Читать книгу Die Eiswolf-Saga / Die Eiswolf-Saga. Teil 2: Irrwege - Holger Weinbach - Страница 16

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Anno 962 – Neustatt

Als der Kellermeister seinem Gehilfen am nächsten Tag offenbarte, dass er in Zukunft an den Markttagen mit nach Neustatt fahren solle, war Faolán überrascht. Er äußerte sich zunächst nicht dazu und Bruder Ivo fragte sich, ob sein Plan ein Fehler war. Nachdem Faolán aber eine Nacht darüber geschlafen hatte, schien er am nächsten Morgen ein anderer Mensch zu sein. Er verspürte einen unbeschreiblichen Tatendrang und große Begierde, etwas Neues zu erleben. Der Vorschlag des Kellermeisters schien die Last der vergangenen Wochen hinwegzuheben. Die Aussicht, die Klostermauern hinter sich zu lassen, beschwingte ihn. Natürlich war er schon öfter außerhalb der Abtei gewesen, doch nur zur Feld- oder Waldarbeit.

Faolán wusste es sehr zu schätzen, allein mit Bruder Ivo die Abtei verlassen zu dürfen. Es war nämlich nicht üblich, dass Mönche die Klostermauern hinter sich ließen. Einen Novizen ließ man unbeaufsichtigt schon gar nicht gehen. Die weltlichen Versuchungen des Fleisches und des Geistes seien außerhalb des Klosters einfach zu mächtig, als dass ihnen ein junger Novize widerstehen könne. So lautete zumindest die Begründung. Was damit genau gemeint war, wusste Faolán nicht. Aufgrund des Entsetzens, das einige Brüder zeigten, schloss Faolán allerdings, dass es dort draußen gefährlich sein musste.

So sehr sich die Mönche fürchteten und Faolán bedauerten, so stark betrachtete Drogo ihn mit Neid. Worauf er neidisch war, konnte Faolán nicht sagen, denn er hatte ja keine Ahnung vom Leben jenseits der Klostermauern. Drogo hingegen kannte es und erwartete nichts sehnlicher als den Tag seiner Rückkehr zur Grafenburg. Nach all den Wochen des überheblichen Siegerlächelns verschwand das Grinsen auf Drogos Gesicht jetzt. Seine Laune wurde zusehends schlechter, während sich Faoláns Stimmung erkennbar hob. Bruder Ivo beobachtete diese Entwicklung zufrieden. Jetzt musste Faolán nur noch beweisen, dass er der Herausforderung auch gewachsen war.

Und dann war es endlich soweit. Der Tag war gekommen, an dem Faolán gemeinsam mit dem Kellermeister das Kloster verlassen würde, um den nahegelegenen Markt in Neustatt aufzusuchen. Lange Zeit war Neustatt nur eine große Siedlung gewesen. Die Nähe zur Grafenburg führte dazu, dass sie langsam aufblühte und vor einigen Jahren hatte sie das Marktrecht erhalten. ‚Nova Civitas wurde diese junge Stadt seither urkundlich benannt, doch im Volksmund hatte sich der umgänglichere Name Neustatt eingebürgert. Seit dem Erhalt des Marktprivilegs war auch der Handel für die Benediktiner einfacher geworden. Der Weg nach Neustatt war erheblich kürzer als der zu den bisherigen Märkten. Deshalb wurden häufiger Fahrten dorthin unternommen.

Auf dem Klosterhof ging es vor einer Fahrt zum Markt sehr geschäftig zu. Schon vor Sonnenaufgang begann Faolán eifrig, die Kisten, Säcke und Körbe auf den Wagen zu laden. Er stapelte sie behutsam und sicherte sie sorgfältig mit Seilen und Riemen. Viele Waren aus klostereigener Herstellung wurden auf dem Markt zu Neustatt angeboten. Das meiste davon war in den langen Wintermonaten gefertigt worden oder in den Lagern gereift, wie Ziegenkäse oder Äpfel und Nüsse. In der Regel wurden diese Güter auf dem Markt gegen andere eingetauscht, die das Kloster nicht herstellen konnte. Das betraf vor allem die Tusche für das Skriptorium, aber auch die wertvollen Farben für die kunstvollen Illustrationen der Bücher.

Bruder Ivo bewies Geschick im Handel, so dass der Abt mit seinen Geschäften stets zufrieden war und es im Kloster niemals an den notwendigen Materialien mangelte. Heute sollte nun auch Faolán erlernen, wie man dies bewerkstelligte, und es versprach, ein aufregender Tag zu werden.

Bald war alles für die Abfahrt vorbereitet. Mit Bruder Ivo wartete Faolán nun auf den Abt und seinen Segen: „Dominus custodiet te Dominus protectio tua super manum dexteram tuam per diem sol non percutiet te neque luna per noctem. DerHerr behüte euch vor allem Übel, er behüte eure Seelen. Möge er euren Weg erleuchten und euch bei all euren Taten beschützen. Amen.“

Nachdem der Abt die Hände wieder gesenkt hatte, sprach er zu den beiden Wartenden: „Passt auf euch auf. In Neustatt werdet ihr mit vielen Versuchungen konfrontiert werden. Bleibt standhaft! Ivo, achte auf deinen Gehilfen, dass er nicht abseits geht. Haltet stets beide Augen offen.“

„Sei unbesorgt“, beruhigte Ivo seinen Freund. Er verstand die Befürchtungen des Abtes. Er hatte nicht umsonst all seine Überzeugungskraft aufbringen müssen, um dessen Zustimmung zu diesem Vorhaben zu erhalten. Erst der Hinweis, dass er als Cellerar langsam zu alt sei, um die Marktgänge allein zu bewältigen und er einen Gehilfen in Neustatt benötige, hatte den Abt überzeugt.

Faolán wusste nichts von diesen Diskussionen und Sorgen. Entsprechend merkwürdig klangen auch die Abschiedsworte in seinen Ohren. Mit gemischten Gefühlen saß er auf dem Wagen und konnte die Abfahrt kaum erwarten.

Als sie schließlich das Klostertor hinter sich gelassen hatten und den Weg nach Neustatt einschlugen, betrachtete Faolán die Welt außerhalb der Abtei mit neuen Augen. Der Wald sah vom hohen Wagen gänzlich anders aus als sonst. Er konnte tiefer in die Baumreihen blicken und weiter vorausschauen. Sogar die Luft roch anders und es schien, als atme er das reine Leben ein.

Auf diese Weise beeindruckt und abgelenkt, hatte Faolán Mühe, sich auf die Worte des Kellermeisters zu konzentrieren. Der Mönch gab seinem Gehilfen zunächst eine theoretische Einführung in das Markttreiben und versuchte dann seinem Schützling darzulegen, auf was er zu achten hatte und was von ihm erwartete wurde. Für all diese Belehrungen hatte Faolán anfänglich nur ein halbes Ohr, denn es dauerte lange, ehe er sich an all dem Neuen sattgesehen hatte. Erst nach einiger Zeit lauschte er aufmerksam den Ausführungen des Mönches.

Schließlich erreichten sie den Waldrand und fuhren hinaus auf freies, leicht hügeliges Land. Der weite Blick über Wiesen und Felder zog Faolán erneut in seinen Bann, und auch der Kellermeister schwieg jetzt. Es dauerte nicht mehr lange, und es tauchten unzählige Dächer zwischen den sanften Hügeln auf: Neustatt. Schon von hier konnte Faolán eine rote Flagge ausmachen, die für alle gut erkennbar das heutige Markttreiben kundtat, wie Ivo erklärte.

Faolán hatte noch nie eine größere Ansammlung an Gebäuden gesehen als die des Benediktinerklosters. Die Abtei war eine klar strukturierte Anlage. Keine ihrer Bauten war ohne sorgfältige Planung erstellt worden und sie standen meist im rechten Winkel zueinander.

Eine solche Planung konnte Faolán für Neustatt auf den ersten Blick nicht erkennen. Die Dächer zeigten in alle Richtungen und waren von so unterschiedlicher Gestalt, dass sie miteinander zu konkurrieren schienen. Je näher sie der Stadt kamen, umso mehr erkannte Faolán einen weiteren Unterschied zur Abtei: Umtriebigkeit! So viele Mönche auch im Kloster leben mochten, es ging dort stets beschaulich und ruhig zu. In Neustatt war dies nicht der Fall. Bereits ein gutes Stück vor den Toren der Siedlung herrschte lautstarke Geschäftigkeit, dass es Faolán etwas unbehaglich wurde. Dennoch beobachtete er das Treiben fasziniert.

Unmittelbar vor der Stadt passierten sie die Baustelle einer neuen Umwehrungsanlage. Der alte Schutzwall aus hohen Palisaden sollte ersetzt werden, gewährte aber noch so lange Schutz, bis die steinerne Stadtmauer geschlossen sein würde. Diese mächtige Wehranlage wurde mit einem großzügigen Abstand zum Palisadenwall errichtet, damit die Stadt ausreichend Platz für weiteres Wachstum hatte. Faolán konnte sich nicht vorstellen, dass diese große Freifläche zwischen den beiden Wällen eines Tages mit Häusern, Straßen und Plätzen gefüllt sein würde.

Große, hölzerne Gerüste ragten etliche Ellen in die Höhe und erstreckten sich entlang beider Seiten des Walls. In unmittelbarer Nähe der Baustelle befanden sich die vielen Bauhütten und Verschläge der Handwerker, die sich wie ein kleines Dorf gruppierten. Steinmetze, Maurer und Zimmerleute waren schon weit vorangekommen und der ringförmige Wall umschloss bereits etwa die Hälfte der aufblühenden Siedlung. Die langwierige Arbeit hatte bereits mehrere Jahre in Anspruch genommen, und sicherlich würden noch einige Jahre vergehen, bevor das neue Bollwerk vollendet wäre.

Der Klosterwagen fuhr durch eine breite Öffnung in der Wehranlage, die später einmal das gewaltige Haupttor aufnehmen sollte, und befand sich nun im Bereich zwischen zukünftiger Stadtmauer und altem Palisadenwall. Hier waren während der Bauarbeiten Verhältnisse entstanden, die man weder als städtisch noch als ländlich bezeichnen konnte. Entlang der Straße, die geradewegs in das Zentrum führte, waren einfache Unterkünfte aller Arten errichtet worden. Einige bestanden nur aus Pfählen, Stangen und Seilen, über die man große Tücher geworfen hatte. Es gab aber auch Holzverschläge mit einem Vorbau aus Leinen, in deren Schatten sich düstere Gestalten herumtrieben. Die Vielfältigkeit der Behausungen reichte bis hin zu aufwendigen Holzgebäuden, die sich in der Nähe des Palisadentores befanden und schon beinahe wie zur Siedlung gehörende Häuser wirkten. Zwischen und hinter all diesen Baracken, Hütten und Verschlägen wurden zahlreiche Feuerstellen unterhalten. Viele kleine Rauchsäulen stiegen zum Himmel empor und verloren sich schon bald in der Luft, die beißend nach Qualm roch.

Faolán betrachtete das Treiben neugierig. Je näher sie dem Tor kamen, umso dichter wurde auch der Menschenstrom, der es passieren wollte. Einige Händler und Bauern boten bereits vor dem Tor ihre Waren feil, um so dem Wegezoll zu entgehen, obwohl dies vom Grafen untersagt war. Das Verbot gegen den Handel schreckte sie allerdings nicht ab, selbst wenn sie vor dem Wall den Schutz des allgemein geltenden Marktfriedens nicht genießen konnten. Güter wechselten hier ebenso den Besitzer, meist in einem der düsteren Verschläge, fernab von den wachsamen Augen der Soldaten des Landesfürsten. Vor dem Tor beobachtete Faolán ein Gedränge vieler mürrischer Menschen. Einige von ihnen gaben ihren Unmut lauthals preis und stritten mit einem jeden, der sich in ihre Angelegenheiten mischte.

