Читать книгу Die Eiswolf-Saga / Die Eiswolf-Saga. Teil 2: Irrwege - Holger Weinbach - Страница 15

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Anno 962 – Zerwürfnisse

Der groß gewachsene, drahtige Faolán lief oft flink über die Klosteranlage oder durch die langen Arkadenflure. Er war stets unterwegs, meist im Laufschritt. Bei einigen Mönchen rief diese Hast Unbehagen hervor. Nicht nur, weil der Novize dazu meist sein Habit bis über beide Knie anhob, um schneller laufen zu können, sondern weil es sich nicht gebührte, als Diener des Herrn hastig einherzurennen.

Faolán hatte inzwischen gelernt, vor den missbilligend dreinblickenden Mönchen seinen Gang zu verlangsamen und gemächlich vorüberzuschreiten, denn seine Eile war in der Vergangenheit nicht immer ungestraft geblieben. Er tat es allerdings mit Ungeduld, denn er wollte möglichst schnell von einem Ort zum anderen gelangen, wenn er als Gehilfe des Cellerars Botengänge erledigte.

Während der vergangenen Jahre hatte er aus verschiedenen Gründen gelernt, durch das Kloster zu eilen. Manchmal täuschte er eine dringliche Aufgabe vor, selbst wenn ihm Bruder Ivo keine auferlegt hatte. Das hatte ihn bereits einige Male vor unliebsamer Arbeit geschützt, die ihn mit Sicherheit erwartet hätte, wäre er beim Müßiggang angetroffen worden.

Schließlich begann der 48. Artikel der regula benedicti mit den Worten ‚Müßiggang ist der Seele Feind!

Die Brüder waren sehr bestrebt, diesen Feind von den jungen Novizen fernzuhalten. Faolán hingegen wollte sich dieser Regel nicht stetig unterwerfen und so diente ihm das Laufen als nützliche Täuschung.

Die meisten Mönche ließen den Novizen daher in Ruhe. Im Gegensatz dazu interessierte sich Prior Walram um so mehr für ihn, denn der hatte offensichtlich ein besonders wachsames Auge auf ihn geworfen. Manchmal glaubte Faolán sogar, dass Walram ihn regelrecht hasste, obwohl er ihm hierfür nie einen Grund geliefert hatte.

Der Prior brachte es auf verblüffende Art immer wieder fertig, Faolán in ungelegenen Augenblicken aufzuspüren und ihm beschwerliche Arbeiten aufzubürden. Der Novize hatte sich mit dieser Tatsache abgefunden und versuchte daher, vor allem Walram aus dem Weg zu gehen.

Der Cellerar wusste um Faoláns Täuschung der anderen Mönche, doch er unternahm nichts dagegen. Vielmehr vertrat er die Ansicht, dass sein Gehilfe seine Aufgaben tadellos und schneller erledigte als alle anderen Novizen und dass der Junge dafür gelobt, statt mit zusätzlicher Arbeit bestraft werden sollte.

Faolán war nämlich sehr oft nachdenklich und schwermütig, und Ivo war überzeugt, dass dem Knaben diese freie Zeit ganz gut bekäme. Er kannte immerhin Faoláns Vergangenheit. Der Junge war Ivo mit den Jahren ans Herz gewachsen, mehr als er es eigentlich zulassen wollte. Manchmal glaubte er gar, dass er eine Art Vaterliebe für ihn empfand, wenngleich ihm dieses weltliche Gefühl fremd war.

Im Kloster gab es noch einen weiteren Menschen, für den Faolán etwas Ähnliches empfand wie für Bruder Ivo, und das war der Abt selbst. Allerdings war der Kontakt zum Klosteroberhaupt bei weitem nicht so intensiv wie zum Kellermeister. Gerade weil der Novize selten zum Abt beordert wurde, genoss er diese wenigen Stunden der Lehre umso mehr. Das Wissen dieses Mannes war derart umfangreich, dass Faolán schon bald glaubte, es gäbe nichts, was der Abt nicht wusste.

So verstrichen Faoláns ersten Jahre im abgelegenen Benediktinerkloster. Er hatte in dieser Zeit gelernt, sowohl mit den schönen wie auch mit den widrigen Umständen zurechtzukommen. Das Kloster war schnell zu seiner Heimat geworden, denn an ein Leben vor der Gemeinschaft konnte er sich nicht erinnern. Und obwohl er selbst nicht sagen konnte, in welchem Jahr er geboren wurde, so schenkte er dem Cellerar Glauben, dass er bereits zwölf Jahre zählte.

Der Frühling hatte Einzug gehalten und Faolán war froh darüber, sich endlich wieder nur mit der leichten Kukulle bekleidet auch außerhalb der dicken Mauern aufhalten zu können. Noch steckte die Winterkälte in den steinernen, großen Gebäuden, vor allem in den Vorratskellern, in denen er oftmals seinen Aufgaben nachging. Nur in den hölzernen Ställen, Vorratsspeichern und Tierverschlägen nahm die Behaglichkeit durch das wärmere Wetter bereits zu. Doch allein die Tatsache, dass die Vögel in der Sonne vergnügt ihre Lieder sangen, genügte, um sein Gemüt zu erheitern.

Am liebsten hätte er unter einem der blühenden Kirschbäume gelegen, doch heute musste er mit dem Kellermeister die Lagerbestände vor dem ersten Marktgang des Jahres aufnehmen. Faolán zählte ab, kletterte auf den hohen Regalen umher und schaute in große Fässer, während Bruder Ivo die angegebenen Zahlen im Kopf addierte und mit einem Federkiel sorgfältig im Register niederschrieb. Die Sicherheit des Cellerars im Umgang mit Zahlen war eine Gabe, die Faolán bewunderte. Bruder Ivo unterrichtete seinen Gehilfen gerne in der Kunst der Arithmetik, denn Faolán zeigte sich darin ebenfalls sehr geschickt. Ähnlich gut beherrschte er inzwischen mehrere Sprachen in Schrift und Wort, sowie die Grundlagen der christlichen Lehre. Bruder Ivo machte ihn zudem mit vielen praktischen Dingen des Alltags vertraut.

