Derart in Gedanken wäre er beinahe gegen Ivo gelaufen, der unerwartet vor einer breiten Tafel am Ende des düsteren Saales innehielt.
Degenar hob Ivos Lampe an, um besser sehen zu können. Auf der Tafel lag ein kleiner Knabe, gänzlich in dunkles Leinen gehüllt, tief und fest schlafend. Sachte schlug Degenar das Tuch etwas beiseite und betrachtete das Gesicht, während Bruder Ivo noch ein paar umstehende Kerzen entzündete, die er allesamt auf die Tafel stellte.
„Er hat kein einziges Wort von sich gegeben?“, versicherte sich Degenar noch einmal.
„Kein einziges. Er kam nicht zu Bewusstsein, selbst als ich ihn im Wald auf das Pferd hievte und später hierher getragen habe. Ein leises Stöhnen war alles, was er von sich gab. Würde er nicht atmen, hätte ich ihn für tot gehalten. Er sieht ausgemergelt aus und nur der Herr weiß, wie lange er schon unterwegs ist.“
Beide Mönche standen still neben dem Jungen und Ivo wartete auf eine Anweisung seines Freundes, doch Degenar dachte lange nach. Schließlich fasste er einen Entschluss und begann, den Jungen zu entkleiden.
Zunächst wickelte er ihn vorsichtig aus dem dunklen Leinenstoff. Es war ein Umhang von feiner Qualität, was in Degenars Augen gut zu dem edlen Pferd passte. Seine Vermutung, der Junge könnte einer adeligen Familie entstammen, behielt er allerdings noch für sich. Der edle Stoff war ein Indiz dafür, was aber nicht ausschloss, dass das Kind auch der Sprössling eines Geächteten sein könnte, welches sich mit dieser Beute auf und davon gemacht hatte. Es gab viele mögliche Erklärungen und am einfachsten wäre es wohl gewesen, wenn der Junge aufwachen und mit ihnen sprechen würde.
‚Die entscheidenden Dinge nehmen niemals den einfachen Lauf, dachte sich Degenar und legte den feinen Umhang zur Seite.
An Unterschenkeln und Füßen war der Junge völlig nackt, lediglich am Leib trug er ein weißes Untergewand aus fein gewobenem Leinen, wie Adelige es auch als Nachtgewand trugen. Gemeinsam mit Ivo streiften sie dem schlafenden Knaben das Linnen behutsam ab. Nackt und unschuldig lag er nun auf dem Tisch.
In diesem Augenblick fiel Degenars Blick auf ein kleines Schmuckstück am Hals des Jungen. Er nahm es in die Hand und hielt es ins Kerzenlicht. Es war handwerklich hervorragend gearbeitet und bestand aus einer feingliedrigen Kette sowie einem merkwürdig geformten Ring, der auf der Oberseite reliefartige Vertiefungen aufwies. Die beiden Mönche schauten sich fragend an.
„Was bedeutet das?“, fragte Ivo neugierig.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Degenar, während er vorsichtig die Kette über das Haupt des Jungen streifte. Als er das Relief des Ringes betrachtete, setzte er es in Gedanken zu einem Bild zusammen, wie es der Ring in Wachs hinterlassen würde. „Das ist ein Siegelring!“
Kurz entschlossen griff Degenar nach einer Kerze, tropfte flüssiges Wachs auf die Holztafel und drückte die Oberseite des Rings hinein. Nach einer Weile zog Degenar den Ring vorsichtig aus dem erstarrten Wachs. Die beiden Mönche beugten sich im fahlen Licht vor und betrachteten den Abdruck: Es war der Kopf eines Wolfes, dem Wappentier des hiesigen Grafen! Es gab keinen Zweifel darüber, was der Abt in Händen hielt und er konnte seine Überraschung vor Ivo nicht mehr verbergen.
„Es ist der Siegelring des Grafen!“, flüsterte er geheimnisvoll.
„Wie kommt der Knabe zu diesem Ring?“, entfuhr es dem Kellermeister voll Empörung. „Glaubst du, er hat ihn gestohlen?“
Degenar blickte seinen Freund streng an. Offensichtlich zog der Cellerar nicht die gleichen Schlussfolgerungen wie er und so ließ Degenar Ivo an seinen Gedanken teilhaben. „Wenn es nur diesen Ring gäbe, könntest du vielleicht Recht haben. Doch da sind noch das Nachtgewand, der feine Umhang und das edle Pferd, die mich stutzig machen. Alles zusammen betrachtet, komme ich zu einem anderen Schluss.“
Ivo konnte seinem Freund nicht folgen und als Degenar nicht weitersprach, entfuhr es ihm ungeduldig. „Sag schon, zu welchem Schluss kommst du?“
„All diese Hinweise könnten bedeuten, dass der Junge ein Mitglied der Grafenfamilie ist. Das ist natürlich noch nicht erwiesen, doch es scheint mir sehr plausibel. Vieles deutet auf eine adlige Herkunft hin und dieser Siegelring zeigt eindeutig das Wappentier des Grafen. Es könnte sich bei dem Knaben um den Sohn des Grafen handeln!“
„Meinst du den Sohn des neuen oder des alten Grafen?“, fragte Ivo verunsichert, der die Theorie seines Freundes offensichtlich als zu gewagt ansah.