Die Gerüche der Feuer mischten sich mit Düften von Garküchen, sowie dem Gestank tierischer und menschlicher Ausdünstungen und Ausscheidungen. Es war eine Übelkeit erregende Mischung und Faolán bedeckte seine Nase mit seinem Ärmel, um sich vor dem ekelhaften Gestank zu schützen.

Bauern und Leibeigene waren ebenso zwischen den Verschlägen zu sehen, wie Frauen mit bunten Tüchern und merkwürdig grell bemalten Gesichtern, aber auch Handwerker, Gesinde und Krieger. Kinder wie Erwachsene schlugen ihr Wasser neben den Feuerstellen oder Hütten ab, wo andere gerade ihre Mahlzeiten aßen. Hunde paarten sich, während eine Frau ein wild um sich schlagendes, geköpftes Huhn zu bändigen versuchte. Ein Rind ließ seinen Kot fallen und einige Knaben feixten darüber. Sie ärgerten ein vorbeigehendes Mädchen, indem sie die noch warme, dampfende Masse mit einem Ast in ihre Richtung schleuderten. Faolán sog all diese Eindrücke in sich auf.

Unmittelbar vor dem Tor wurde der Klosterwagen von einem der Bewaffneten gestoppt, die zu beiden Seiten des Durchgangs den Strom der Marktbesucher überwachten. „Das sind die Recken des Grafen“, erklärte Bruder Ivo etwas gereizt, und Faolán beobachtete, wie der Kellermeister kurz in seine Geldkatze blickte, eine Münze hervorholte und sie missbilligend betrachtete. „Oder sollte ich sie besser die Halsabschneider des Grafen nennen?“

Der Benediktiner verstummte, denn direkt neben ihm stand jetzt einer von Ruriks Kriegern. Schwer bewaffnet sah er furchterregend aus, und Faolán konnte sich gut vorstellen, dass diese Männer den Markt zu schützen wussten. Der Kellermeister murmelte dem Mann etwas zu und ließ seine Münze in die nach oben gestreckte Hand des Recken fallen. Daraufhin gab der Krieger ein Zeichen und der Wagen durfte seinen Weg in das Innere der Stadt fortsetzen.

Nachdem sie sich außer Hörweite der Wachen befanden, erklärte der Mönch seinem Gehilfen weiter: „Seit der Erteilung der Marktrechte ist der Wegezoll auf ein Mehrfaches der ursprünglichen Summe angewachsen. Für viele der armen Bauern ist er zu hoch, um ihre Ware auf dem Markt sicher anbieten zu können. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als ihre Güter vor dem Tor zu verkaufen. Dass sie dabei meist betrogen werden, ist ein Nachteil, den sie in Kauf nehmen müssen. Beutelschneider und Betrüger tummeln sich dort zuhauf. Die anderen aber, die sich den Wegezoll noch leisten können, versuchen die überhöhte Abgabe durch höhere Preise auszugleichen. Du wirst dich sicherlich fragen, ob die Erhöhung des Wegezolls eine sinnvolle Idee des Grafen war. Offensichtlich, denn es füllt seine Börse!“

Der Cellerar legte eine nachdenkliche Pause ein, fuhr dann aber leise fort: „Dieser Rurik begründet die Abgabenhöhe mit der Sicherheit durch die Markthüter und den Kosten für den Bau dieses gigantischen Steinwalls, der in Zukunft einen noch viel besseren Schutz für die gesamte Stadt bieten wird. Er behauptet zwar, dass der Großteil dieser Kosten aus seinen Truhen bezahlt würde. Doch Rurik ist gerissen genug, um sich das Geld wieder vom Volk durch überhöhte Abgaben zurück zu holen.“

Beeindruckt von diesen weltlichen Belangen betrachtete Faolán das Treiben in den Straßen der Siedlung. Hatte er zuvor geglaubt, die Ausmaße Neustatts bereits begriffen zu haben, so wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Vor ihm erstreckte sich ein wirres Netz aus Straßen und Gassen. Dicht an dicht reihten sich unzählige kleine Häuser zu beiden Seiten. Die größeren Straßen waren zwar meist breit genug, um zwei Karren gleichzeitig Platz zu bieten, doch waren heute so viele Menschen unterwegs, dass sie sich gegenseitig nur noch in gemächlichem Tempo voranschoben.

Der Klosterwagen befand sich inmitten dieser trägen Masse und kam gerade so schnell voran, wie es der Pulk gestattete. Die Straßen selbst bestanden aus bloßer, gestampfter Erde. Es gab die eine oder andere schlammige Stelle, hervorgerufen durch die Ausscheidungen von Menschen und Tieren. Ein abscheulicher Gestank füllte die ganze Stadt und sammelte sich unerträglich in ihrer Mitte, am Marktplatz.

Je näher sie diesem kamen, umso dichter drängten sich die Gebäude aneinander. Jeder Flecken Erde schien in Beschlag genommen zu sein und es gab Bauten, die sogar ein zweites Stockwerk besaßen. Es gab keinen Hinweis mehr auf die einstigen Dorfwiesen innerhalb der Palisaden, die man früher als gemeinsamen Weidegrund genutzt hatte. Nur noch vereinzelt fand man kleinere Plätze mit einem Baum. Faolán wunderte es deshalb nicht mehr, dass die neue Wehranlage mit einem großen Abstand zum alten Palisadenwall errichtet wurde.

Neustatt schien wie ein übervoller Sack, kurz vor dem Bersten.

Den Kellermeister schien all dies nicht zu beeindrucken. Er lenkte den Wagen mit stoischer Ruhe durch die Menge. Auf dem Marktplatz waren Lärm und Gestank am penetrantesten. Teilweise wurde der Unrat auf dem Boden durch verteiltes Stroh gebunden, doch oft gab es nichts, was dem üblen Geruch Einhalt gebot. Die meisten hatten sich wohl an diese Umstände gewöhnt und schienen den Gestank nicht einmal zu bemerken. Unweigerlich wurde Faolán an das Aborthaus des Klosters erinnert.

Wortlos und ruhig stieg Bruder Ivo vom Wagen und führte das Pferd den Rest des Weges am Rande des Marktplatzes entlang, bis sie an eine noch im Bau befindliche Kirche gelangten. Wie schon bei der Wehranlage bewunderte Faolán die Gerüste, die an den hohen Mauern des künftigen Gotteshauses in schwindelerregende Höhen gen Himmel strebten.

In unmittelbarer Nähe gab es noch einen verfügbaren Platz vor einem der wenigen Bäume der Stadt, einer großen, alten Linde. Diese Stelle war genau passend für den Klosterwagen. Während der Mönch das Pferd abschirrte und versorgte, begann Faolán an dem Karren ein Vordach aus Tuch und Stangen aufzubauen. Schnell war das Linnen gespannt und warf einen kühlenden Schatten an diesem heißen Tag. Danach entluden Mönch und Novize den Wagen. Körbe und Kisten wurden aufgereiht und Säcke geöffnet, um jedem Marktgänger einen Blick auf das Angebot zu ermöglichen.

Der Verkauf begann schleppend. Zwar erkundigten sich immer wieder Interessenten nach Preisen und Qualität, doch zu einem Handschlag kam es nur selten. Früh tauchten die Jünglinge auf, die in Gruppen über den Markt streiften und danach trachteten, ein Stück Obst oder etwas Brot zu stehlen. Ivo hatte Faolán darauf vorbereitet und so behielt er sie stets im Auge.

Mit der Zeit wickelte Bruder Ivo immer mehr Verkäufe ab, wobei auf beiden Seiten kräftig gefeilscht wurde. Wenn es weniger geschäftig war, erklärte der Mönch Faolán die besonderen Einzelheiten eines jeden Handels.

Am wichtigsten war es, höchste Konzentration bei der Bezahlung walten zu lassen, ganz gleich ob es sich dabei um Naturalien oder, in seltenen Fällen, auch um Münzen handelte. Bei der Bezahlung nutzte nämlich so mancher Schurke das Geschick seiner Finger, um den Handelspartner zu betrügen.

Um die Mittagszeit ließ die Geschäftigkeit auf dem Markt etwas nach. Bruder Ivo fand es nun an der Zeit, seinen Schützling für eine Weile in das Treiben zu schicken, während er beim Wagen bleiben wollte. Aufgeregt nahm Faolán das Angebot an.

Zunächst bahnte er sich noch etwas zögerlich seinen Weg zwischen Buden, Wagen und Menschen hindurch. Oft blieb er interessiert an Ständen oder Karren stehen, bestaunte die Waren, sog Gerüche von Kräutern und Gewürzen ein, die gelegentlich den penetranten Gestank überflügelten. Ein Schmied erregte viel Aufsehen, als er sich am fauligen Zahn einer Alten zu schaffen machte. Faolán wohnte dem blutigen Spektakel bei, bis Applaus beim Vorzeigen des erfolgreich gezogenen Übeltäters erklang. Danach schlenderte er neugierig weiter über den Markt und beobachtete die Menschen. Manch ein Händler versuchte, selbst das etwas faulige Obst einem unachtsamen Käufer unterzujubeln. Wurde es vom Kunden bemerkt, stellten es die Kaufleute als ein Versehen hin und beschwichtigten den Betrogenen schnell mit einer kostenlosen Dreingabe. Denn eines wollte keiner der Händler riskieren: Die Aufmerksamkeit der Markthüter zu erregen und dann zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Auf dem gesamten Marktplatz war einzig den Recken des Grafen das Tragen von Waffen gestattet. Mit wachsamen und strengen Blicken schritten sie durch das Gedränge. Meist waren sie zu zweit und marschierten einher, als wäre der Markt ihr Eigen. Mit dieser Einstellung nahmen sie sich dreist das Recht heraus, sich an einem Stand ihrer Wahl zu bedienen. Die Männer deklarierten das Entwendete als zusätzlich zu entrichtenden Marktzoll oder als verdorbenes Gut, das eingezogen werden müsse, um Betrügereien zu vermeiden.

Die Blicke der Opfer bekundeten Missfallen, doch nicht einer wagte, gegen diese Ungerechtigkeit aufzubegehren. Sie ließen es geschehen und beteten darum, nicht allzu schnell erneut Opfer dieser Willkür zu werden.

Immer wieder schnappte Faolán die eine oder andere Beschwerde über die Markthüter auf, die allerdings nur geflüstert wurde, dass er nie ausmachen konnte, wer sie geäußert hatte. Hier und da wurden auch die guten alten Zeiten vor Ruriks Herrschaft erwähnt. Unter dem alten Grafen, so hieß es, wäre alles besser gewesen, und mancher fragte sich, wie es wohl seinem Sohn ergangen sein mochte. Auf diese Frage hatte allerdings niemand eine Antwort und Faolán wusste nicht so recht, was er von diesen Reden halten sollte. Aber was kümmerten ihn die Belange um einen irdischen Fürsten? Schließlich war er in einem Kloster zu Hause. So ignorierte er mit der Zeit das Gerede um die Markthüter und setzte seinen Weg fort.