Der Unterricht war im Augenblick jedoch in weiter Ferne. Bruder Ivo hatte Faolán eine besondere Aufgabe zugeteilt, die er wegen seiner Körperfülle nicht selbst verrichten konnte. Er war fest davon überzeugt, dass sich hoch oben auf einem Regal noch zwei Ballen dunkel gefärbten Leinstoffs befinden mussten. Faolán hatte das Gestell bereits erklommen und bewegte sich auf dem obersten Boden langsam voran. Sicherlich hatte der Mönch Recht, Faolán wusste um die lückenlosen Registerschriften und das hervorragende Gedächtnis des Cellerars. Dennoch musste der Novize die Mühe auf sich nehmen und danach sehen.

Das Regal war beinahe raumhoch, so dass sich nur eine Handbreit über Faoláns Haupt das raue Gestein der Gewölbedecke befand, die sich zu beiden Seiten in einem sanften Bogen absenkte. Der Platz hier oben war gerade ausreichend, um sich auf dem Bauch kriechend voranzubewegen. Je weiter der Novize auf diese Art vorwärts kam, umso mehr Staub schob er vor sich her. Er wollte gar nicht daran denken, wie sein Habit am Ende aussehen würde.

In seiner linken Hand hielt er die Standardausrüstung für solche Erkundungsgänge fest umklammert: Einen angespitzten Stock von etwa einer Elle Länge. Damit konnte er sich zumindest der Ratten erwehren, die man auch in diesen Höhen antreffen konnte. Nicht, dass Faolán vorgehabt hätte sie zu töten, falls er auf eine treffen sollte. Selbst diesen Tieren konnte er nichts zuleide tun. Er verabscheute Gewalt. Stets versuchte der Novize Handgreiflichkeiten aus dem Weg zu gehen, weshalb er für Drogo auch ein beliebtes Opfer war, das sich weder wehrte noch an seinem Peiniger rächte.

Den Stab nutzte der Novize vielmehr zur Abschreckung, indem er ihn immer wieder auf den hölzernen Regalboden schlug, um allem Getier in der Nähe sein Kommen anzukündigen und es in die Flucht zu schlagen. Hier oben gestaltete sich dies allerdings schwieriger als sonst. Aufgrund der beengten Verhältnisse und der hohen Brandgefahr hatte der Kellermeister seinem Gehilfen untersagt, eine Kerze oder eine Lampe mit zu nehmen. Das schwache Licht, welches Ivos Kerzen am Fuße des Regals nach oben warfen, bewirkte nur, dass das Dunkel mit düster tanzenden Schatten belebt wurde.

Der Novize schob sich Stück um Stück weiter vor und schlug in unregelmäßigen Abständen seinen Stab auf den Regalboden. Es war ein mühseliges Vorankommen mit einem merkwürdigen Rhythmus aus stoßweisem Atmen und vibrierenden Stockschlägen. Das Ende des Regals war ebenso wenig auszumachen wie die Konturen der gesuchten Stoffballen.

Handbreite um Handbreite ging es langsam weiter, bis Faoláns Stab plötzlich auf einen Widerstand stieß. Das Hindernis fühlte sich weich an und Faolán wähnte sich bereits an seinem Ziel. Er schob sich noch etwas weiter und tatsächlich ertastete er einen Ballen groben Leinstoffs. Doch zu seiner Enttäuschung war es nur einer. Faolán wagte sich noch etwas weiter, in der Hoffnung eine zweite aufgerollte Stoffbahn direkt dahinter finden zu können. Wiederum wurde er für seine Mühe belohnt und er fand auch den zweiten Ballen, ganz wie es der Kellermeister erhofft hatte.

Doch damit war Faoláns Aufgabe noch nicht erfüllt, denn Bruder Ivo wollte auch um die Beschaffenheit und Qualität des Stoffes wissen. Schließlich fraßen Ratten nahezu alles, sogar Leinen. Beide Ballen mussten also nach unten gebracht werden. Hinabwerfen durfte Faolán sie nicht, das hatte ihm der Kellermeister ausdrücklich verboten. Mehrfach waren auf diese Art schon Dinge zerbrochen oder beschädigt worden. So begann der Novize die beiden Stoffballen zu sich zu ziehen, und trat mit ihnen den mühseligen Rückweg an.

Plötzlich hielt Faolán inne. Etwas war merkwürdig. Starr und mit angehaltenem Atem lauschte er in die Dunkelheit hinein. Er wusste nicht genau, was ihn warnte, aber er spürte deutlich, dass hier etwas war. Langsam und vorsichtig drehte er seinen Kopf zur Seite und da sah er sie im kaum vorhandenen Licht stehen: Eine weiße Ratte!

Das Tier war von hinten an Faolán herangehuscht und hockte jetzt direkt neben seiner linken Schulter. Beide, Faolán wie auch die Ratte, verharrten in absoluter Stille und starrten sich an. Trotz des schwachen Lichts funkelten die Augen des Nagers rot, als befände sich darin das Feuer der Hölle.

Fasziniert und verängstigt zugleich war es Faolán unmöglich, sich auch nur einen Fingerbreit zu bewegen. Von der bösartigen Glut in den Augen getrieben, löste sich das Tier aus seiner Starre und kam Faoláns Gesicht näher. Diese glühenden Augen hatten den Novizen vollständig in ihren Bann gezogen. Den zum Schutz gedachten Stab hatte er vergessen.