„Es gibt nur einen Grafen, das solltest du wohl wissen. Zumindest gab es ihn noch bis vor kurzem. Dessen Bruder ist augenblicklich nur Sachwalter.“
Vor zwei Tagen erst war ein Botschafter im Kloster eingetroffen und hatte dem Abt die Neuigkeiten des Überfalls auf die Grafenburg und des tragischen Todes des Herrn Farold und seiner Gemahlin verkündet. Obwohl sich die Abtei einer höheren Macht verschrieben hatte, so unterlag sie doch stark den irdischen Begebenheiten. Noch am gleichen Abend hatte Degenar die Nachricht seinen Mitbrüdern nach der Vesperandacht mitgeteilt. Jeder Mönch war über die Bluttat entsetzt. Für die meisten war es sogar ein Grund gewesen, das Schweigegebot zu brechen. Einzig Prior Walram hatte verhalten, ja beinahe gelassen, auf diese Neuigkeiten reagiert.
Degenar hatte allerdings nicht die volle Kunde des Botschafters an seine Mitbrüder weitergegeben. Die Suche nach dem jungen Rogar hatte er instinktiv verschwiegen.
Vor zwei Tagen wusste Degenar noch nicht, weshalb er es geheim halten wollte, doch je länger er sich hier unten im Gewölbe bei dem Knaben befand, umso besser verstand er sein Handeln. Schließlich fuhr er fort:
„Farolds Bruder, dieser Rurik, bleibt bis zur Ernennung zum Grafen durch König Otto vorerst Sachwalter der Grafschaft. Diese Ernennung könnte sich jedoch als schwierig herausstellen. Zuvor muss nämlich der Verbleib des verschwundenen Erben, Farolds Sohn Rogar, zweifellos geklärt sein. Entweder wird der Knabe eines Tages gefunden oder sein Tod kann nachgewiesen werden. In jedem Falle aber entscheidet der König allein über die Zukunft der Grafschaft.“
Als Degenars Worte verklungen waren, stutzte Ivo zunächst. Doch dann weiteten sich seine Augen in plötzlicher Erkenntnis. Sein Mund öffnete sich, formte jedoch nur lautlos den Namen Rogar.
„Genau das denke ich!“, half ihm Degenar. „Für den Finder des rechtmäßigen Erben kann dies sowohl Glück als auch Verderben bedeuten. Es kommt ganz darauf an, auf wessen Seite er sich stellt und wem er den Knaben überantworten wird. Wenn er sich als Farolds Anhänger sieht, dann sollte er besser Ruhe bewahren und den Knaben verstecken. Es sieht ganz danach aus, als hättest du Rogar gefunden und zwar lebend, alter Freund. Ein Umstand, den, so glaube ich, mancher gerne ändern würde. Sollten wir anstreben, dass der Erbe weiter am Leben bleibt, dann müssen wir vorerst Stillschweigen bewahren und ihn wie jedes andere Findelkind behandeln.“
„Warum sollte jemand dem Jungen etwas anhaben wollen?“
„Die Kunde des Botschafters war in meinen Augen etwas widersprüchlich und die Art und Weise, wie er Rurik als Sachwalter ankündigte, machte mich stutzig. Ich traue dem Bruder des verstorbenen Grafen nicht. Frage mich nicht, weshalb. Es ist nur so ein Gefühl, dem ich folge. Obwohl ich Rurik noch niemals begegnet bin, so glaube ich, dass er etwas im Schilde führt und der Junge in dessen Obhut seines Lebens nicht sicher sein würde.“
Degenar blickte wieder auf den Knaben nieder. Die herrschende Kälte hatte auf dem Körper des Jungen eine Gänsehaut hervorgerufen.
„Ivo, schnell, ein Novizenhabit von passender Größe, sonst erkältet er sich noch.“
„Natürlich“, antwortete Ivo und wandte sich zum Gehen. Dann hielt er noch einmal inne. „Du weißt, dass ich dir vertraue, doch ich frage mich, wie lange du den Jungen im Kloster verstecken willst?“
„Das weiß ich noch nicht und wir sollten das zu gegebener Zeit klären. Rasch jetzt, geh und hole ein Novizenhabit, damit er nicht weiter frieren muss. Wir haben schon zu viel Zeit mit unserem Gerede vergeudet.“
Ivo lief mit einer Kerze davon, während Degenar den Knaben noch einmal genauer betrachtete. Er hatte den verstorbenen Farold nur einige Male gesehen und er konnte nicht sagen, ob der Junge ihm ähnlich sah.
Degenar atmete tief durch, dann schritt auch er zur Tat. Er nahm den Siegelring mit der Kette und wickelte beides sorgfältig in das weiße Nachtgewand. Dies wiederum schlug er in den dunklen Umhang, bis er ein festes Bündel aus Leinstoff in Händen hielt, das neutral aussah und nichts über seinen wichtigen Inhalt verriet.