Nach einiger Zeit fiel Faolán etwas anderes auf. Er konnte nicht genau erkennen, was es war, denn es tauchte immer nur kurz am Rande seines Blickfeldes auf. Sobald er es näher in Augenschein nehmen wollte, war es auf sonderbare Weise wieder verschwunden, als wolle es sich ihm entziehen. Einzig eine Farbe konnte er ausmachen: ein bemerkenswertes Rot. Faolán versuchte, ihm zu folgen.

Trotz seiner Bemühungen, es zu finden, blieb er erfolglos. Nach einer Weile beschloss er, zu Bruder Ivo zurückzukehren. Doch plötzlich erschien dieses Rot direkt vor seiner Nase. Erst jetzt konnte der Novize feststellen, dass es sich dabei um den zerzausten, kurzhaarigen, roten Schopf eines Jungen handelte, der etwa in seinem Alter sein mochte.

Faolán blieb wie angewurzelt stehen, denn er wäre beinahe mit diesem Jungen zusammengestoßen, so plötzlich war er vor ihm aufgetaucht. Die unglaubliche Farbe des Haares zog ihn in seinen Bann. Ein solches Rot hatte er noch nie gesehen. Mit jeder Bewegung des Kopfes schimmerte das Haar in einer anderen Nuance. Die Sonnenstrahlen erweckten es regelrecht zum Leben. Erschien das Haar eben noch als dunkles Orange, so besaß es im nächsten Augenblick schon die Farbe von Kastanien, nur um kurz darauf wie Feuer zu lodern. Fasziniert betrachte Faolán regungslos dieses einmalige Farbenspiel.

Erst als er eine Stimme vernahm, die ihn ansprach, fand er in die Wirklichkeit zurück: „Wenn du nicht willst, dass alle Welt sehen kann, was sie dir im Kloster das letzte Mal zu essen gegeben haben, solltest du mich mit geschlossenem Mund weiter angaffen.“

Langsam schloss sich der Mund des Novizen. Weshalb sich Faolán dabei wie ein Narr vorkam, verstand er ebenso wenig wie die Hitze, die in ihm aufstieg. Der warme Tonfall in der Stimme verriet ihm, dass es sich bei dem vermeintlichen Jungen in Wahrheit um ein Mädchen handelte, obwohl die kurz geschorenen Haare, das geflickte Hemd, die weite Hose sowie die freche Körperhaltung eigentlich auf einen Knaben von kleinem Wuchs hingedeutet hatten.

Faolán erwiderte den Blick. Wie bei dem roten Haar schien es ihm unmöglich, den Augen eine eindeutige Farbe zuzuordnen. Sie glichen einem dunklen Brunnen, dessen tiefes Wasser von Grau zu Grün wechselte. Je länger der Novize in diese Tiefe blickte, umso schwerer fiel es ihm, sich ihr zu entziehen. Als hätte jemand einen Zauber über Faolán ausgesprochen, starrte er gebannt in das Schwarz der großen Pupillen. Wer war dieses Mädchen, das solch eine merkwürdige Macht über ihn besaß?

Der Rotschopf ließ ihm keine Zeit, darüber Klarheit zu erlangen. Genüsslich biss das Mädchen mit einem frechen Grinsen in einen Apfel, dass der Saft in Faoláns Gesicht spritzte. Er war sich sicher, dass sie das Obst nicht rechtmäßig erworben hatte, ärmlich wie sie aussah. Sie kaute das Diebesgut mit halboffenem Munde und grinste dabei unentwegt. Fragend neigte sie den Kopf zur Seite.

„Dein Mönch wartet sicherlich schon auf dich. Solltest du hier noch Wurzeln schlagen, so wird er eine Axt erstehen müssen, um dich wieder mit in euer Kloster nehmen zu können.“

Obwohl Faolán darauf etwas zu erwidern versuchte, fand er keine Worte. Das Mädchen erwartete wohl auch keine Antwort, nickte einmal kurz zum Gruß und machte sich davon. Sie schlug zwei, drei flinke Haken und war ebenso plötzlich verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Das rote Haar und die abgrundtiefen Augen waren mit einem Mal verloren und Faolán schien es, als hätten sie alle Farben dieser Welt mit sich genommen.

Verwirrt schüttelte der Novize den Kopf, als wolle er die Farben des Lebens wieder zurückholen und zugleich das Mädchen leugnen. Geistesabwesend wischte er sich den Saft des Apfels aus dem Gesicht. Das verschaffte ihm Gewissheit: Sie war kein Trugbild gewesen, dem er erlegen war. Langsam holten die Menschen Faolán wieder in die Wirklichkeit zurück, und der Lärm des Marktes füllte seinen Schädel mit einer Wucht, die ihn taumeln ließ. Der grobe Stoß eines Markthüters setzte Faolán schließlich wieder in Bewegung, dass er leicht benommen zum Klosterstand zurücklief.

Dort fand er den Kellermeister aufgebracht und hitzig vor. Als der Mönch seinen Gehilfen erblickte, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. „Wenn ich diesen Rotschopf erwische! Dieser Bengel hat doch tatsächlich einen unserer schönsten Äpfel gestohlen! Hätte ich mich doch nur nicht ablenken lassen … Hast du etwas gesehen?“

Faolán überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. Natürlich hatte er nichts dergleichen beobachtet, ahnte aber wohl, wen der Cellerar des Diebstahls bezichtigte. Er spürte, wie sich ein verräterisches Schmunzeln auf seine Lippen schlich und versuchte, es zu unterdrücken.

Noch bevor der Cellerar weitersprechen konnte, erschienen zwei der berüchtigten Markthüter in der Nähe des Klosterwagens. Bruder Ivo hielt es für angebracht, kein weiteres Aufsehen zu erregen. Schweigsam folgte er den Recken mit den Augen, während er still ein Stoßgebet gen Himmel sandte.

Doch die Bewaffneten blieben vor dem Wagen stehen. Ivo richtete sich auf und trat schützend vor seinen Gehilfen. Gespielt höflich sprach er die Krieger an: „Wie kann ich den Herren behilflich sein?“

Die Frage wurde ignoriert. Die Blicke der Markthüter überflogen die angebotenen Güter, schienen jedoch nichts zu ihrer Zufriedenheit zu finden. Schließlich zog einer der beiden seinen Dolch, stach einmal in das Apfelfass und warf die Beute seinem Kameraden zu. Dann stach er noch ein zweites Mal hinein. Kritisch prüfend hielt er die Frucht vor seine Augen und drehte sie langsam. Ivo wurde ungehalten und versuchte etwas zu sagen, fand jedoch keine Worte.

Der Recke mit dem Dolch nickte mit dem Kopf und schaute mit einem zufriedenen, spöttischen Grinsen auf den sprachlosen Mönch herab. „Beruhig’ dich wieder und betrachte es als eine Kontrolle.“

Diese Frechheit brachte Ivo wieder zum Sprechen. „Und was ist, wenn ich es als Diebstahl bezeichne?“

„Vorsicht, Mönchlein!“ Die Klinge mit dem Apfel neigte sich nach vorne und tippte bedrohlich gegen Ivos Kinn. „Achte auf deine Worte. Achte vor allem darauf, an wen du sie richtest. Sie könnten nur allzu leicht als Anklage missverstanden werden.“

Die Drohung beeindruckte den Cellerar nicht im Geringsten. „Was heißt hier missverstanden? Vor dem Antlitz des Herrn gibt es in dieser Angelegenheit nichts misszuverstehen!“

„Es ist aber unser irdischer Herr, der über diesen Markt herrscht und nicht dein himmlischer. Gib also Acht und hoffe, dass uns deine Äpfel schmecken. Sollten sie verdorben oder zu sauer sein, werde ich das ganze Fass vom Markt entfernen lassen und euch gleich mit. Was machst du dann?“

„Ihr würdet es nicht wagen …“, hauchte Ivo nahezu tonlos.

„Glaubst du tatsächlich, Mönchlein?“

„Der Herr wird Euch für diese Dreistigkeit bestrafen, seid Euch dessen gewiss!“

Der Bewaffnete kniff die Augen zusammen und lehnte sich leicht nach vorne. Der säuerliche, nach Wein stinkende Atem schlug dem Benediktiner ins Gesicht, dass er am liebsten zurückgewichen wäre. Doch Ivo hielt stand, während er die ruhigen Worte des Recken vernahm:

„Deine Drohungen versetzen vielleicht einen gottesfürchtigen Mann in Angst und Schrecken. Vielleicht würde er sogar vor Ehrfurcht auf die Erde fallen und sich wie ein Wurm im Staub winden. Doch ist dir schon einmal in den Sinn gekommen, dass es auch Männer gibt, die nicht gleich demütig auf die Knie sinken, sobald ein Mönch Gott oder Herr ruft? Was glaubst du, welche Art von Mann gerade vor dir steht?“

Ivo unterdrückte die Antwort, die ihm ohne Zweifel auf der Zunge lag. Der Recke schien zufrieden. „Genau! Du scheinst verstanden zu haben, Mönchlein.“

Er hob die Klinge mit dem Apfel von Ivos Kinn und biss dann mit seinen faulen Zähnen ein großes Stück von der Frucht. Der Saft troff beim langsamen Kauen aus dem halb offenen Mund und fiel vom unrasierten Kinn vor Ivos Füßen auf den Boden. Nachdem der Krieger den Brocken hinabgewürgt hatte, grinste er dem Cellerar ins Gesicht.

„Glück gehabt, scheint in Ordnung zu sein.“

Beide Krieger stimmten ein schallendes Gelächter an, ließen Mönch und Novizen stehen, und zogen kauend weiter. Mitfühlende Blicke der benachbarten Händler ruhten auf den Geschädigten. Sie wussten, sie könnten bald die Nächsten sein. Bruder Ivo kochte vor Zorn. Sobald die beiden Markthüter verschwunden waren, begann er wutentbrannt den Klosterwagen zu packen.

Mit der Zeit beruhigte sich der Cellerar etwas und er begann mit brodelndem Unterton zu sprechen: „Diese Unverfrorenheit, diese lästerliche Dreistigkeit! Meist lassen sie mich in Ruhe, denn in der Regel haben sie großen Respekt vor einem Diener des Herrn. Diese beiden habe ich allerdings noch nie gesehen. Sie sind neu hier. Gnade uns Gott, wenn sie uns häufiger aufsuchen.“

„Ist es nicht die Aufgabe der Markthüter, solche Übergriffe zu verhindern?“, fragte Faolán, der heute mehrfach ähnliches Verhalten beobachtet hatte.

„Natürlich ist es das! Doch sie scheren sich nicht darum. Stattdessen nutzen sie ihre Macht schamlos aus. Manche von ihnen mehr, manche weniger. Doch ganz gleich was und wie viel sie nehmen, es ist Diebstahl. Die meisten der Händler haben sich mit dieser Tatsache inzwischen abgefunden, und auch mir sind die Hände gebunden.“

„Warum hindert der Graf seine Männer nicht daran, solche Übergriffen zu begehen?“

„Offensichtlich hat er andere Interessen. Ich bin mir sicher, dass er über die Vorkommnisse sehr wohl Bescheid weiß. Da er aber nichts dagegen unternimmt, wird er sie wohl billigen.“

„Weshalb tut er das?“

„Es entspricht seinem Charakter. Er ist rau und grob, und mit Männern seines Schlages hält er den Markt in starkem Griff. So weiß jeder Händler und Marktgänger, wer hier das Sagen hat. Der gesamte Handel wird auf diese Weise von Rurik kontrolliert, oder sagen wir besser unterjocht.“

Verbittert über seine eigene Ohnmacht wuchtete der Kellermeister einen Sack Rüben auf den Wagen und fuhr fort: „Lieber lasse ich mich von dem Rotschopf beklauen als von diesen Schurken. Auch wenn er nicht mehr die kindliche Unschuld besitzt, hat der Kleine es sicherlich nötiger. Diese beiden Recken hingegen leiden gewiss keine Not. Sie sollten lieber den Herrn wegen des Diebstahls und ihrer Blasphemie um Gnade anflehen.“

Als der Mönch das rothaarige Mädchen erwähnte, zuckte Faolán zusammen. Bruder Ivo hielt den Dieb nach wie vor für einen Jungen. Instinktiv verheimlichte Faolán, dass der Cellerar sich irrte. Er wunderte sich zwar selbst darüber, faltete jedoch unbeirrt das große Leintuch zusammen.