Dicht vor Faoláns Gesicht begann die Ratte neugierig zu schnuppern. Die Nähe des Tieres löste im Novizen eine Beklemmung aus, die er bisher noch nie erlebt hatte. Regungslos blieb er liegen. Vergeblich kämpfte er gegen eine immer stärker werdende Furcht an. Während er in die feurigen, verzehrenden Augen des Tieres blickte, schien die Zeit still zu stehen. Jeder Herzschlag dröhnte in Faoláns Ohren wie ein Glockenschlag.

Mit einem Mal stieß das Tier einen markdurchdringenden Schrei aus und sprang in Faoláns Gesicht, wo es wild zu beißen und zu kratzen begann. Der Novize konnte noch nicht einmal seinen Kopf zur Seite drehen. Faolán stieß ebenfalls einen entsetzten Schrei aus. Doch so plötzlich die Ratte ihn attackiert hatte, so abrupt ließ sie auch wieder von ihm ab und verschwand mit ein paar Sprüngen hinter den beiden Leinenballen. Dann herrschte wieder Stille.

Faoláns Atem ging schnell und stoßweise. Die besorgte Stimme des Cellerars nahm er nur gedämpft wahr: „Faolán, ist alles in Ordnung dort oben?“

Der Novize war unfähig zu antworten und blieb erschüttert liegen. Er versuchte zu begreifen, was ihm eben widerfahren war. Sein spitzer Stab war völlig nutzlos gewesen, und so öffnete er seine Hand und ließ ihn zu Boden fallen.

„Faolán, Junge, hörst du mich? So antworte doch! Was ist dort oben los?“

Der Schreck steckte so tief in Faoláns Gliedern, dass er den Schmerz erst jetzt bemerkte. Seine linke Wange pulsierte und fühlte sich feucht an. Vorsichtig tastete er die Stelle ab. Der Geruch an seinen Fingern bestätigte seine Vermutung: Es war Blut!

Ein gewaltiger Schlag gegen die hölzerne Regalkonstruktion und die donnernde Stimme des Kellermeisters rissen den Novizen aus seinen Gedanken. „Entweder höre ich jetzt von dir, was dort oben los ist, oder ich komme hinauf, um es mit eigenen Augen zu sehen!“

Die Vorstellung, der beleibte Kellermeister würde sich hier oben auf dem Regal entlangschlängeln, barg eine gewisse Komik in sich. Trotz der schmerzenden Wunde musste Faolán schmunzeln, was allerdings eine neue Welle des Schmerzes hervorrief. Faolán biss die Zähne zusammen und wartete, bis sie abebbte. Schließlich antwortete er dem Cellerar.

„Es ist alles in Ordnung.“

„Was hatte dieser schrille Schrei eben zu bedeuten?“

„Nichts Besonderes – nur eine Ratte.“

„Pass bloß auf, mit diesen Biestern ist nicht zu spaßen. Komm jetzt wieder runter, wir sind ohnehin fertig für heute!“

Faolán folgte der Anweisung. Es dauerte aber lange, bevor er das äußerste Regalende erreichte und wieder hinabsteigen konnte. Das war wegen seiner Last nicht ganz einfach, doch es gelang ihm schließlich. Mit beiden Stoffballen unten angekommen, blickte er in das bestürzte Gesicht des Cellerars.

„Allmächtiger Herr, was ist geschehen?“

Der beleibte Benediktiner kniete vor dem Jungen nieder, drehte dessen Gesicht in das Kerzenlicht und begutachtete die Wunde. Faoláns linke Gesichtshälfte war zum größten Teil blutverschmiert, ebenso sein Habit um die Schulter. Faolán spürte, wie immer wieder warmes Blut über seine Wange lief.

Ivo hatte genug gesehen. Rasch sprang er auf und lief davon, um kurze Zeit später mit einem feuchten Tuch zurückzukehren. Behutsam betupfte er die Wange seines Gehilfen. Faolán widerstand der Versuchung, vor der Hand des Mönches zurückzuweichen. Er verstand dessen besorgten Gesichtsausdruck nicht, denn den Schmerz konnte Faolán gut ertragen und das bisschen Blut störte ihn nicht sonderlich. Schließlich handelte es sich doch nur um den Biss einer kleinen Ratte.

Bruder Ivo aber betrachtete die Wange lange und kritisch. Dann schüttelte er den Kopf und sagte streng: „Du gehst jetzt unverzüglich zum Hospital und lässt Bruder Wunhold einen Blick darauf werfen.“ Wieder tupfte der Cellerar das frisch ausgetretene Blut ab.

„Es wird schon nicht so schlimm sein“, protestierte Faolán. „Der Biss wird in einigen Tagen verheilt sein, ganz bestimmt.“

Der Cellerar war anderer Ansicht. „Mag sein. Doch ich wünsche jetzt keinen Disput über meine Anordnung. Mir ist es wohler, wenn sich Bruder Wunhold das anschaut. Er wird dir eine Kräuterauflage bereiten, um die Heilung zu beschleunigen. Er ist äußerst geschickt auf seinem Gebiet.“

Faolán lagen noch weitere Worte auf der Zunge, er ließ es aber dabei bewenden und fügte sich der Anweisung.