Allein mit dem Kind in dem dunklen, kalten Gewölbe stellte Degenar sich die Frage, ob er richtig handelte. Er war sich nicht sicher, ob dieser Knabe Rogar war oder ob seine Vermutungen Rurik betreffend richtig waren. Trotz seiner Zweifel ging er das Risiko ein, den Jungen als gewöhnlichen Novizen aufzunehmen. Ein regelrechtes Lügengebilde würde er um diesen Jungen aufbauen müssen, zumindest für die erste Zeit. Er hoffte inständig, dass er das Richtige tat, und betete, dass ihm der Herr am Tag des Jüngsten Gerichts diese Lügen, die er mit Sicherheit in naher Zukunft aussprechen würde, vergeben möge.
Mit einem Kopfschütteln schob Degenar diese Zweifel beiseite und suchte nach einem Riemen zum Schnüren des Leinenbündels, als Ivo gerade mit einem Arm voller Gewandungen zurückkam. Der sah seinen Freund mit dem Stoff in der Hand und warf ihm ein großes Stück Leder und einige Riemen auf den Tisch.
„Das Leder wird das Bündel vor Feuchtigkeit schützen. Wer weiß, wo wir es lagern müssen, um es vor neugierigen Augen zu verbergen. Schlage es zweimal in das Leder ein und schnüre es fest. Dann werden nicht einmal die Ratten ihre Freude daran haben!“
Degenar befolgte den Rat seines Freundes. Während er ein unauffälliges Päckchen aus Leder band, begann Ivo dem Knaben ein Novizenhabit überzustreifen. Zunächst das Untergewand und darüber die für den Sommer bestimmte dünne Kukulle.
Der Junge lag ruhig da, gekleidet wie einer der vielen Novizen in diesem Kloster, und die beiden Mönche begutachteten still ihren neuen Schützling. Degenar setzte gerade an, mit seinem Freund das weitere Vorgehen zu beratschlagen, als er wachsam aufhorchte. Der Cellerar vernahm ebenfalls Geräusche, die sich wie leise, schleichende Schritte aus dem Dunkel anhörten. Völlig vertieft in ihre Aufgabe hatten sie nicht bemerkt, dass sich jemand Zutritt zum Keller verschafft hatte.
Der unerwartete Besucher war noch nicht zu erkennen. Die beiden Mönche dagegen, im Kerzenschein am Ende des Gewölbes, waren leicht auszumachen. Degenar und Ivo warteten angespannt an der Tafel. Kurze Zeit später zeigten sich die Umrisse eines Mannes, die mit jedem Schritt deutlicher wurden. Nur wenige Augenblicke später trat ein Mönch in den flackernden Lichtschein der Kerzen. Sein Haupt war von einer Kapuze verhüllt.
Einen Moment lang betrachtete er stumm den Knaben auf dem Tisch, trat dabei noch näher an die Tafel heran und streifte schließlich die Kapuze von seinem Haupt. Degenar hielt den Atem an, als er den Prior der Abtei, Bruder Walram, erkannte. Der Abt hätte es sich denken können, dass er ausgerechnet jetzt hier auftauchen würde. Es lag in Walrams Natur, immer zu den ungelegensten Augenblicken zu erscheinen.
Neugierig beobachtete der Prior die beiden Mönche. Noch immer angespannt, wartete Degenar auf Walrams Kommentar zu dem Jungen. Wie immer würden seine Worte in Klang und Inhalt respektvoll erscheinen. Doch wer genauer hinzuhören wusste, würde in Walrams Tonfall ebenso Spott und Verachtung erkennen können. Selbst jetzt, da er noch schwieg, konnte er eine gewisse Arroganz nicht unterdrücken.
Walram war trotz des Kerzenscheins nur undeutlich auszumachen. Das flackernde Licht erzeugte tanzende Schatten auf seinem Gesicht, das aufgrund des dunklen Habits und seines schwarzen Haupthaars immer wieder im Dunkel des Gewölbes zu verschwinden schien. Einzig Walrams funkelnde Augen spiegelten das Licht als zwei kleine, leuchtende Punkte wider.
Der Prior bevorzugte die dunkelste Gewandung. Wenn darauf angesprochen, so begründete er mit unverkennbarer Eitelkeit, dass dies die einzig passende Farbe zu seinem schwarzen Haupthaar und seinen dunklen Augen sei. Eine Eitelkeit, die der Abt schon mehrfach gerügt hatte, leider vergeblich. Walram achtete auch stets auf Sauberkeit und korrekte Gewandung. Dagegen war nichts einzuwenden, doch er war in dieser Hinsicht einzigartig in der Abtei. Während manche Mitbrüder nur wenige Male im Jahr ein Bad nahmen, war er unablässig dabei, sich zu waschen und zu reinigen. Stets trug er ein sauberes Habit. Das kurze Haar mit einer exakten Tonsur, das täglich rasierte Gesicht und die meist gewaschenen Hände ergaben das gepflegte Bild des Priors. Das alles passte jedoch nicht zur Zurückhaltung und Genügsamkeit eines Mönches, die der Abt erwartete und wie es die Regeln des heiligen Benedikt vorschrieben.