So endete Faoláns erster Markttag. Langsam fuhr der Klosterwagen wieder durch die Straßen, passierte beide Wehranlagen und steuerte auf den Wald zu. Der Novize war überrascht, wie wohltuend die Ruhe des Waldes war. Auch der Cellerar war ungewöhnlich schweigsam. In Gedanken haderte er noch immer mit Ruriks Männern. Erst gegen Ende der Rückfahrt begann der Mönch ein Gespräch.

„Heute hast du etwas sehr Wichtiges gelernt. Du erinnerst dich doch sicherlich daran, dass dich der Abt vor Versuchungen gewarnt hat. Einige von ihnen konntest du heute in Neustatt kennenlernen, ebenso wie du zahlreiche Menschen beobachten konntest, die ihnen hilflos erlegen waren.“

„War das heute ein gewöhnlicher Markttag?“

„Nicht unbedingt. Der Markt hat sich in den letzten Jahren verändert. Zu Beginn waren es nur ansässige Bauern und Handwerker, die ihre Waren anboten. Doch bereits im zweiten Jahr wurde der Markt durch fahrendes Volk größer. Der Gestank des Marktes zog aber auch allerlei Gesindel und Laster an, wie ein Haufen Dung die Fliegen. Es gab mehr und mehr Übergriffe dieser Schmeißfliegen, der Diebe, Beutelschneider oder Totschläger. Sie häuften sich in unerträglichem Maße. Die Schurken hatten nahezu freie Hand in ihrem Treiben.“

Bruder Ivo machte eine kleine Pause, als versuche er sich daran zu erinnern, dann fuhr er fort: „Heute erscheint mir dies frühere Treiben Teil eines gerissenen Planes zu sein. Rurik billigte es, bis das Volk laut nach dem Schutz des Marktfriedens rief. Erst dann griff er mit seinen Männern hart durch und sorgte schnell für Recht und Ordnung. Allerdings dachte Rurik danach nicht daran, die Zahl seiner Recken wieder zu reduzieren. Stattdessen ließ er die Krieger in Neustatt, und die begannen alsbald damit, ihre Macht auf dem Platz auszunutzen. Die Anwesenheit von Ruriks Männern war wiederum ein Vorwand, die Erhöhung der Abgaben zu rechtfertigen. Raffiniert ausgedacht …“

„Den Wegezoll?“, unterbrach Faolán den grübelnden Kellermeister.

„Nicht nur den Wegezoll, der für einen Markt allgemein üblich ist. Um den Marktfrieden zu gewähren, sind nun einmal Wachen notwendig. Ich kenne keinen Händler, der hierfür nicht bereitwillig einen Obolus entrichtet. Doch die Höhe dieses Zolls ist in Neustatt unverschämt hoch. Früher, zur Zeit des Grafen Farold, war selbst der kleinste Bauer in der Lage, diese Abgabe zu entrichten. Doch seit Rurik sich Graf nennen darf, sind die Abgaben stetig gestiegen und grenzen beinahe an Beutelschneiderei. Hinzu kommen noch die Übergriffe und Ungerechtigkeiten durch seine Männer, die so etwas eigentlich verhindern sollen. Zu Beginn hatten sich die Händler noch gegen diese Willkür zu wehren versucht, doch so manchem wurde eine Lehre erteilt, die er zeitlebens nicht vergessen wird.“

Mit einer Handbewegung deutete der Kellermeister das Abschneiden eines Ohres an und Faoláns Augen weiteten sich bei der Vorstellung solcher Gewalt. „Gibt es denn niemanden, der für Recht und Ordnung sorgen könnte?“

Bruder Ivo zögerte kurz.

„Natürlich gibt es jemanden, der dazu in der Lage wäre und wenn du tief genug in deinem Innern nach ihm suchst, wirst du ihn auch finden.“

Faolán runzelte nachdenklich die Stirn und suchte nach einem Namen. Doch es wollte ihm keiner einfallen. Der Mönch beobachtete seinen Gehilfen eine Weile, dann lenkte er kopfschüttelnd ein: „Ich sehe schon, der Markt hat dich zu sehr beeinflusst und für das Wesentliche im Herzen blind gemacht. Es gibt nur einen, der für die Gerechtigkeit aller sorgen kann und das ist der allmächtige Herr.“

Faolán war es unangenehm, die Antwort des Cellerars nicht selbst gefunden zu haben und sprach schnell weiter: „Ich meinte aber die weltliche Gerechtigkeit. Gibt es denn niemanden, der dieser Willkür Einhalt gebieten kann?“

Faolán betrachtete den Kellermeister, der mit einem Mal steif dasaß und überlegte, ehe er vorsichtig weitersprach. „Natürlich gibt es hierfür jemanden, der sich dieses Problems annehmen könnte. Doch nicht immer sind sich die Berufenen ihrer Aufgabe bewusst. Und so muss auch in diesem Falle derjenige erst noch seiner Bestimmung nahegebracht werden, ehe er sich ihr stellen kann.“

Mit einem seitlichen Blick auf Faoláns Gesicht prüfte Ivo, ob die Anspielung eine Reaktion ausgelöst hatte. Der Junge blieb jedoch regungslos. Er hatte nicht die geringste Ahnung, worauf der Mönch hinaus wollte. In Faoláns Augen konnte es nur ein Adliger oder der in diesem Jahr gekrönte Kaiser Otto selbst sein, der hier eingreifen müsste und er verstand nicht, weshalb sich diese Person ihrer Aufgabe nicht bewusst war. Schließlich war es die Pflicht des Adels, Fürsorge für das Land und ihre Untergebenen zu tragen.

Bevor Faolán diese Gedanken aussprechen konnte, wurde Bruder Ivo deutlicher: „Vieles liegt noch im Verborgenen. Nur der Herr weiß, wann die Berufung dieser Person ans Tageslicht kommen wird, damit sie für Gerechtigkeit sorgt. Wenn aber dieser Tag kommt, dann wird auch Ruriks Herrschaft enden. Eines Tages wird jemand seinen Platz einnehmen, und mit Sicherheit wird das nicht Drogo sein.“

„Weshalb nicht Drogo? Rurik ist der Graf und Drogo sein Erbe!“, stellte Faolán erstaunt fest.

„Ja, das ist er – noch!“ Ein wissendes Schmunzeln zeigte sich auf Ivos Lippen. Faolán begriff nicht ganz, was der Cellerar damit sagen wollte, der die komplizierten Begebenheiten zu erläutern begann: „Kaiser Otto hat Rurik offiziell zum Grafen ernannt. Das war notwendig, nachdem sein Bruder verstorben und dessen Sohn, der wahre Erbe der Grafschaft, verschollen blieb.“

Faoláns Neugier wuchs. „Was ist mit diesem Erben geschehen? Weshalb ist er verschollen? Ich habe die Leute auf dem Markt darüber munkeln gehört.“

Bruder Ivo musste jetzt genau aufpassen, dass er seinem Gehilfen nicht zu viel verriet, obwohl es ihm nach den heutigen Vorkommnissen regelrecht auf der Zunge brannte.

„Nun, du kennst wahrscheinlich die Geschichte um das Schicksal des Grafen Farold. Nach seinem Tod beim Überfall auf die Greifburg wäre sein Sohn Rogar der rechtmäßige Erbe gewesen. Doch der ist verschollen. Trotz aller Bemühungen wurde er nicht gefunden, weder tot noch lebendig. Damals war er ein kleiner Junge gewesen und einige wähnen ihn tot. Doch es gibt noch viele, die sich an Farold und seinen Sohn erinnern und insgeheim hoffen, er möge eines Tages auftauchen und sein Recht auf die Grafschaft einfordern. Obwohl Rurik zum Grafen ernannt wurde, könnten gewisse Umstände für das Ende seines Treibens sorgen.“

Faolán verstand nicht. „Ist es nach so langer Zeit nicht eher unwahrscheinlich, dass der Junge überhaupt noch lebt? Würde es denn nicht an ein Wunder grenzen, wenn eines Tages ein Mann erschiene und sich als rechtmäßiger Erben ausgäbe? Und wie könnte er das schon beweisen?“

„Wunder gibt es! Daran solltest gerade du nicht zweifeln. Doch was mit der Grafschaft dann geschehen würde, das vermag ich nicht zu sagen. Wahrscheinlich würde ein Streit über die rechtlichen Ansprüche ausbrechen und am Ende müsste der Kaiser entscheiden. Einfach wäre dies sicherlich nicht, denn wer einmal Macht innehat, der wird sie nicht freiwillig aus der Hand geben. Schon gar nicht Rurik. Allerdings gäbe es ein Beweisstück, das alle Zweifler zum Schweigen bringen könnte: Der Siegelring des Grafen, der mit dem Erben verschollen ist. Wer ihn dem Kaiser vorlegen kann, dürfte der rechtmäßige Erbe sein.“

Faolán dachte nach und nickte dann verständnisvoll. Der Mönch schien erleichtert zu sein, als habe er soeben ein großes Hindernis überwunden, ohne selbst Schaden genommen zu haben. Ivo wusste, wie gefährlich nahe die Erklärung der Wahrheit gekommen war und er hatte keine Ahnung, ob das Gespräch nicht doch Erinnerungen an seine Herkunft in Faolán hervorgerufen hatte.

Mit schlechtem Gewissen wegen seiner eigenen Redseligkeit dachte der Mönch an Degenars Ermahnung, er solle auf Faolán gut aufpassen. Dass Ivo selbst zu einer Gefahr für den Jungen werden könnte, hatte er dabei nicht in Betracht gezogen. Deshalb gelobte er in einem stillen Gebet Besserung.

Doch die Bedenken des Cellerars waren anscheinend unbegründet. Faolán war nicht daran interessiert, über die Belange des rechtmäßigen Grafen weitere Nachforschungen anzustellen. Am nächsten Tag ging er seinen Pflichten wie gewohnt nach, ohne die Angelegenheit ein weiteres Mal anzusprechen. Ivo war darüber sehr erleichtert, nicht zuletzt, weil sein Freund Degenar bei der Beichte wegen seiner Geschwätzigkeit mit Bußauflagen nicht gespart hatte.

Die beiden Mönche mussten sich stets vor Augen halten, dass die Wahrheit für Faolán erhebliche Gefahren in sich barg. Der Junge wäre seines Lebens nicht mehr sicher, selbst in den Hallen des Benediktinerklosters. Durch Faoláns Desinteresse lösten sich all diese Sorgen zunächst von selbst auf, und schon bald waren die Wogen zwischen dem Abt und dem Cellerar wieder geglättet.