„Laufe jetzt rasch und lass dich nicht aufhalten. Der Biss einer Ratte, sei er noch so klein, kann schwerwiegende Folgen haben und ist schnell zu behandeln. Selbst die stärksten Männer sind schon durch solche Wunden für lange Zeit ans Lager gefesselt worden. Ich habe bereits mit eigenen Augen gesehen, was ein vermeintlich harmloser Biss einer Ratte anrichten kann. Es war kein schöner Anblick. Manche glauben gar, dass der Leibhaftige selbst in diesen Tieren steckt.“

Faolán erinnerte sich mit Schrecken an die höllisch roten Augen. Vielleicht hatte Bruder Ivo doch Recht! Beunruhigt ließ er die beiden Leinenballen fallen und rannte davon. Auf seinem Weg begegnete er mehreren Mönchen, die wegen seines blutverschmierten Gesichts erschrocken zur Seite traten. Unbeeindruckt setzte Faolán in großer Eile seinen Weg quer durch die Abtei fort, durch Flure und über Höfe, nahm Abkürzungen und sprang über Hindernisse, wobei er so manche Katze aufscheuchte.

Als er gerade um eine Gebäudeecke laufen wollte, wurde Faolán unerwartet zu Fall gebracht. Benommen hielt er sich den schmerzenden Ellbogen. Er war mit jemand zusammengestoßen. Faolán wollte sich gerade für seine Unachtsamkeit entschuldigen, als er erkannte, wer ihn zu Fall gebracht hatte. Zu seinem Unglück war Drogo das Hindernis, dessen Häme er jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte. Der kräftige Novize schien ebenfalls von dem Aufeinandertreffen überrascht zu sein und starrte Faolán sprachlos an.

Drogo hatte sich in all den Jahren im Kloster kaum verändert. Im Vergleich zu Faolán war er immer noch einen halben Kopf größer und von deutlich kräftigerem Körperbau. Seine breiten Schultern waren unweigerliches Zeugnis seiner Abstammung von Rurik. Dessen Brust wäre wahrscheinlich stolz angeschwollen, hätte er jetzt seinen nach ihm geratenen Sohn betrachten können.

Unverändert war auch Drogos Anhängerschaft geblieben, die sich wie ein Gefolge um einen jungen Herrn scharte – oder wie Fliegen um den Mist, wie Konrad zu sagen pflegte. Nachdem Rurik vor einigen Jahren vom König zum Grafen erhoben worden war, benahm sich Drogo noch herablassender und nannte sich stolz und mit Recht ‚Sohn des Grafen’.

Auch jetzt war er mit einem seiner Hörigen unterwegs. Der schickte sich sogleich an, Faolán festzuhalten. Wider Erwarten hielt Drogo ihn jedoch zurück. Erstaunt über dieses Verhalten erhob sich Faolán. Ein fieses Grinsen machte sich auf Drogos Gesicht breit.

„Schau nur, Reinhart“, kommentierte Drogo belustigt. „Es sieht aus, als habe das Bürschchen seine Abreibung für heute bereits erhalten. Wir müssen uns die Hände gar nicht mehr schmutzig machen!“

Unter Reinharts beifälligem Kichern trat Drogo dicht an Faolán heran, um ihn aus der Nähe zu betrachten. Faolán versuchte zurückzuweichen, doch Reinhart hinderte ihn daran. Drogos kräftige Pranke packte Faoláns Kinn und drehte dessen Kopf mit einem heftigen Ruck zur Seite. Seine Stimme klang verächtlich und spöttisch zugleich.

„Da hat jemand ganze Arbeit geleistet! Sehr schön! Da wird sicher eine Narbe zurückbleiben! Ich möchte nur zu gerne wissen, wer mir so tatkräftig zuvorgekommen ist. Vielleicht kann ich mich als Sohn des Grafen bei ihm erkenntlich zeigen.“

Faolán wurde wütend. Obwohl er sich zurückhalten wollte, sprudelten die Worte jetzt nur so aus ihm heraus: „Mach dir keine falschen Hoffnungen auf neue Helfer. Der einzige Helfer, den du hattest, war von deiner Art und es würde mich nicht wundern, wenn er aus dem gleichen Schoß entstammte wie du: Es war eine stinkende, gewöhnliche Ratte!“

Normalerweise wäre Drogo nach so einer Beleidigung in Rage geraten, heute riefen die Worte allerdings nur ein lautes Lachen hervor. Reinhart stimmte mit ein, wenn er auch nicht zu begreifen schien, weshalb.

„So weit ist es nun also schon mit dir, Faolán! Kannst dich nicht einmal mehr einer Ratte erwehren!“ Das Lachen veränderte sich in gespieltes Bedauern. „Aber so ist das nun einmal, wenn man sich unter der Erde verkriechen muss. Sind die Ratten nicht schon von Kindheit an deine Gefährten? Seit meinem ersten Tag in diesem Kloster sehe ich dich in ihre Löcher flüchten, als wärest du einer von ihnen. Ich hoffe, es gefällt dir dort unten, denn ich verrate dir jetzt ein kleines Geheimnis: Es wird für den Rest deines erbärmlichen Lebens so bleiben!“

Gespielt gönnerhaft tätschelte Drogo kräftig Faoláns Wange. Wegen der Schläge brach die leichte Verkrustung der Wunde erneut auf und Blut trat wieder aus. Angewidert blickte Drogo auf seine blutverschmierte Hand und wischte sie an Faoláns Habit wie an einem dreckigen Lumpen ab. „Geh mir jetzt aus den Augen! Ich kann deinen Anblick nicht länger ertragen!“

Mit einem groben Stoß schob er Faolán fort und hätte ihn beinahe erneut zu Fall gebracht. Doch der nutzte den Schwung und rannte sogleich weiter. Ein schneller Spurt brachte ihn außer Reichweite der beiden Raufbolde und er wurde nur von ihrem Gelächter verfolgt.

Wenige Augenblicke später hatte Faolán den äußeren Arkadenflur des Hospitals erreicht. Er blieb vor der Tür stehen, klopfte zaghaft an und wartete geduldig auf Einlass. Nach einem kurzen Moment vernahm er das dumpfe „Tretet ein“. Ehrfürchtig betrat er das Reich des Mönches Wunhold: Die klösterliche Kräuterkammer.