Walrams Äußeres mit der auffallenden, habichtgleichen Nase, die durch die tanzenden Kerzenflammen in ihrem Schatten mal zu wachsen, mal zu schrumpfen schien, wurde durch seine Ausdrucksweise zusätzlich betont. Stets war sie klar und deutlich, seine Wortwahl wohl überlegt. Ein jeder konnte ihn gut verstehen, sowohl in der Lautstärke wie auch dem Sinn nach. Auf diese überhebliche und arrogante Weise sprach er jetzt Degenar an.
„Ehrwürdiger Abt.“
„Ehrwürdiger Prior.“ Mehr als diesen vermeintlich respektvollen Gruß gab Degenar nicht von sich. Nach kurzem Zögern und Schweigen auf beiden Seiten gab Walram schließlich nach und begann scheinbar beiläufig ein Gespräch, als sei er rein zufällig in diesem Gewölbe auf die beiden Mönche gestoßen. Degenar wusste es besser, denn Walram überließ nichts dem Zufall!
„Ich hatte nicht erwartet, Euch in diesem dunklen, feuchten Loch, einem der entlegensten Winkel unserer Abtei, anzutreffen.“ Ein geringschätziger Blick fiel auf Ivo. „Aber ich verstehe: Ihr seid unserem ehrwürdigen Cellerar in sein Reich gefolgt.“
„Dennoch scheint es, als hättet Ihr uns hier unten gesucht.“ Degenars Tonfall klang ebenso beiläufig wie Walrams. „Jetzt, da Ihr uns gefunden habt, dürft Ihr uns auch mitteilen, welch wichtige und unaufschiebbare Mission Euch in dieses dunkle, feuchte und entlegene Loch unserer Abtei getrieben hat.“
Walram ignorierte die zynische Betonung, ja ignorierte die Worte überhaupt. Sein Augenmerk blieb auf dem vor ihm liegenden Jungen haften, studierte dessen Gesichtszüge genauestens. Nach einer Weile antwortete er dem Abt schließlich.
„Ursprünglich kam ich her, um einigen Brüdern zur Erfrischung nach der harten Feldarbeit eine Karaffe mit gewässertem Wein zu holen. Doch es scheint, als sei ich gerade rechtzeitig zur Aufnahme eines neuen Novizen eingetroffen.“
Walrams prüfender Blick suchte nach einer Reaktion des Abtes, doch Degenars Gesicht blieb ausdruckslos und so fuhr der Prior fort. „Verwunderlich ist, dass ich über diese Aufnahme nicht unterrichtet wurde und dass der Knabe in diesem Gewölbe in das Noviziat aufgenommen wird, schlafend! Weshalb geschieht dies nicht wie üblich in den dafür vorgesehenen Räumlichkeiten? Gibt es einen besonderen Grund für dieses Versteckspiel? Wer ist der Knabe?“
Walram kam wie immer schnell und ohne Umschweife zur Sache. Trotz seiner vielen Fragen schien der Prior nicht wirklich auf Antworten zu hoffen. Stattdessen nahm er eine der Kerzen vom Tisch und leuchtete dem schlafenden Kind in das verschmutzte Gesicht, als bekäme er auf diese Weise mehr Auskünfte. Als Degenar Walram beobachtete, fiel sein Blick auf das erkaltete Wachs mit dem Abdruck des Siegelrings. Ein Schrecken durchfuhr ihn. Noch hatte der Prior den Abdruck nicht bemerkt, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis er ihm auffallen würde.
Walram starrte noch immer in das Gesicht des Jungen. Es war ihm anzusehen, wie scharf sein Verstand arbeitete. Um dem Prior nicht zu viel Zeit zu geben, versuchte Degenar ihn mit einer halbwegs erfundenen Geschichte abzulenken. Der Abt erinnerte sich an seine jüngsten Gedanken bezüglich all der Lügen, die er noch auftischen würde. Dass er sie allerdings so früh aussprechen musste, hatte er nicht erwartet.
„Wir wissen nichts über ihn, hegen allerdings die Vermutung, dass es sich um das ausgesetzte Kind eines fahrenden Händlers oder Spielmannes handelt. Unser ehrwürdiger Kellermeister, Bruder Ivo, hat ihn bewusstlos und nahezu ohne Kleidung am Wegesrand gefunden. Da er einen Sonnenstich bei dem Jungen vermutete, hat er ihn in das kühle Gewölbe gebracht. Wie Ihr seht, ist es alles andere als ein Versteckspiel. Oder hättet Ihr an des Cellerars Stelle besser zu handeln gewusst?“
Der Prior ging nicht auf die Frage ein. Er wollte sich nicht in Nebensächlichkeiten verstricken, solange es Wichtigeres zu klären galt.
„Wo ist seine Gewandung? Auch wenn er nur wenig bei sich trug, wie Ihr behauptet, so könnte sie dennoch Aufschluss über Herkunft und Stand geben.“
In diesem Moment fiel Walrams Blick auf das geschnürte Lederbündel am Ende der Tafel. Sofort griff Degenar schützend nach dem Packen. Er bekam es gerade noch zu fassen und zog es an sich, bevor Walrams vorschießende Hand es erreichen konnte.