* * *

Zwei Wochen später stand der nächste Marktgang an und der Kellermeister hatte keine Bedenken, den Jungen erneut mitzunehmen. Die neuen Erfahrungen hatten Faolán wieder zu dem Novizen werden lassen, der er vor dem Rattenbiss gewesen war. Lediglich die rote Narbe auf seiner linken Wange erinnerte noch an diesen Vorfall. Selbst Faolán dachte nicht mehr oft daran. Nur wenn er das Wundmal berührte, verfiel er kurzzeitig in eine düstere Nachdenklichkeit, die allerdings schnell wieder verflog.

Einen Tag vor dem nächsten Marktgang ließ der Abt Faolán zu sich rufen. Der Novize folgte diesem Ruf rasch, denn nach wie vor schätzte er es, ganz allein mit dem Klosteroberhaupt sein zu dürfen. Heute allerdings kam ihm Degenars Forderung ungelegen: Faolán steckte mitten in den Vorbereitungen für den morgigen Tag. Als er bei den Gemächern des Abtes ankam, klopfte er zaghaft an die Tür und wurde sofort hereingebeten. Unkonzentriert wartete er auf das erste Wort des Abtes, weil er in Gedanken bei den unzähligen Aufgaben weilte, die noch zu erledigen waren.

Als der Abt schließlich zu sprechen begann, überraschte er Faolán mit einer Frage: „Was hat dich in den vergangenen Tagen am meisten beschäftigt?“

„Der Markt, ehrwürdiger Abt!“, platzte Faolán ohne Zögern heraus. „Der Markt“, wiederholte er noch einmal, mit etwas gesenkter Stimme und einem schamvoll zu Boden gerichteten Blick.

Degenar überhörte den ungestümen Tonfall und fügte die nächste Frage an: „Was genau beschäftigte dich daran?“

Faolán musste nicht lange überlegen: „Mich beschäftigte die auf dem Markt herrschende Ungerechtigkeit. Damit meine ich die Markthüter, die immer wieder dreist die Leute betrügen und bestehlen! Deren Willkür war es, die mir nicht aus dem Kopf ging.“

Die Antwort überraschte den Abt sichtlich. Er hatte mit so manchem Gedanken gerechnet, doch nicht mit der Frage nach Recht oder Unrecht. Noch bevor Degenar darauf eingehen konnte, fuhr Faolán aufgebracht fort:

„‚Non furtum facies – du sollst nicht stehlen, lehrt uns die Heilige Schrift. Diese Schurken aber treten die Gebote des Herrn mit ihren schmutzigen Stiefeln. Sie bereichern sich an Händlern und Bauern, ohne Scham oder Reue zu zeigen.“

Der Abt versuchte seinen Novizen zu beruhigen. „Es waren doch nur ein paar Äpfel, die sie genommen haben. Statt mit den Männern zu hadern, solltest du dich besser in Vergebung üben. Wäre es nicht gottgefälliger, für das Seelenheil der Diebe zu beten, statt sich über sie zu ärgern und sich dadurch von den eigenen Pflichten ablenken zu lassen?“

„Aber es ist und bleibt ungerecht und gottlos!“, protestierte Faolán stürmisch. „Sie sind die Markthüter. Es ist ihre Pflicht dafür Sorge zu tragen, dass keine Missetat auf dem Markt geschieht. Doch statt das Recht zu vertreten, verkörpern sie selbst die reine Willkür. Man sollte sie einsperren, hinter Schloss und Riegel bringen und ihnen wahre Gerechtigkeit zuteil werden lassen. Gebete sind hier keine Hilfe mehr.“

Die letzten Worte rief Faolán wütend und entrüstet. Als er bemerkte wie laut er geworden war, senkte er beschämt sein Haupt. Der Abt ließ die Worte nachklingen und wartete ein wenig, bevor er erneut sprach. „Gebete sind immer eine Hilfe! Merke dir das! Weißt du denn genau, was Recht und Unrecht ist, wenn du schon so schnell darüber urteilst?“

Die Worte drangen in Faoláns hitziges Gemüt und ließen es schlagartig abkühlen. Er schämte sich jetzt wegen seiner Worte. „Entschuldigt mein Aufbrausen, ehrwürdiger Abt.“

„Noch ist niemandem Leid widerfahren, daher bedarf es keiner Entschuldigung. Doch bedenke dies: Würdest du ebenso hart urteilen, wenn bei gleichem Vergehen der Dieb ein Kind wäre, das lediglich seine Geschicklichkeit und die Unachtsamkeit der Anderen zu nutzen wüsste, um etwas Brot zu bekommen, für sich und seine hungrigen Geschwister? Würdest du bei gleichem Vergehen dieses Kind nicht eher an deine reich gedeckte Tafel bitten und ihm die Hälfte deines Brotes abgeben, statt es zu verurteilen?“

Faolán erkannte die Weisheit in den Worten des Abtes. In diesem Moment tauchte vor seinem geistigen Auge das freche Gesicht des rothaarigen Mädchens mit dem verschmitzten Lächeln auf, das ebenfalls einen Apfel bei Bruder Ivo gestohlen hatte. Er fragte sich, ob Degenar nur zufällig dieses Beispiel gewählt hatte oder ob er von diesem Diebstahl wusste? Zwei identische Vergehen, und Faolán wertete sie tatsächlich unterschiedlich.

„Ja, das würde ich, ehrwürdiger Abt“, gab Faolán schließlich zu, hütete sich allerdings davor, sein Wissen vom zweiten Diebstahl preiszugeben. Dann fragte er verwirrt: „Doch weshalb würde ich das tun?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete der Abt. „Letztlich gibt es nur einen, der wirkliches Recht zu sprechen vermag, und das ist der Allmächtige. Menschen fällt das schwer. Der Grat, auf dem man dabei wandelt, ist so schmal, dass es eine wahre Kunst ist, dabei nicht in die Abgründe der Ungerechtigkeit zu stürzen.“

„Und wer unter den Menschen beherrscht diese Kunst, die so schwer auszuüben ist?“

„In der Tat gibt es nur wenige Männer unter Gottes weitem Himmel, die solches Recht sprechen können. Von unserem Standpunkt aus betrachtet, kann man allerdings behaupten, dass der Heilige Vater in Rom, mit all der Unterstützung unseres Herrn, sicherlich den richtigen Weg beschreitet und wahres Recht spricht, sofern es notwendig ist. Bei den weltlichen Herren sieht es wiederum etwas anders aus. Die Zahl der Adligen ist zwar groß, doch ihre Reihen lichten sich, wenn man nach einem gerechten Mann sucht. Vor vielen Generationen allerdings gab es einen Kaiser, von dem man noch heute behauptet, er habe die Weisheit besessen, gerecht zu urteilen: Sein Name lautete Karl. Doch selbst er war nicht frei von Fehl und Irrtum. Karl hat aber Recht gesetzt und für seine Einhaltung im Reich gesorgt. Einst gehörten auch unsere Lande zu seinem Reich, doch das existiert nicht mehr.“

„Wenn dieser Mann so mächtig war, weshalb gibt es sein Reich nicht mehr?“

„Nachdem sich Karls Enkel nicht auf einen Herrscher einigen konnten, teilten sie das einst so große Reich der Franken nach altem Brauch in drei kleinere Königreiche. Unsere Gegend gehörte zum ostfränkischen Reich. Ein weiteres war das Reich der westlichen Franken und das dritte war das Reich Lothars.“

„Eiferte denn niemand dem Vorbild dieses Kaisers nach?“

„Natürlich, und es gab auch viele kleine Adlige, die das überlieferte Recht beizubehalten versuchten. Selbst heute gibt es sie noch. Die Mehrzahl der weltlichen Herren sehnt sich allerdings mehr nach persönlicher Macht als nach Gerechtigkeit. Sie erkennen schnell, dass man einfacher an diese Macht gelangen und sie behalten kann, wenn man nicht immer nach dem Recht handelt, sondern nach Vorteilen. Den eigenen Vorteilen und denen mächtigerer Männer, in deren Gunst sie stehen wollen.“

„Das bedeutet also, dass niemand die Missetaten der Markthüter in Neustatt ahnden wird!“

„So wird es sein“, stimmte der Abt dem Jungen zu. „In diesem Fall, wie auch in vielen anderen, herrscht das Recht des Stärkeren. Gerechtigkeit ist in unserer Grafschaft nicht immer gefragt und wird von vielen auch gar nicht gewollt.“

„Bedarf es dann nicht eines Grafen, der entschieden gegen diese mangelnde Gerechtigkeit vorgeht? Weshalb hat der Kaiser den ungerechten Rurik zum Grafen ernannt?“

„Selbst Kaiser Otto unterliegt gewissen Zwängen. Er benötigt tatkräftige Vasallen wie Rurik, um seine Feldzüge erfolgreich führen zu können. Deshalb hat er ihn zum Grafen ernannt.“

Faolán hatte verstanden und folgerte schließlich: „Der Nachfolger dieses Vasallen wird eines Tages Drogo sein! Der wird der waltenden Ungerechtigkeit mit Sicherheit keinen Riegel vorschieben. Im Gegenteil: Wahrscheinlich wird er sich inmitten der Schurken am wohlsten fühlen.“ Faolán war entsetzt. Er überlegte und raufte sich dabei das dunkle Haar. Schließlich sah er nur einen Lichtblick: „Hoffentlich lebt der rechtmäßige Erbe der Grafschaft und gibt sich eines Tages doch noch zu erkennen.“

Die Äußerung ließ Degenar aufhorchen. Schnell versuchte er Faolán abzulenken: „Diese Hoffnung teilen noch andere. Doch im Augenblick liegen die Dinge nun einmal anders. Zudem sind es weltliche Belange, die uns nicht unmittelbar betreffen. Innerhalb unseres Klosters herrscht ein gerechter Herr. Ihm sollen wir uns widmen, keinem anderen. Menschen hingegen sind niemals frei von Fehlern.“

Plötzlich stand Faolán auf und blickte trotzig drein. Er sammelte all seinen Mut und sprach schließlich aus, was ihm auf dem Herzen lag: „Wenn kein Mensch frei von Fehlern ist, schließt das auch den Heiligen Vater in Rom ein! Was ist dann mit seiner Rechtsprechung? Und was ist mit Jesus? Auch er war ein Mensch, wenn man es genau betrachtet. Was ist mit ihm?“

Nachdem Faolán dies ausgesprochen hatte, hob Abt Degenar mahnend den Zeigefinger. „Vorsicht, Faolán! Bei aller Liebe zur Kritik und einem wachen Verstand, du gehst zu weit. Jesus war sicherlich ein Mensch aus Fleisch und Blut, doch ein ganz außergewöhnlicher. Er ist der Sohn Gottes, unser Herr, der Menschengestalt angenommen hat, um die Menschheit von ihren Sünden zu erlösen. Hüte dich in Zukunft vor solchen Rückschlüssen, sie führen dich auf den Pfad der ewigen Verdammnis.“

Faolán kam wieder zur Besinnung. „Vergebt mir, ehrwürdiger Abt. Ich habe in Rage gesprochen. Das war falsch.“

Degenar ging auf die Entschuldigung nicht weiter ein. „Bei den Gedanken über Recht und Unrecht darfst du eines nicht vergessen: Obwohl uns Menschen ständig Fehler unterlaufen und widerfahren, unterstehen wir einem gerechten und auch barmherzigen Gott. Es ist nicht immer richtig, auf irdisches Recht und eine Bestrafung zu bestehen. Vielmehr sollten wir uns in Barmherzigkeit üben und Gnade walten lassen. Vergeben ist eine göttliche Tugend und nur wer nach ihr zu leben vermag, ist wahrlich gesegnet.“

Nachdenklich starrte Faolán vor sich hin. Der Abt war der Ansicht, dieses Thema genügend diskutiert zu haben: „Ich denke, du hast noch genug für den morgigen Tag vorzubereiten. Eile nun und denke über unser Gespräch nach. Beobachte morgen alles, doch urteile nicht zu schnell.“

Dann beugte sich der Abt vor und tat etwas, was er noch niemals zuvor in seinem Leben bei einem Novizen getan hatte: Er küsste Faolán sachte auf die Stirn. Er wusste nicht, weshalb er es tat, sondern gab nur einem überwältigenden Gefühl nach. Ein gewisser Stolz lag darin. Stolz, dass sich unter seinem Einfluss ein kleiner Knabe, den er vor vielen Jahren schützend in das Kloster aufgenommen hatte, zu einem aufgeweckten Jüngling mit wachem Verstand entwickelt hatte. Wäre für Degenar je ein weltliches Leben mit einer Familie in Frage gekommen, so hätte er sich in diesem Augenblick keinen besseren Sohn vorstellen können als Faolán. Mit diesen verwirrenden Gedanken entließ Degenar den Novizen schließlich.