Faoláns Blick wanderte sofort nach oben. Die Wände des hohen Raumes waren bis zur Decke mit Regalen versehen, in denen sich unzählige Behälter, Töpfe und Schalen in verschiedenen Größen und Macharten befanden. An Gestellen hingen getrocknete Kräuter. Überall standen Gerätschaften für die Herstellung von Heilmitteln. In Behältern wurden Pasten, Salben, Tränke, Tinkturen, Pillen, Tortelli und weitere Heilmittel aufbewahrt. Das Tageslicht drang durch zwei hohe Fenster in den Raum und eine Mischung verschiedenartiger Düfte stieg Faolán in die Nase. Es war ihm unmöglich, den einzelnen Gerüchen Namen zuzuordnen und bei klarem Verstand zu bleiben.

In der Mitte des Raumes stand ein massives Holzgestell mit einer dicken, schweren Holztafel. Ihre Oberfläche war außergewöhnlich glatt geschliffen und glänzte geölt. Sie bot eine große Arbeitsfläche, auf der sich zwei ausgewachsene Männer bequem hätten nebeneinander hinlegen können. Auf der Tafel befanden sich allerlei Schalen, Mörser, Krüge, Kräuter, eine Waage und vieles mehr.

Bruder Wunhold stand, mit dem Rücken zu Faolán gewandt, auf einer hohen Leiter und inspizierte den Inhalt eines tönernen Gefäßes in einem der Regale. Der Kräuterkundige und verantwortliche Mönch des Abteihospitals war ein kleiner, hagerer Mann, der seine gute Laune nie zu verlieren schien. So sprach er auch jetzt, ohne sich nach Faolán umzudrehen, mit heiterer Stimme: „Was führt Euch in meine bescheidene Kammer, wenn ich fragen darf?“

Faolán räusperte sich verlegen, denn er war es nicht gewohnt, derart respektvoll angesprochen zu werden. „Der … ähm … der ehrwürdige Cellerar schickt mich zu Euch.“

„Ah, Faolán, du bist es!“ Noch immer galt des Heilers Aufmerksamkeit einzig dem Tongefäß. „Was kann ich für dich tun? Benötigt Ivo etwas Besonderes?“

Da Faolán statt einer Antwort lediglich ein Räuspern von sich gab, drehte sich Bruder Wunhold vorsichtig nach ihm um. Als er Faoláns Gesicht sah, hätte er vor Schrecken beinahe das Gleichgewicht verloren. Schnell stellte der Mönch das Behältnis zurück und stieg eilig von der Leiter. Er sprang auf Faolán zu, zog ihn ins Licht der Fenster und betrachtete die Wunde genauer.

„Gütiger Gott, Junge, was ist geschehen?“

Ohne auf eine Antwort zu warten holte er ein Stück sauberes Leintuch, tränkte es in einer Schale mit Flüssigkeit und presste es fest auf die Wunde. „Das wird jetzt etwas schmerzen. Beherrsche dich und drücke das Tuch weiter auf die Wunde. Der Wein wird sie reinigen.“

Faolán widerstand dem starken Verlangen, das Tuch von der Wunde zu reißen und ertrug den brennenden Schmerz. Das Pulsieren in seiner Wange wurde wieder stärker und breitete sich langsam auf seinen gesamten Schädel aus. Der Mönch suchte schnell ein paar Zutaten aus den Regalen zusammen, danach begab er sich an den großen Tisch und begann leise vor sich hinmurmelnd eine dicke Mixtur anzurühren. Erst nach einiger Zeit richtete er seine Worte wieder an Faolán: „Deine Wunde sieht recht ungewöhnlich aus. Ich vermute einen merkwürdigen Unfall oder einen Biss.“

Faolán nickte bestätigend. „Ein Biss.“

„Für einen Hund ist die Wunde allerdings zu klein und nicht tief genug. Ich denke, es war ein Nagetier … eine Ratte vielleicht?“

Erneut nickte Faolán und der Heiler fuhr fort. „Bruder Ivo hat richtig gehandelt, dich sofort zu mir zu schicken. Der Biss einer Ratte kann schlimme Folgen haben.“ Bruder Wunhold schwieg für kurze Zeit, dann fuhr er bedächtig fort: „Aber ich glaube, dass mehr passiert ist als nur der Biss. Die Wunde war schon teilweise geschlossen, ist dann aber noch einmal aufgeplatzt. Was ist geschehen? Bist du gestürzt?“

Dem Mönch war bei seiner kurzen Inspektion der Wunde nichts entgangen. Wunhold wartete geduldig auf eine Antwort, während er weiter an der dicken Paste arbeitete. Schließlich erklärte Faolán, er sei über einen Stein gestolpert und die Wunde wäre bei dem Sturz wieder aufgebrochen.

Bruder Wunhold schaute Faolán tief in die Augen, als erahne er die Lüge. „Mir scheint, dass der Stolperstein einen Namen trägt. Drogo, wenn mich nicht alles täuscht.“ Trotz ausbleibender Antwort nickte Bruder Wunhold sich selbst leicht zu, als verstünde er Faoláns Dilemma. „Wirklich ein harter Brocken, über den man schnell stolpern kann.“

Faolán schaute beschämt zu Boden. Er war bei einer Lüge ertappt worden. Das war nicht nur ein Verstoß gegen die Regeln des heiligen Benedikt, sondern sogar eine Missachtung der Zehn Gebote! In der Regel zog jede Lüge eine harte Strafe nach sich, doch statt großes Aufsehen zu erregen, ging Bruder Wunhold nicht weiter darauf ein. Faolán schaute ihm stumm zu und vergaß dabei beinahe, das getränkte Leinen auf die Wunde zu pressen. Seiner Schmerzen wurde er sich erst wieder bewusst, als der Heiler die Verletzung erneut auswusch. Anschließend trug er einen Teil der Paste auf ein sauberes Tuch auf, legte es direkt auf die Wunde und fixierte es mit einer Binde um den Kopf. Der Schmerz strahlte noch weit über die linke Gesichtshälfte, aber Faolán hoffte auf baldige Linderung durch den Verband, der angenehm kühl auf der heiß pulsierenden Wunde ruhte.