„Darin ist nichts von Bedeutung“, bemerkte Degenar beiläufig, als lohne sich ein weiterer Blick nicht. „Es handelt sich nur um grob gewobenes, schmutziges Leinen von solch schlechter Qualität, wie Ihr es selbst wohl noch nie getragen habt.“
Walram nahm seine Hand langsam wieder zurück und überhörte die Anspielung auf seine Eitelkeit. Geschlagen geben wollte er sich aber noch nicht: „Ihr könnt das Bündel gerne in meine Obhut geben, damit ich es verwahre, wie ich all die Habseligkeiten unserer Novizen verwahre, sobald sie dem Orden beitreten.“
Degenar dachte jedoch nicht daran, das Bündel dem Prior zu überlassen, der hartnäckig blieb.
„Habt keine Angst, ich gedenke beileibe nicht die Gewandung aufzutragen. Der Junge wird sie zurückerhalten, sobald er das Kloster verlässt. Oder sie wird am Tage des Mönchsgelübdes verbrannt, sofern er sich für diesen Weg entscheiden sollte. Ganz so, wie es der Ritus verlangt.“
„Habt Dank für Euer großzügiges Angebot, Bruder Walram“, antwortete Degenar freundlich. „Unser ehrwürdiger Cellerar ist der unumstößlichen Meinung, er müsse die verdreckten Leinen erst einmal reinigen, bevor man sie Euch zur Aufbewahrung überantworten kann. Ganz so, wie es seine Pflicht ist.“
Ohne den Blick vom Prior zu nehmen, warf Degenar seinem Freund das Bündel zu. Das kurze Zucken von Walrams Händen nach dem fliegenden Päckchen entging dem Abt nicht und er empfand eine gewisse Genugtuung dabei. Die glücklosen Hände des Priors ballten sich langsam zu Fäusten, die er hinter seinem Rücken verbarg. Seine Gesichtszüge verhärteten sich dabei und Walrams Unterkiefer mahlte im Zorn. Er rang um Beherrschung. Um ihm dies zu erleichtern, wechselte der Abt das Thema.
„Weshalb seid Ihr überhaupt schon von der Feldarbeit zurück? Bis zur Vesperandacht ist es noch einige Zeit hin und die Arbeit auf den Feldern, wie ich sie für heute vorgesehen hatte, ist mit Sicherheit noch nicht erledigt.“
„Nein, die Arbeit auf den Feldern ist wahrlich noch nicht getan! In Anbetracht der herrschenden Hitze muss ein Teil auf den morgigen Tag verschoben werden. Offensichtlich habt Ihr die Arbeitskraft unserer Mitbrüder unter diesen schweren Bedingungen überschätzt.“
Walrams Kritik an Degenars Führung blieb ohne Reaktion. Der Abt ließ sich nicht provozieren und übte sich in Gleichgültigkeit, so dass Walram fortfuhr: „Für einige der Brüder war die Belastung in der Hitze zu groß oder besser gesagt: die von unserem ehrwürdigen Cellerar in seiner Weitsicht zugeteilte Menge an gewässertem Wein war zu gering. Beinahe wären einige Brüder vor Erschöpfung zusammengebrochen. Und da es der allmächtige Herr in seiner Weisheit und Macht für richtig befunden hat, uns heute einen heißen Tag zu bescheren, habe ich die ausstehenden Arbeiten verschoben. Nur zum Schutz, damit keiner der Brüder die eine oder andere Andacht im Hospital verbringen muss.“
Ganz gezielt versuchte Walram Degenar und Ivo mit dieser Blasphemie zu reizen. Unter normalen Umständen wäre der Abt entschieden dagegen vorgegangen, doch die augenblickliche Situation ließ ihn stumm verharren. Sollte der Prior jedoch glauben, er könne mit dieser Taktik Degenar aus der Fassung bringen, so hatte er sich getäuscht.
„Ehrwürdiger Prior, Ihr habt sicherlich richtig gehandelt, indem Ihr die erschöpften Brüder ins Kloster zurückgeführt habt. Weshalb jedoch keiner von ihnen auf die Idee kam, im Schatten der Bäume am nahen Bachlauf Erholung und Erfrischung zu suchen, statt auf eine Karaffe Wein zu hoffen, ist mir rätselhaft. Wie dem auch sei, natürlich habt Ihr das Problem auf Eure besondere Weise und zu aller Zufriedenheit gelöst.“
Die Augen des Priors blieben starr auf den Abt gerichtet. Lediglich die kleinen Zuckungen der Lider verrieten, dass es Walram größte Anstrengung kostete, den Blick zu halten. Schnell sprach er weiter, als wäre keine Kritik an seinem Handeln geäußert worden.