* * *

Am nächsten Morgen verließen der Kellermeister und sein Gehilfe sehr früh mit dem Segen des Abtes das Kloster. Dass Degenar dabei den Cellerar besonders ermahnte, auf sich und sein Mundwerk zu achten, stieß bei Faolán auf etwas Unverständnis. Schließlich war er es doch, der am Tag zuvor zu viele Dinge ausgesprochen hatte, die er besser für sich behalten hätte.

Die Fahrt zum Markt verlief ohne Zwischenfälle. Dicht vor Neustatt wurde es auf der Straße wieder lebhafter. Der Klosterwagen passierte auch diesmal die Lücke des zukünftigen Tores und die mehr oder weniger stabilen Verschläge, Zelte und Hütten entlang des Weges. Die Menschen gingen ihren Geschäften nach und Faolán beobachtete sie erneut mit Interesse. Ungehindert fuhren sie bis zum alten Palisadenwall, wo sie den Wegezoll entrichteten.

Wiederholt stellte Faolán fest, dass sich das Treiben in der Stadt gänzlich vom Leben im Kloster unterschied. Es waren nicht nur die vielen dicht gedrängten Menschen, sondern auch der über allem hängende Gestank. Er hinderte ihn buchstäblich am Atmen. Auf dem Marktplatz suchten sie wieder den Platz direkt vor der Kirche auf. Flink half der Novize dem Kellermeister dann beim Aufbau des Standes, und bald darauf begann das Handeln. Der Tag wurde zunehmend wärmer und viele Marktgänger suchten den willkommenen Schatten des Klosterstandes auf, erstanden saftiges Obst oder gewässerten Wein zur Erfrischung oder Stärkung. Es war ein reges Kommen und Gehen und Faolán beobachtete nicht nur das Handeln des Cellerars, sondern bediente heute bei größerem Andrang seine ersten Kunden. Einige Interessenten witterten ihre Gelegenheit und glaubten, einen jungen, unerfahrenen Novizen übervorteilen zu können. Doch Faolán erwies sich beim Feilschen hartnäckiger als sie geglaubt hatten. Keine der Waren verließ den Stand ohne nicht mindestens den zuvor mit Bruder Ivo abgesprochenen Preis zu erzielen.

Es war früher Nachmittag, als der Andrang nachließ und der Cellerar seinen Gehilfen auf den Markt schickte. Faolán machte sich sofort auf. Seltsamerweise hatte er heute nur wenig Interesse an den anderen Händlern. Einzig eine kleine Truppe von Gauklern und Musikanten zogen ihn für einige Augenblicke in ihren Bann. Lustige Musik mit Flöten und Trommeln erklang, wie Faolán sie noch nie zuvor vernommen hatte. Ein Narr mit seiner tollpatschigen Jonglage brachte ihn sogar zum Lachen.

Sein Blick löste sich jedoch schon bald wieder von ihm und Faolán suchte weiter. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sich auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem befand. Als er sein törichtes Handeln begriff, schüttelte er den Kopf und tadelte sich selbst einen Narren. Es war völlig absurd, nach dem rothaarigen Mädchen Ausschau zu halten! Erneut schüttelte er den Kopf, um diesen verrückten Gedanken loszuwerden und machte sich auf den Rückweg zum Klosterstand. Bruder Ivo saß auf einem der Fässer und gönnte sich einen erfrischenden Apfel. „Na, wo hast du denn so lange gesteckt? Haben es dir die Gaukler angetan?“

„Ein wenig schon, sie waren sehr lustig …“

Faolán verfiel in ein nachdenkliches Schweigen. Der Mönch wollte gerade nach dem Grund fragen, als sich zwei Personen unter dem Baldachin ihres Standes einfanden. Bruder Ivo erhob sich und Faolán erkannte sogleich die beiden Markthüter, die vor zwei Wochen bereits für Ärger gesorgt hatten. Das breite Grinsen auf den Gesichtern der Männer zeigte, dass sie sich ebenfalls daran erinnerten. Der Cellerar runzelte die Stirn, sprach jedoch mit neutraler, ja nahezu freundlich gefasster Stimme die Männer an.

„Bitte die Herren, was ist Euer Begehr?“

Der Anführer reagierte nicht. Er würdigte den Cellerar noch nicht einmal eines Blickes. Stattdessen flogen seine Blicke über die Klosterwaren. Schließlich quälten sich langsam ein paar krächzende Worte über seine spröden Lippen: „Mönchlein, findest du nicht auch, dass es heute unerträglich heiß ist? Ist es nicht unmenschlich, in dieser Rüstung unter der glühenden Sonne deines Gottes wandeln zu müssen? Und das nur, um deine Waren zu schützen!“

Bruder Ivo versuchte die Blasphemie zu ignorieren und antwortete nicht. Mit einem unverschämten Grinsen fuhr der Recke fort: „Ich glaube, wir haben uns eine Erfrischung redlich verdient! Meinst du nicht auch, Mönchlein?“

Wie beim vergangenen Mal wurde auch jetzt ein Dolch gezückt. Der fand sein Ziel erneut im Apfelfass und der Rädelsführer fischte erst eine Frucht für seinen Kameraden, anschließend eine weitere für sich selbst heraus. Der zweite Marktknecht nahm das Obst gierig entgegen, doch anstatt hineinzubeißen, begann er mit ihm zu spielen. Immer wieder warf er den Apfel hinter seinem Rücken geübt in die Luft und fing ihn auf. Faolán stand an der Seite des Wagens und beobachtete alles genau. Er fragte sich, ob die Wachmänner und der zornige Cellerar auf eine handfeste Auseinandersetzung zusteuerten.

Noch bevor Faolán weiter darüber nachdenken konnte, bemerkte er etwas Rotes am Rande seines Blickfeldes. Der Novize wusste sofort, dass es sich um den kurz geschorenen Schopf jenes Mädchens handelte! Sie näherte sich den beiden Markthütern heimlich von hinten. Die Augen des Mädchens, die Faolán vor zwei Wochen so fasziniert hatten, zogen wieder seine Blicke an. Sie funkelten regelrecht vor Aufregung. Doch das Wiedersehen war nicht der Grund, bemerkte Faolán mit Enttäuschung. Es war der Glanz der Vorfreude und Anspannung, der sich in ihren Augen zeigte. Verschwörerisch lächelte sie Faolán zu und hob einen Zeigefinger an ihre Lippen. Niemand außer Faolán schien sie dabei zu beobachten. Als das Mädchen dicht hinter dem Krieger stand, der mit dem Apfel spielte, war Faolán klar, dass dies alles andere als ein harmloser Spaß war. Entsetzen packte ihn, als er sich ausmalte, was die beiden ungehobelten Kerle mit dem Mädchen anstellen würden, sollte ihr jetzt ein Fehler unterlaufen.

Trotz der Hitze des Tages zog sich die Rothaarige die Kapuze ihres zerschlissenen Umhangs tief ins Gesicht. Hinter dem Recken stehend, beobachtete sie kurz das Spiel mit dem Apfel. Ihre Augen folgten dem Auf und Ab der Frucht exakt, als wolle sie sich dem Rhythmus anpassen. Langsam reckten sich ihre Hände mit gespreizten Fingern nach vorne und warteten geduldig.

Dann ging alles blitzartig. Die kleine Hand schnellte vor und erfasste den Apfel mit sicherem Griff, als dieser gerade die Hand des Recken verließ. Ebenso schnell wandte sich das Mädchen um und rannte in die Menschenmenge. Sie befand sich bereits mitten in der Menge, als der Bestohlene bemerkte, dass der Apfel nicht wiederkehrte. Verdutzt blickte er zunächst auf den Boden hinter sich und war überrascht, ihn dort nicht vorzufinden. Als er stattdessen eine hastige Bewegung in der Menge sah, kombinierte er schnell: Er war bestohlen worden!

„Diese kleine Kröte …!“ Mehr gab er nicht von sich, sondern setzte sofort dem Mädchen nach. Sein Kamerad und der Cellerar starrten ihm nach. Der Rädelsführer begriff nun auch, was geschehen war, vergaß seine bisherige Absicht und machte sich ebenfalls an die Verfolgung. Mit schweren Stiefeln bahnten sich die Marktknechte ihren Weg über den staubigen, mit Stroh bedeckten Marktboden. Doch die flinken, nackten Füße des Mädchens waren um einiges schneller. Die Diebin war längst nicht mehr zu sehen. Mit lauten Flüchen drängten die Wächter durch die Menschenmassen – mit mäßigem Erfolg. Es hatte nicht den Anschein, als würden die Marktgänger ihnen bereitwillig Platz machen. Einige Umstehende hatten die Tat immerhin mitverfolgt, ohne das Mädchen zurückzuhalten. Im Augenblick zählte einzig ihre Schadenfreude.

Ebenso hielt es Bruder Ivo. Als Cellerar und Novize wieder unter sich waren, brach er in schallendes Gelächter aus. Faolán ließ sich von der Heiterkeit anstecken. Nach einer Weile kam der Mönch wieder zu Atem. Gut gelaunt meinte er: „Das nächste Mal werde ich diesem Bengel höchstpersönlich den besten Apfel schenken. Möge Gott seine Flucht segnen. Amen.“

Faolán konnte nicht verstehen, dass Ivo für einen Dieb um den Segen des Herrn bat. Mit einem Mal schoss ihm eine Frage durch den Kopf: „Was geschieht, wenn der Dieb erwischt wird?“

„Mach dir mal darüber keine allzu großen Sorgen“, beruhigte der Cellerar Faolán, während er seinen Hals reckte. „Ich glaube kaum, dass sie ihn erwischen. Er scheint flinker und geschickter zu sein als die beiden trägen Kerle und wird daher auch in dem Gewimmel des Marktes entkommen. Dessen bin ich mir sicher.“

Daraufhin wandte sich der Mönch wieder Faolán zu.

„Komm’, lass uns den Wagen beladen. Wir sollten jetzt besser aufbrechen. Sonst kommen diese beiden Rüpel nach erfolgloser Hatz zurück, um erneut ihr Spielchen mit uns zu treiben.“

Der Tag war mühselig und sehr heiß gewesen, und so hatte Faolán nichts gegen eine frühe Abreise. Während des Packens nutzte er die Gelegenheit, immer wieder vom Wagen aus nach dem flüchtenden Rotschopf Ausschau zu halten. Er hoffte, das Mädchen noch einmal zu sehen.