Bruder Wunhold betrachtete sein Werk und war mit dem Ergebnis zufrieden. „Komm’ morgen zur gleichen Zeit wieder, damit ich mir die Wunde ansehen und den Verband wechseln kann. Halte die Wunde sauber! Das ist bei einem solchen Biss besonders wichtig. Sollte sie verunreinigt werden – vielleicht durch einen erneuten Sturz über einen gewissen Stein – so zögere nicht und eile sofort zu mir.“

Faolán nickte, bedankte sich für den Verband und verließ die Kräuterkammer. Kaum hatte er das Hospital hinter sich gelassen, bemerkte er aus den Augenwinkeln zwei Novizen, die ihm mit einigem Abstand folgten. Er hatte keine Lust, erneut davonzulaufen und blieb geradewegs stehen, ohne sich umzudrehen. Er war auf Drogo vorbereitet.

„Dieser Verband sieht nicht besonders vorteilhaft aus. An deiner Stelle würde ich die Kapuze überziehen. Es könnte dir einigen Spott ersparen.“

Mit Erleichterung erkannte Faolán die Stimme seines Freundes Konrad, der ihm mit Ering nachkam. Seit ihrem ersten Treffen waren Faolán und Konrad wie Pech und Schwefel: eng verbunden in einer besonderen Freundschaft. Obwohl sie in ihrem Wesen sehr verschieden waren, waren sie doch unzertrennlich, ja beinahe schon Verschworene im Kampf gegen die Übergriffe des Grafensohnes.

Konrad war muskulös und verbrachte seine freie Zeit lieber damit, sich an geheimen Orten körperlich in verschiedensten Kampftechniken zu trainieren, statt sich den Lehren der Abtei zu widmen. Beim Klosterunterricht war ihm Faolán eine große Stütze. Wenn es arithmetische Probleme in der Klosterschule zu lösen galt, gab es keinen geschickteren Novizen als Faolán. Gleiches galt für die Sprachen in Wort oder Schrift, welche die Knaben lernen mussten. Stets war Faolán Konrad eine Hilfe im geistigen Kampf.

Konrad war im Kloster eigentlich fehl am Platz. Als jüngster Sohn eines Kleinadligen befand er sich gegen seinen Willen in der Obhut der Benediktiner. Für seine Eltern aber war das Kloster die einzig sinnvolle Lösung gewesen. Es war für sie schon schwer genug, seine vier älteren Brüder durchzubringen und einen von ihnen zum Ritter ausbilden zu lassen. Zu gerne wäre Konrad an dessen Stelle. Aus diesem Grunde war sein vorrangigstes Ziel auch nicht das Ablegen des Mönchsgelübdes, sondern das Anlegen einer Rüstung. Er war der geborene Kämpfer. Doch gegenwärtig hatte Konrad keine andere Wahl, als den Weg eines Novizen zu gehen, so sehr ihm das auch widerstreben mochte.

Konrad war mit seinen dreizehn Jahren etwas älter als Faolán und fest entschlossen, das Kloster so bald wie möglich zu verlassen. Er wollte seine Dienste einem wohlhabenden Adligen anbieten, dass er ihn zum Ritter ausbilden möge.

Selbstverständlich waren Kampfübungen im Kloster nicht geduldet und insofern zeitlich wie räumlich kein einfaches Unterfangen. Mit Faoláns Hilfe standen ihm allerdings oft die entlegenen Lagergebäude zur Verfügung, wo er nur von seinem Freund beobachtet wurde. Die Übungen führte Konrad meist mit seinem Stab aus Eichenholz durch. Eine kleinere Variante davon trug er stets im Ärmel seiner Kukulle versteckt mit sich, sollte Drogo unerwartet auftauchen. Anleitung für den Umgang mit dieser Waffe war eine Niederschrift, die Faolán vor einiger Zeit zufällig in die Hände gefallen war. Dieses Buch befasste sich mit den Kampfkünsten unterschiedlicher Stile. Sie war in einer fremdländischen Schrift verfasst und mit außergewöhnlich naturgetreuen Bildern illustriert, die Konrad als Anleitung dienten.

Faolán wusste bis heute nicht, welcher Wahn ihn damals veranlasst haben mochte, ein Buch zu entwenden, zumal er es noch nicht einmal lesen konnte. Zu seiner Erleichterung schien das Werk von niemandem vermisst zu werden, und so hielt er es versteckt, so lange Konrad es benötigte.

Der zweite Novize, der jetzt auf Faolán zukam, war Ering. Dem Gemüt nach glich er mehr Faolán. Das war aber auch schon die einzige Gemeinsamkeit. Hager von Statur, war er ein aufgeweckter Junge, der seinen Verstand einzusetzen wusste, vor allem im Disput. Dies zeigte sich in Bemerkungen, die mit Sarkasmus gespickt waren und oft auf den tumben Drogo abzielten. Der verstand diesen Sarkasmus allerdings nicht und schaute meist irritiert auf, wenn nach Erings Aussprüchen die Umstehenden in plötzliches Gelächter ausbrachen. Das brachte Ering jedoch ganz nach oben auf Drogos persönlichem Register seiner Gegner.