„Was wird mit ihm geschehen?“
„Ich denke, die betreffenden Brüder sollten viel Wasser zu sich nehmen, sowie Sonne und größere Anstrengungen meiden, damit sie schnell wieder zu Kräften kommen.“
„Ich spreche von dem Jungen, ehrwürdiger Abt!“
„Vielleicht müsst Ihr Eure Fragen in Zukunft präziser formulieren, um solche Missverständnisse zu vermeiden! Was den Jungen betrifft, so gibt es in dieser Hinsicht klare Regeln unseres Ordens. Der Knabe bleibt zunächst als Novize bei uns. Sollten eines Tages Verwandte erscheinen und Anspruch auf ihn erheben, so darf er das Kloster jederzeit verlassen. Diese Verwandten müssten allerdings eindeutig beweisen, dass dies ihr Knabe ist. Ansonsten bleibt er bei uns.“
„Ihr seid Euch Eurer Sache sehr sicher, nicht wahr, ehrwürdiger Abt?“
„Gibt es denn einen Grund dies nicht zu sein, ehrwürdiger Prior? Es ist unser aller Aufgabe, den Bedürftigen und vor allem den Kindern zu helfen und ihnen Gott nahe zu bringen. Daher steht dieser Knabe unter meinem persönlichen Schutz.“
Die Augenbrauen des Priors hoben sich und seine Stirn legte sich in Falten. Was der Abt soeben unmissverständlich ausgesprochen hatte, war eine versteckte Drohung, wie sie selbst Walram nicht besser hätte formulieren können. Der Prior verstand genau, was Degenar damit meinte: ‚Wagt Euch nicht zu nahe an den Knaben heran, er gehört mir!
Walrams Miene versteinerte sich und seine Antwort klang hart und kalt wie das Gestein der Gemäuer: „Wenn Ihr das so seht, ehrwürdiger Abt, so möchte ich Euch nicht länger stören. Es gibt einige Brüder, nach denen ich sehen muss. Ich wünsche Euch viel Erfolg bei der Bewältigung Eurer neuen Aufgabe! Ich hoffe, sie wird sich für Euch nicht als zu dornig erweisen.“
Noch einmal inspizierte Walram den Jungen, als wolle er sich dessen Gesicht genau einprägen. Seine eigene Miene blieb dabei eine starre Maske und bot keinen Aufschluss darüber, was in seinem Kopf vorging.
Ivo war es schließlich, der ihn unterbrach: „Vergesst nicht, eine Karaffe Wein mitzunehmen, wie Ihr es zum Wohle unserer Brüder vorhattet. Schließlich seid Ihr nur deshalb in dieses kalte, dunkle Loch gekommen. Die überhitzten Brüder werden es Euch gewiss danken, ehrwürdiger Prior.“
Ivos Hohn und Sarkasmus waren bewusst gewählt. Im Gegensatz zu den versteckten Seitenhieben zwischen Walram und Degenar, kam es zwischen dem Cellerar und dem Prior oftmals zum offenen und hitzigen Disput.
Doch heute ließ sich der Prior nicht darauf ein. Er sah den Kellermeister nur kurz an und verbeugte sich knapp.
„Habt Dank für die Erinnerung, ehrwürdiger Cellerar, doch sorgt Euch nicht um mich. Ich habe bisher immer einen Weg gefunden, um an das zu gelangen, was ich benötige oder begehre.“
Walram war im Begriff zu gehen. Eine Last schien von Degenars Schultern zu fallen, so erleichtert war er. Noch einmal ließ der Prior seinen Blick über den Tisch schweifen und bemerkte dabei den Abdruck im kalten Wachs. Sein Verstand arbeitete blitzschnell. Eilends beugte er sich vor, um ihn näher zu betrachten.
Der Abt erkannte die Gefahr und wollte mit einer Hand das Siegelzeichen verdecken. Walram neigte bereits den Kopf, um den Abdruck deuten zu können, als sich Degenars Ärmel an einer nahestehenden Kerze verfing und sie zu Fall brachte. Möglicherweise war das eine göttliche Fügung, anders konnte sich der Abt den Vorfall nicht erklären, denn zum einen zog er damit Walrams Aufmerksamkeit auf sich und zum anderen ergoss sich das flüssige Wachs der umgestürzten Kerze genau über den Abdruck des Siegelrings.
Noch bevor der Prior die Bedeutung des Reliefs hatte erkennen können, war es von flüssigem Wachs verdeckt worden.
Die Blicke des Priors und des Abtes trafen sich. In Walrams Augen zeigte sich Misstrauen und Abneigung. Er wusste jetzt, dass Degenar vor ihm etwas verbarg, konnte es jedoch nicht beweisen. Verärgert machte er kehrt und schritt davon.
Die Anspannung in Degenar und Ivo wich erst, als sie wussten, dass der Prior die Treppe emporgestiegen war und die Tür krachend hinter sich geschlossen hatte. Beinahe gleichzeitig atmeten die beiden Freunde erleichtert auf.