Nur wenig später war der Wagen wieder auf den Rückweg zur Abtei und ließ Trubel, Lärm, Gestank und Staub der kleinen Stadt hinter sich. Alsbald fuhr der Klosterwagen auf dem Weg durch den Wald dahin.

Ivo und Faolán schwiegen. Trotz des Schattens der Bäume war die Luft selbst hier stickig und heiß. Die Sonne stand hoch und die Fahrt entwickelte sich für Mensch und Tier zu einer Qual. Der beleibte Kellermeister schwitzte bald so stark, dass sich unter den Achselhöhlen und auf dem Rücken seines Habits feuchte Flecken zeigten. Der Atem des Mönches ging schwer und immer wieder fächerte Ivo sich mit der flachen Hand frische Luft zu.

Schließlich konnte der Cellerar die Hitze nicht mehr ertragen. Er stoppte den Wagen an einer schattigen Stelle. Ungelenk stieg er ab und gebot Faolán mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Für Worte fehlte ihm der Atem. Nach kurzer Suche reichte Ivo seinem Gehilfen zwei Wasserschläuche aus Ziegenleder.

„In der Nähe … befindet sich … eine Quelle …“, gab er Faolán kurzatmig zu verstehen. „… wenn ich mich recht erinnere … Geh’ durch das Unterholz … hier am Wegesrand. Nach einigen Baumreihen stößt du … auf einen Pfad. Er führt nach Osten … bis zu einem kleinen Bachlauf. Folge ihm, bis zu seiner Quelle … Dort kannst du die Schläuche füllen.“

Der Novize nahm die Wasserschläuche entgegen und zog dann einen langen Gehstab aus dem Wagen. Der sollte ihm auf dem Weg durch das Unterholz behilflich sein. Bruder Ivo hatte sich bereits im Schatten der Bäume niedergelassen, als Faolán im Blattwerk verschwand.

Schon nach kurzer Zeit befand er sich auf dem beschriebenen Pfad. Dort entdeckte er einige Tierspuren, jedoch keine menschlichen Fußabdrücke. Das schloss allerdings nicht aus, dass dieser Pfad nicht auch von Geächteten und Wegelagerern benutzt wurde. Faolán wurde es mulmig. Möglichst leise schritt er auf dem Pfad voran, bis er nach einer Weile das sanfte Gurgeln eines Wasserlaufes vernahm. Wenige Augenblicke später konnte er durch das Blattwerk eine Lichtung ausmachen.

Plötzlich vernahm Faolán ein Kreischen und ein lautes Platschen, als sei jemand ins Wasser gestürzt. Er eilte weiter und blieb dann am Rande der Lichtung hinter einem Strauch stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Vor ihm fiel das Erdreich einige Ellen steil ab und endete in einem kleinen Tümpel. Der wurde von einer Quelle aus einem hoch aufragenden Felsen gespeist. Faoláns Blick folgte dem vom Fels in den Teich springenden Wasser. Die Ringe, die sich auf der Wasseroberfläche ausbreiteten und sich im Grün des Ufers verloren, hatten jedoch einen anderen Ursprung. Es musste vor wenigen Augenblicken etwas ins Wasser geworfen worden sein. Aber von wem? Es gab kein Anzeichen, dass hier jemand war.

Als sich der Novize nach vorne beugte, um sich besser umsehen zu können, schoss aus der Mitte des Tümpels plötzlich etwas empor, sodass Wasser nach allen Seiten spritzte. Faolán verbarg sich erschrocken hinter einem umgestürzten Baumstamm. Vorsichtig hob er noch einmal den Kopf, um zu sehen, welches Untier aus den Tiefen des Tümpels aufgetaucht sein mochte.

Was er dann erblickte, raubte ihm beinahe den Atem, und er wollte seinen Augen nicht trauen. Erst als er ein zweites Mal hinschaute, begriff er. Dort unten im Weiher schwamm doch tatsächlich und unverkennbar ein Kind, mit kurzem Haar, etwa in seinem Alter. Obwohl das Haar nass und dunkel war, wusste Faolán doch, dass es trocken in der Sonne rot schimmern würde. Im gleichen Rot, wie er es erst vor kurzem gesehen hatte. Es war das Mädchen aus Neustatt!

Gebannt beobachtete der Novize heimlich und mit offenem Mund, wie sich das Mädchen im Tümpel vergnügte. Offensichtlich genoss sie ihr Bad und schien den Teich als ihr Eigen anzusehen. Unbeschwert tollte sie im Wasser umher. Faolán hatte zwar schon gehört, dass Menschen mittels bestimmter Bewegungen selbst in tiefem Wasser nicht untergingen, doch dass Schwimmen sogar Freude bereiten konnte, davon hatte er noch nichts vernommen.

Immer wieder tauchte das Mädchen ab, verschwand für einige Augenblicke im Dunkel des Tümpels und tauchte unerwartet an einer anderen Stelle wieder auf. Faolán wurde immer verwirrter. Nackt, wie Gott sie geschaffen hatte, durchquerte die Rothaarige den Teich mehrere Male und spielte vergnügt mit dem Wasser, wenn sie sich auf dem Rücken liegend treiben ließ.

Faolán hatte keine Ahnung, wie lange er bereits zugesehen hatte, als das Mädchen schließlich zum gegenüberliegenden Ufer schwamm und dem Weiher entstieg. Wassertropfen hafteten wie Perlen auf ihrer Haut, glitzerten im Licht der Sonne wie Edelsteine. Mit einigen Handbewegungen streifte das Mädchen den vermeintlichen Schatz von ihrem Körper, entnahm dem nahen Dickicht ein dünnes Gewand und zog es flink über.

Fasziniert und regungslos beobachtete Faolán alles aus seinem Versteck. Nichts gab seine Anwesenheit preis. Und dennoch drehte sich das Mädchen mit den nassen, zerzausten Haaren plötzlich zu ihm um, schaute ihn an und sprach mit lauter, klarer Stimme: „Bist du etwa so hässlich, dass du dich vor mir verstecken musst oder ist es besonders bequem dort oben? Pass auf, dass du dich nicht in die Nesseln setzt.“

Verwirrt begriff Faolán, dass er schon vor langem entdeckt worden war. Hitze stieg in seinen Kopf, und er wusste nicht, was er tun sollte. Beim Versuch aufzustehen, rutschte er aus und fiel hinten über. Er landete tatsächlich in den Brennnesseln, als hätte sie es geahnt. Seine Tollpatschigkeit rief bei dem Mädchen ein Kichern hervor. Faoláns Kopf wurde noch heißer. Nur kurz erwog er, davonzulaufen, entschied sich dann zu bleiben und erhob sich langsam aus seinem Versteck. Dabei vermied er den Blickkontakt mit der Rothaarigen und starrte verlegen in den dunklen Tümpel. Da er nichts sagte, sprach das Mädchen weiter:

„Du hättest auch ins Wasser kommen können. Selbst für einen Mönch ist es heiß heute, so dass ihm ein erfrischendes Bad gut tun würde. Oder verstößt das etwa gegen eure Regeln?“

Ihr Lächeln wirkte spöttisch und freundlich zugleich. Faolán nahm daran jedoch keinen Anstoß. Vielmehr verwirrte ihn die Frage, denn ein Bad zu nehmen war für einen Novizen undenkbar.

„Richtig, ähm, die Regularien … sie verbieten …“, stammelte Faolán vor sich hin, ohne Ahnung, was er eigentlich antworten wollte. Dann kam er zur Besinnung. „Außerdem bin ich kein Mönch!“

„Na, dann bist du vielleicht ein Mönchlein? Oder wie nennt man den Zögling eines Klosters? ‚Jungmönch vielleicht?“ Erneut kicherte das Mädchen leise.

„Novize … die Schüler einer Abtei nennt man Novizen. Ich bin ein Novize des Benediktinerklosters hier in der Nähe.“

Faolán war froh, endlich einen vollständigen Satz als Antwort bieten zu können, der sich nicht nach dümmlichem Gestammel anhörte. Warum nur hatte er mit einem Mal solche Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden?

„Ein Novize bist du also. Und als Novize darf man nicht baden?“

„Ähm, nein.“ Faolán stutze kurz, dann sagte er laut: „Das heißt doch. Wir dürfen schon baden. Allerdings nur, wenn es notwendig ist.“

„Und wer entscheidet für einen Novizen, wann ein Bad notwendig ist?“

„Der Abt oder der Prior, manchmal auch Bruder Wunhold im Hospital“, schoss es aus Faolán heraus, wieder erleichtert, eine vernünftige Auskunft geben zu können.

„Und sagen dir diese Mönche auch, wann du den Abtritt aufsuchen darfst?“

„Ja, … ähm, nein. Natürlich nicht. Das heißt, während der Andachten und der Gottesdienste ist das Aufsuchen des Abtritts selbstverständlich untersagt. Es sei denn, man hat so starke Blähungen, dass sie die Andacht der Mitbrüder stören könnten und eine Beleidigung des Herrn wären. Und baden darf man auch, wenn es die Gesundheit erfordert. Dann muss man auf Geheiß des Heilers in einen Zuber mit warmen Wasser und heilenden Kräutern steigen, deren Duft in der Nase kitzelt.“

Als Faolán bewusst wurde, was er da gesagt hatte, ärgerte er sich, dass er diesem Mädchen von den Blähungen alter Männer erzählte. Dümmlicher hätte er sich nicht anstellen können.

Das frech dreinblickende Mädchen war inzwischen um den Tümpel gegangen und hatte sich Faolán bis auf ein Dutzend Schritte genähert. Bei seinen letzten Worten hatte sie aufgehorcht. Das Lächeln war verschwunden und durch waches Interesse ersetzt. „Und woher kennt ihr die Kräuter und das Wissen um ihre Anwendung?“

„Hinter dem Hospital gibt es einen Kräutergarten. Dort lässt Bruder Wunhold viele der kostbaren Pflanzen für seine Pasten, Pillen und Tinkturen wachsen. Einige davon sind auch für Bäder geeignet.“

Nun betrachtete das Mädchen neugierig die Narbe auf Faoláns Wange. „Es scheint, als hättest du erst vor kurzem die Dienste dieses Mönches in Anspruch genommen.“

Beschämt wandte sich Faolán ab, damit sie das Wundmal nicht weiter anstarren konnte und antwortete: „Er hat all sein Können aufgewandt, um mich im Diesseits zu halten.“

„Hört sich ja beinahe so an, als seien die Mönche doch nicht so engstirnig und unbegabt.“

„Wie meinst du das, engstirnig und unbegabt? Wer behauptet das?“ Faolán war verärgert, denn er fand die Mönche alles andere als engstirnig. Er vergaß seine Scham über die Narbe und wandte sich wieder dem Mädchen zu.