Ering war etwa zwei Jahre nach Faolán dem Kloster beigetreten. Zu Beginn hielt er sich bedeckt, mischte sich nirgends ein. Er war ein Außenseiter. Doch der anhaltende Konflikt zwischen Faolán und Drogo blieb auch ihm nicht verborgen. Eines Tages bezog er schließlich Position und stellte sich unerwartet auf Faoláns Seite. So entstand schon bald eine besondere Freundschaft mit Faolán und Konrad. Eine Freundschaft, die von den übrigen Novizen schnell den Beinamen „Dreigestirn“ bekam. Ein Name, den sie nicht ohne einen gewissen Stolz trugen.

Im Gegensatz zu Konrad war Ering mit Leib und Seele Novize. Er wollte sobald wie möglich die Mönchsweihe empfangen, um seiner Berufung zum Priester nachgehen zu können. Das war nicht nur der vorübergehende Wunsch eines Jungen, sondern eine feste Überzeugung, an der Ering keinen Zweifel ließ. Er wollte sein Leben dem Herrn widmen und für das Seelenheil der anderen sorgen.

Ering konnte mit Worten viel erreichen. Er verstand es, behutsam und ruhig zu argumentieren, Schriften auszulegen und zu interpretieren, aber auch andere zu überzeugen und zu begeistern. Faolán konnte sich Ering sogar als Oberhaupt eines Klosters vorstellen, denn er besaß den notwendigen Ehrgeiz dazu.

Faolán bewunderte die Pläne seiner Freunde, weil er selbst keine vorzuweisen hatte. Zwar fühlte er sich im Benediktinerkloster zuhause, doch im Innern wusste er, dass er nicht auf ewig hier bleiben würde. Woher er das wusste, konnte er nicht genau sagen, dieses Gefühl war einfach vorhanden.

Faolán schob diese Gedanken beiseite, als seine beiden Freunde vor ihm standen. Konrad sprach ihn auf den Verband an. „Hast du wenigstens den Kampf gewonnen? Und wie sieht dein Gegner aus? Liegt er im Hospital?“

„Du redest, als hätte er gegen Drogo eine Chance“, stellte Ering fest.

„Nicht Drogo. Ich meinte die Ratte“, verteidigte sich Konrad und ein verschmitztes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.

Überrascht wandte sich Faolán ihm zu: „Wieso wisst ihr darüber Bescheid?“

Noch bevor er die Frage ausgesprochen hatte, kannte er bereits die Antwort. Ering erklärte die Lage dennoch: „Drogo posaunt es überall herum. Wahrscheinlich entspricht nur die Hälfte davon den Tatsachen, um dich lächerlich zu machen. Wir haben uns deshalb schon eine Gegenstrategie ausgedacht, um seinen Plan zu durchkreuzen. Dabei kämpfen wir mit seinen eigenen Waffen.“

Sie trugen ihren Plan vor und der Vorschlag war gut gemeint. Doch Faolán lehnte ihn entschlossen ab und ging weiter. Er wollte keine Auseinandersetzung mit Drogo, denn genau darauf zielten seine Lügengeschichten ab.

Konrad sah das anders: „Warum sollen wir es ihm nicht heimzahlen? Erst streuen wir ein paar Gerüchte in die Welt und dann, wenn Drogo uns zur Rechenschaft ziehen will, darf er wieder einmal meinen Stab spüren.“

Es war eine grobschlächtige Methode, die Konrad vorschlug. Gewiss hatte sich Ering die Sache etwas eleganter vorgestellt. Ob grob oder elegant, letztendlich lief es auf das hinaus, was Konrad in so einfache Worte gefasst hatte: Eine Prügelei! Aber das wollte Faolán vermeiden.

„Hört auf damit!“, forderte er seine Freunde auf.

„Aber weshalb?“

Erneut blieb Faolán stehen und drehte sich seinen Freunden zu.

„Versteht ihr denn nicht? Wenn ich mich darauf einlasse, so würde ich ihn zwar mit seinen eigenen Waffen bekämpfen. Das hieße aber auch, dass ich mich auf sein Niveau herab begeben müsste. Ich würde ihm also folgen und er hätte auf diese Weise bekommen, was er wollte, selbst wenn er bei eurem Plan als Verlierer dastände. Damit hätte er in gewisser Weise in jedem Fall gewonnen. Zudem verbreitet er nur ein paar Gerüchte. Was können die schon anrichten? Sobald der Verband entfernt und die Wunde verheilt ist, wird sie niemand mehr hören wollen. Ein paar Gerüchte mehr werden mir nicht schaden.“

Während Konrad enttäuscht und ratlos die Hände in die Luft stieß, zeigte Ering mehr Verständnis.

„Vielleicht solltest du die Angelegenheit tatsächlich ohne Gegenwehr an dir vorüberziehen lassen. Doch täusche dich nicht, was die Macht der Worte angeht, seien sie geschrieben oder nur gesprochen.“

Ering hatte natürlich Recht, Faolán wusste das nur zu gut. Doch im Augenblick kümmerte es ihn nicht, was Worte oder Gerüchte anrichten konnten. Er hatte schlichtweg keine Lust, sich wegen Drogo den Kopf zu zerbrechen. Er wollte jetzt nur in aller Ruhe zum bevorstehenden Unterricht gelangen.

„Es ist Zeit für die Arithmetik. Wir müssen uns sputen!“, sagte Faolán und beendete damit das Thema. Die Erwähnung des Unterrichtes zeigte selbst bei Konrad Wirkung und zu dritt eilten sie zum Lehrsaal im Noviziat. Nach der Warnung seiner beiden Freunde hatte Faolán mehr Spott über seinen Verband erwartet, als ihm entgegengebracht wurde. Der Abend nach dem Zwischenfall blieb weitestgehend ohne abfällige Kommentare, wenn auch der Verband natürlich alle Blicke auf sich zog. Lediglich Drogo und seine Getreuen ließen Bemerkungen fallen, die jedoch wirkungslos blieben.