Der Cellerar brach zögernd das Schweigen. „Wie soll es jetzt weitergehen? Walram hat bestimmt einen Verdacht die Identität des Jungen betreffend.“
„Sehr wahrscheinlich. Hoffentlich hat er das Siegel nicht erkannt“, erwiderte Degenar nachdenklich. Schließlich hellte sich sein Gesicht wieder auf. „Aber er hat keinen einzigen Beweis, der seine Vermutung untermauern könnte. Wenn er die wahre Herkunft des Jungen erahnen sollte, wird ihm das ohne den Siegelring nicht viel bringen!“
Degenar überlegte kurz, dann fuhr er fort: „Ich schlage daher vor, dass wir genauso vorgehen, wie ich es Walram geschildert habe. Der Junge wird als Novize aufgenommen und untersteht meinem ganz persönlichen Schutz. Unser ehrwürdiger Prior wird es nicht wagen, diese Grenze zu überschreiten. Genauso wenig werde ich es wagen, dem Knaben vorzeitig das Gelübde abzunehmen, um ihn als Mönch ans Kloster zu binden. Darüber soll er selbst entscheiden, wenn er eines Tages das Alter erreicht hat. Ist er tatsächlich der Erbe der Grafschaft, so sollte er die Möglichkeit erhalten, dieses Erbe eines Tages auch anzutreten. Ich werde mein Möglichstes tun, um ihn dabei zu unterstützen. Wie ich dich kenne, mein Freund, so wirst du mir in diesem Bestreben nicht nachstehen.“
Der Cellerar stimmte mit nachdenklichem Nicken zu und der Abt sprach weiter: „Um zu verhindern, dass man die wahre Identität des Knaben herausfindet, müssen alle Hinweise fortgeschafft werden. Das Bündel mit seiner Gewandung und dem Siegelring werde ich aufbewahren. Dann wäre da noch das Pferd: Es muss schnellstens verkauft werden. Jedoch nicht auf dem nächsten Markt. Das könnte Fragen aufwerfen.“
Ivo nickte erneut und es schien, als überlege er bereits, wie er den Verkauf eines so edlen Tieres am besten abwickeln könnte. Degenar unterbrach ihn jedoch: „Hat dich jemand mit dem Pferd beobachtet? Kannst du deinen Gehilfen im Stall vertrauen?“
„Keine Sorge, sie werden nichts preisgeben“, beruhigte ihn der Kellermeister.
„Ich möchte kein unnötiges Risiko eingehen. Verkaufe das Tier sobald wie mög-
lich. Achte darauf, dass du es nicht unter Wert verkaufst. Wenn jemand glaubt, einen Mönch übervorteilt und dadurch ein wertvolles Pferd erstanden zu haben, kann sich diese Kunde wie ein Lauffeuer ausbreiten. Sie könnte Fragen aufwerfen, die gewiss auch unserem ehrwürdigen Prior zu Ohren kämen.“
Ivo verstand nur allzu gut und nickte. „Hast du dir schon einen Namen überlegt?“
Degenar schaute verdutzt. „Das Pferd benötigt doch keinen Namen, wenn wir es in wenigen Tagen verkaufen wollen!“
„Nein, nicht das Pferd. Ich meinte den Jungen. Wir können ihn unmöglich mit seinem richtigen Namen aufnehmen! Novize Rogar – da könnten wir ihn ja gleich Walram an die Hand geben.“
Degenar nickte und wurde nachdenklich. „Du hast Recht. Der Prior hat ohnehin ein ausgesprochen reges Interesse an dem Jungen gezeigt. Ich frage mich, weshalb? Er würde es nicht tun, wenn er keinen eigenen Nutzen davon hätte.“
„Walram ist ein schlauer Kopf und wir dürfen ihn nicht unterschätzen“, gab Ivo zu bedenken. „Außerdem: Er verlässt die Klostermauern öfter als manch anderer der Bruderschaft und trifft sich mit den weltlichen Herren. Wer weiß, was er mit ihnen alles bespricht. Nur selten teilt er anderen die Ergebnisse dieser Zusammenkünfte mit, nicht einmal dir.“
„Ja, Walram hält es nicht für notwendig, mich, seinen Abt, in diese Reisen einzuweihen. Verhindern kann ich sie allerdings nicht. Stets hat er eine passende Erklärung, die vermutlich nie der vollen Wahrheit entspricht. So kann ich nichts dagegen tun und muss ihn stets ziehen lassen.“
„Denkst du, dass er etwas im Schilde führt? Hat er nicht kurz vor dem Überfall eine Reise zur Burg des Grafen unternommen? Soweit ich mich erinnere, hat er sich auch mindestens einmal mit dem Bruder des Grafen getroffen. Könnte Walram mit den jüngsten Ereignissen etwas zu schaffen haben?“
„Auszuschließen ist es nicht.“ Diese Überlegungen versetzten Degenar plötzlich in Schrecken. „Walram ist durchtrieben genug, um sich und die Gemeinschaft mit einem gottlosen Verbrechen wie Verrat zu besudeln. Sollte er tatsächlich daran beteiligt sein, so wird er gewiss genügend Vorkehrungen getroffen haben, damit man ihm nichts nachweisen kann. Er scheut keine Mittel, um seine Ziele zu erreichen!“
„Wir müssen äußerst vorsichtig sein!“
„Deshalb ist es auch ratsam, dem Knaben einen anderen Namen zu geben.“
Sowohl Abt als auch Kellermeister verfielen daraufhin ins Grübeln, um einen passenden Namen für den neuen Novizen zu finden. Während sie so im fahlen Kerzenschein dastanden, bemerkten sie nicht, wie sich die Augenlider des Jungen langsam öffneten.