Die Rothaarige ignorierte Faoláns Ärger und erklärte: „Das habe ich schon manchen sagen hören. Vor allem jene, die schon mehr gesehen haben, als nur das von einer Klostermauer eingeschlossene Leben. Ist es nicht schon ein kleines Wunder, dass sie einen jungen Novizen auf den Markt, in die böse, weite Welt ziehen lassen? Bisher war dieser dicke Mönch stets allein auf den Markt gekommen.“

Das kecke Lächeln kehrte wieder auf ihre Lippen zurück. „Mit einem Mal bedarf es jedoch eines Novizen, der ihm zur Hand geht. Warum? Er macht auf mich nicht den Eindruck, als sei er zu alt geworden, um dieser Aufgabe allein Herr zu werden. Gibt es vielleicht einen besonderen Grund für deine Anwesenheit? Oder ist es reiner Zufall?“

„Spotte nicht über das Alter!“, versuchte Faolán das Mädchen zu tadeln und war wieder leicht verärgert. Auf ihre Frage hatte er allerdings keine befriedigende Antwort. Deshalb wich er aus: „Bruder Ivo ist ein ehrwürdiger Mönch und ich lerne sehr viel von ihm. Es ist ein Privileg, mit ihm auf den Markt gehen zu dürfen, ganz gleich wie alt oder kraftvoll er ist.“

„Ich spotte weder über das Alter noch über den Mönch! Dafür aber über die merkwürdigen Regeln deiner Abtei. Richtest du dich etwa immer streng nach jedem Ge- und Verbot, das dir von einem der Klosterbrüder auferlegt wird?“

Weil Faolán nachdenklich stumm blieb, wertete das Mädchen sein Schweigen als Bestätigung und fuhr fort: „Du bist wenigstens ehrlich. Dieser dicke Mönch scheint dir ja doch noch etwas Verstand beigebracht zu haben. Und seit kurzem darfst du noch mehr in dieser Welt erleben als nur die Belange der Mönche, Bücher und die aus Stein gemeißelten Heiligen.“

„Die Heiligen haben im Namen des Herrn große Taten für die Menschen vollbracht“, gab Faolán trotzig zurück. „Und Bücher sind Kostbarkeiten! Mit ihrer Hilfe habe ich im Kloster mehrere Sprachen und die Arithmetik erlernt. Aus Büchern kann man sehr viel erfahren, wenn man nur das Lesen beherrscht.“

Das Mädchen lachte kurz auf und ihre funkelnden Augen strahlten Faolán an. Sie ignorierte den Seitenhieb auf ihre vermeintliche Unwissenheit und führte Faoláns Gedanken fort: „Genau! Denn wenn du ein Buch nur dazu benutzt, um darüber einzuschlafen, hättest du reichlich wenig davon. Aber eines haben dir all die Bücher bisher wohl nicht beigebracht!“

„Und was wäre das deiner Meinung nach?“, fragte Faolán erstaunt.

„Das Schwimmen! Oder gibt es einen anderen Grund, weshalb du dich nicht in den Tümpel getraut hast? Vielleicht schämst du dich auch, mit einem Mädchen ins Wasser zu steigen. Oder gibt es Mädchen in eurer Abtei?“

Als sich Faolán das vorstellte, stieg erneut Hitze in seinen Kopf, als habe man ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Das rothaarige Mädchen sprach weiter, ohne seine Betretenheit zu bemerken:

„Wenn du also nicht schwimmen kannst, ganz gleich aus welchem Grund, so gibt es nur einen Weg, dies zu ändern: du lernst es!“

„Wie soll ich denn das Schwimmen erlernen?“

„Ganz einfach: Traue dich das nächste Mal ins Wasser und ich werde es dir beibringen. Oder hast du etwa Angst vor mir … weil ich ein Mädchen bin?“

Mit diesen Worten beugte sie sich vor, hob einen Stoffbeutel mit Schulterriemen vom Erdboden auf und legte ihn sich um. Ihre Hände kramten darin, während sich ihre Augen abwartend wieder auf den Novizen richteten. Faolán verneinte ihre Frage, indem er den Kopf schüttelte. Weshalb sollte er sich vor einem Mädchen fürchten? Es war absurd und dennoch zögerte er mit einer Antwort. Nach einer Weile räusperte er sich und fragte skeptisch:

„Welchen Nutzen sollte es haben, wenn ich schwimmen könnte? Hätte Gott gewollt, dass ich schwimme, hätte er dann nicht einen Fisch aus mir gemacht?“

„Oder ein Seeungeheuer!“ Das Mädchen lachte beherzt. „Ich kann schwimmen. Bin ich etwa ein Fisch? Und was ist mit all den Menschen, die bei der großen Sintflut umgekommen sind? Einige von ihnen wären nicht ertrunken, wenn sie hätten schwimmen können.“

Faolán war verblüfft. Dieses einfache Mädchen schien mit den biblischen Geschichten vertraut zu sein. Er wollte ihr gerade erklären, dass Gott diese Menschen gar nicht überleben lassen wollte und sie deshalb nicht schwimmen konnten. Doch bevor er eine einzige Silbe von sich geben konnte, schaute ihm das Mädchen tief in die Augen.

„Du wirst gesucht, Novize. Oder darf ich dich Faolán nennen?“

„Wo- … woher kennst du meinen Namen?“, fragte Faolán verblüfft.

„Ich habe Ohren und bin, wie du inzwischen bemerkt haben dürftest, nicht taub. Offensichtlich hat Gott gewollt, dass ich hören kann.“ Abermals musste sie kichern und fuhr vergnügt fort: „Ich habe nicht gezählt, wie oft ich deinen Namen auf dem Markt schon vernommen habe, aber es dürfte mehr als ein Dutzend Mal gewesen sein. Und dies hier …“, ihre Hand kam aus dem Leinenbeutel hervor und warf dem Novizen etwas zu „… gehört euch, nicht wahr?“

Faolán fing dieses Etwas auf und hielt einen Apfel in der Hand, der einen Schnitt aufwies. Er begriff, dass dies der gestohlene Apfel des Markthüters war, den das Mädchen so wagemutig entwendet hatte. Faolán wusste nicht, was er sagen sollte, und schaute abwechselnd auf die Frucht und das Mädchen.

„Ich bin kein Dieb, obwohl mich diese beiden Narren von Markthütern dafür halten und deshalb wahrscheinlich noch immer in Neustatt nach mir suchen. Sie werden mich niemals erwischen. Ich bin viel zu schnell für sie!“

Die Erinnerung an das Geschehen, besonders die Dummheit der beiden Wachen, entlockte dem Mädchen erneut ein leises Kichern. Dann drehte sie sich um und entfernte sich ein paar Schritte von Faolán, was er bedauerte.

„Warte, wo willst du hin?“, versuchte er sie aufzuhalten. Am liebsten hätte er sie festgehalten. Doch er benötigte all seine Willenskraft, um wenigstens sprechen zu können. Unzählige Gedanken schossen ihm durch den Kopf.

Das Mädchen wandte sich noch einmal um. „Ich muss jetzt gehen. Es mag ja so aussehen, als hätte ich den ganzen Tag nichts Besseres zu tun als den Markt zu besuchen oder baden zu gehen. Doch glaube mir, ich habe noch ein paar Aufgaben zu erledigen, bevor die Sonne untergeht. Außerdem wird dein Mönch in Kürze hier auftauchen und dann sollte ich nicht mehr hier sein! Du weißt doch, wie die Mönche denken …“

„Woher weißt du, dass Bruder Ivo hier auftauchen wird?“

Das Mädchen blickte mit ihren grünen Augen tief in die seinen, und Faolán fühlte, wie er von ihnen angezogen wurde. Hilflos blieb er stehen, als befände er sich im Bann eines heimlichen Zaubers. Endlich antwortete sie und seine Starre löste sich:

„Ich weiß es ganz einfach!“

Als Faolán darauf nichts erwiderte, wandte sich das Mädchen ab und wollte gehen.

„Warte! Wer bist du?“

Noch einmal hielt das Mädchen inne. „Wer ich bin, wäre für den Anfang vielleicht etwas zu weitreichend, um es dir jetzt noch zu erklären. Vielleicht solltest du mich erst einmal nach meinem Namen fragen.“

„Ja, natürlich. Das meinte ich auch. Wie heißt du? Wie lautet dein Name?“

„Svea.“

„Svea … ein außergewöhnlicher … ich bin Faolán.“

Das Mädchen lachte und blickte den Novizen beinahe schon liebevoll an. „Ich weiß, Faolán. Ich kenne deinen Namen bereits. Bis zum nächsten Mal.“

Das Mädchen verschwand mit lautem Rascheln im Unterholz und nichts auf der Lichtung deutete darauf hin, dass Faolán eben noch Gesellschaft gehabt hatte. „Svea …“, flüsterte er noch einmal ihren Namen, als habe er Angst, ihn zu vergessen.

Nur wenige Augenblicke später vernahm er ein Rascheln im Gestrüpp, und kurz darauf erschien Bruder Ivo auf der Lichtung, schwer atmend und stark schwitzend. Er orientierte sich kurz und erblickte seinen Schützling mit Erleichterung. „Faolán, da bist du ja! Ich habe mir schon Sorgen gemacht.“

Der Novize schaute betreten auf den Waldboden, um dem durchdringenden Blick des Mönches zu entgehen. „Es ist alles in Ordnung. Ich habe die Quelle erst nicht gefunden. Ich bin in die falsche Richtung gegangen.“

Die Lüge kam wie selbstverständlich über seine Lippen und Faolán wunderte sich, dass ihm dies nicht einmal ein schlechtes Gewissen bereitete. Wer war dieses Mädchen nur, dass er ihretwegen den Kellermeister belog?

Bruder Ivo schaute abwechselnd von der Quelle zum Tümpel. Dann verlor sich sein Blick irgendwo in der Ferne, als tauche er in Erinnerungen an vergangene Tage ab. Er kam erst wieder zur Besinnung, als Faolán sich räusperte. Sofort wies er dann seinen Gehilfen an:

„Wenn du soweit bist, fülle die Schläuche und lass uns zurückgehen. Sonst kommt noch jemand auf dumme Gedanken und stielt unseren Wagen. Dann hätten wir ein noch größeres Problem mit dem Abt, als wir es durch unsere Verspätung ohnehin schon haben.“

Faolán stieg zur Quelle und wollte gerade die Schläuche füllen, als ihm eine Frage durch den Kopf schoss. „Könnt Ihr schwimmen, Meister Ivo?“

Der Cellerar blickte Faolán verdutzt an. Er verstand nicht recht, woher die Frage seines Schützlings rührte, doch nach kurzem Zögern gab er bereitwillig Auskunft.

„Ja, ich kann schwimmen – das heißt, ich konnte es zumindest einmal. Als kleiner Junge, noch bevor ich in das Kloster aufgenommen wurde, war ich ab und zu schwimmen. Weshalb fragst du? Hast du etwa Lust auf ein kühlendes Bad in diesem Tümpel?“

„Nein, nein …“, versuchte Faolán den Mönch schnell zu beschwichtigen.

Etwas misstrauisch schaute Bruder Ivo erst den Weiher und dann Faolán an. Schließlich schüttelte er den Kopf, als wollte er sich von den Geistern der Vergangenheit befreien. „Spute dich, wir müssen gehen!“

Als Faolán den zweiten Wasserschlauch verschloss, hatte der Cellerar den Rückweg bereits angetreten. Bevor er ihm folgte, drehte er sich noch einmal um und blickte auf das dunkle Wasser des Tümpels. Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn. Faolán konnte es nicht deuten, doch er spürte, dass diese Lichtung und das Mädchen etwas Außergewöhnliches waren. So sehr er sich auch bemühte dieses Gefühl einzuordnen, es misslang ihm. Doch seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Mädchen zurück und er verspürte dabei ein unbekanntes Glücksgefühl.

Gut gelaunt und beschwingt ergriff Faolán seinen Stab und machte sich mit den gefüllten Wasserhäuten auf den Weg zum Wagen. Eine Melodie kam ihm in den Sinn, die er heute auf dem Markt bei den Spielleuten aufgeschnappt hatte, und er pfiff sie leise vor sich hin. Das hatte er noch nie getan. Er freute sich bereits auf den nächsten Markttag in Neustatt. Und vor allem auf Svea.

Die Eiswolf-Saga / Die Eiswolf-Saga. Teil 2: Irrwege

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