Er blinzelte kurz, blieb aber weiterhin reglos liegen. Trotz der düsteren Umgebung schien er furchtlos zu sein.
Langsam begannen seine Augen umherzuwandern, bis sie schließlich auf dem nachdenklichen Abt haften blieben.
Rogar lag da und beobachtete den dunkel gekleideten Mann in der düsterkalten Umgebung. Es hatte den Anschein, als wolle der Knabe erst den Blick des Mannes auf sich ziehen, bevor er sich regen oder sprechen würde. Lange Zeit bemerkte Degenar nichts, so tief war er in Gedanken versunken.
Plötzlich hob der Abt ruckartig sein Haupt und schaute direkt in Rogars Augen. Mit einem freundlichen Lächeln griff er nach einem Wasserbecher und bot ihn wortlos dem Knaben an. Ganz langsam richtete sich Rogar nun etwas auf. Der Kellermeister kam ebenfalls zur Besinnung. Er stützte das geschwächte Kind, während der Abt ihm beim zaghaften Trinken half. Degenar lächelte nach wie vor, als er leise zu sprechen begann: „Unser junger Gast ist endlich erwacht. Ich grüße dich im Namen des Herrn. Habe keine Furcht, du befindest dich in einem Benediktinerkloster. Ich bin Degenar, der Abt dieser Gemeinschaft. Das hier ist mein Freund Ivo.“
Der Blick des Jungen blieb starr auf Degenar gerichtet. Man hätte glauben können, der Knabe habe die Worte nicht vernommen. Degenar sprach jedoch ruhig weiter: „Kannst du uns deinen Namen nennen? Weißt du, wie du heißt und woher du kommst? Wer sind deine Eltern?“
Ein leichtes Kopfschütteln war die einzige Antwort des Knaben. Zunächst war der Abt darüber enttäuscht, doch sollte das Kind sich tatsächlich an nichts mehr erinnern, würde das die Angelegenheit erleichtern. Ein Junge ohne dieses Wissen würde sich nicht selbst verraten können. Zuversichtlich sprach der Abt weiter.
„Aber irgendwie müssen wir dich doch ansprechen. Was hältst du von dem Namen Faolán? Gefällt er dir? Er stammt von einer fernen Insel der rauen, nördlichen See und bedeutet ‚kleiner Wolf.“
„Ja, der Name wäre wahrlich passend“, kommentierte Ivo mit einem verschmitzten Lächeln. Trotz dieser Bemerkung schien das Kind den Cellerar noch immer nicht wahrzunehmen. Nach wie vor blieben Rogars Augen einzig auf den Abt gerichtet. Der versuchte herauszufinden, ob sich der Junge vielleicht an sonst etwas erinnerte.
„Kannst du uns erzählen, was geschehen ist? Kannst du dich erinnern, wie du hergekommen bist, auf wessen Pferd du geritten bist? Wo sind deine Eltern?“
Die Fragen prasselten auf den Knaben nieder. Dabei veränderte sich sein Blick. Noch immer hielt er seine Augen auf den Abt gerichtet, schien den Mönch jedoch nicht mehr wahr zu nehmen. Sie wurden glasig und sahen etwas, was sich an einem fernen Ort abzuspielen schien.
Degenar erkannte schnell, dass der Junge in einer Art Erinnerung gefangen war und er ahnte, dass es keine gute war. Rogars Augen wurden feucht und Tränen begannen bald über die schmutzigen Wangen zu laufen. Um ihn wieder in die Gegenwart zu holen, ergriff Degenar sanft eine Hand des Kindes und sprach beruhigend: „Was dich auch bedrücken mag, du musst es uns nicht sagen, wenn du dazu nicht bereit bist. Keiner wird dich dazu zwingen. Doch willst du es eines Tages jemandem anvertrauen, werden Bruder Ivo und ich stets für dich da sein. Das verspreche ich.“
Ivo nickte eifrig, um dieses Angebot auch von seiner Seite zu bekräftigen und zum ersten Mal löste der Junge seine Augen kurz von Degenar, um den Cellerar anzuschauen. Doch nur für einen kurzen Augenblick. Dann richtete Rogar sein Augenmerk wieder auf Degenar. Es schien, als stünden die beiden in einem stillen Dialog.
Erneut ergriff der Abt das Wort. „Wenn es dir gefällt, so kannst du hier in unserem Kloster bleiben. Du kannst diesen neuen Namen, Faolán, annehmen und ein neues Leben beginnen. Als Novize werden wir dich unser Wissen und Können lehren. Solange du es wünschst, stehst du unter dreifachem Schutz: dem des Herrn, dieser Abtei und von uns beiden. Was sagst du zu diesem Angebot?“
Der Junge schwieg noch immer, doch seine Antwort fiel klar und unmissverständlich aus: Seine bisher kraftlose Hand drückte sanft die des Abtes. Degenar lächelte und nickte. Er hatte verstanden und seine Antwort war ebenso deutlich:
„So sei uns willkommen, Novize Faolán!“