Am Morgen darauf war Drogo wesentlich gereizter. Offensichtlich ärgerte ihn die Tatsache, dass Faoláns Rattenbiss keinen Anlass zur Belustigung und zum Spott bot. Faolán fragte sich, ob er nicht somit und ganz ohne sein Zutun schon einen Erfolg gegen Drogo erzielt hatte. Er blieb aber weiterhin vorsichtig, denn missgelaunt war sein Widersacher noch gefährlicher als sonst.

Am Nachmittag stand der Wechsel des Verbandes an und Faolán machte sich auf den Weg zum Hospital. Er wollte den kurzen Weg ohne Konrads Begleitung zurücklegen. Vorsichtig schlich er über die Flure, um Drogo nicht in die Arme zu laufen. Leider vergeblich.

Sie hatten Faolán regelrecht aufgelauert, ganz in der Nähe des Hospitals. Es ging alles so schnell, dass der Novize das Geschehen erst begriff, als er umstellt war. Drei von Drogos Freunden blockierten plötzlich den Weg und ergriffen Faolán, bevor er fliehen konnte. Sie hielten ihn fest und zogen ihn bis zur Ecke des überdachten Säulenganges. Drogo kam auf Faolán zugeschlendert, die Arme gelassen hinter dem Rücken verschränkt und sprach ihn mit einem gehässigen Grinsen an: „Ich glaube, es ist Zeit, deine Wunde zu versorgen.“

Mit einem plötzlichen Ruck entfernte Drogo die Leinenbandage und riss dabei das anhaftende Tuch von der Wunde. Der Schmerz war so immens, dass Faolán kurz aufschrie. Drogo grinste zufrieden und inspizierte die Verletzung genauer. „Sieht doch schon viel besser aus, nicht wahr? Was meint ihr, meine sachkundigen Freunde?“

Einheitliches Grinsen breitete sich auf den Gesichtern der anderen Novizen aus. Faolán hatte keine Ahnung, was sie mit ihm vorhatten, doch Drogo ließ ihn nicht lange im Ungewissen. „Heute haben wir eine ganz spezielle Heilpaste für dich zubereiten lassen, lieber Faolán, von einem Meister seines Faches. Wir wollen doch auf jeden Fall vermeiden, dass dir noch ein paar Rattenzähne oder gar ein unansehnlicher Schwanz aus dem Hinterteil wächst. Das wäre selbst für dich zu abartig.“

Gespielte Sorge zeigte sich in Drogos Gesicht und Faolán spürte Zorn in sich aufsteigen. Doch Drogos Mitläufer hatten ihn fest im Griff, sodass er keine andere Wahl hatte, als zu hoffen, dass die anstehende Spezialbehandlung schnell vorübergehen würde.

Diese aufkeimende Hoffnung erstarb jedoch schlagartig, als Drogo eine kleine Klinge unter seiner Kutte hervorzog. Es war nicht mehr als ein kurzes Küchenmesser, doch es wirkte auf Faolán sehr bedrohlich. Drogo drehte die Schneide im Glanz der Sonne und betrachtete das Lichtspiel scheinbar nachdenklich. „Ich glaube es wäre besser, die Heilpaste direkt auf die offene Wunde einwirken zu lassen.“

Mit diesen Worten festigten sich die Griffe um Faolán und hielten seinen Kopf, dass er sich nicht mehr bewegen konnte, so sehr er sich auch wand. Das Messer kam bedrohlich nahe und setzte oberhalb der Wunde an. Aus Angst, die Klinge könnte ihm noch mehr schaden, erstarrte Faolán schlagartig.

Ein stechender Schmerz breitete sich auf seinem Gesicht aus, als Drogo mit groben Bewegungen die Verkrustung der Wunde abschabte. Natürlich achtete er nicht darauf, nur das alte Blut zu entfernen, sondern schnitt auch rücksichtslos in gesundes Fleisch. Faolán sog Luft durch die zusammengebissenen Zähne, nur so konnte er einen lauten Schrei unterdrücken. Blut begann wieder an seiner Wange herunterzulaufen.

Schließlich ließ Drogo von Faolán ab und betrachtete seine Arbeit zufrieden. „Das sieht doch erheblich besser aus … die Paste bitte!“

Einer der Hörigen löste seinen Griff um Faolán und reichte Drogo ein Leinenbündel, das dieser sorgfältig öffnete. Der Gestank, der dem Päckchen entstieg, verriet Faolán sofort, um welchen Inhalt es sich handelte. So war es für ihn keine Überraschung, als ihm ein Haufen frischer Schweinedung vor Augen gehalten wurde. Drogo rümpfte die Nase. Stärker als zuvor versuchte Faolán seinen Kopf wegzudrehen, doch er wurde noch immer wie in einer Presse festgehalten.

Zunächst schob Drogo den Dung direkt unter die Nase seines Opfers. Er erfreute sich an Faoláns Abscheu und höhnte: „Ich weiß, es riecht nicht angenehm, doch wer erwartet schon einen betörenden Duft? Wichtig ist doch nur, dass diese Paste auch ihre Wirkung zeigt. Ist da der Geruch nicht Nebensache?“

Drogo wog das Päckchen noch einmal in der Hand, dann presste er es auf die frische, blutende Wunde. Dort hielt er es fest, bis der Dung an den Seiten hervorquoll.

Faoláns Schmerzen waren unbeschreiblich!

Er versuchte mit aller Kraft zu entkommen, jedoch vergebens. Erst als er die Schmerzen nicht länger aushielt und einen lauten Schrei von sich gab, wurde er plötzlich freigelassen. Kraftlos fiel er zu Boden. Sofort wollte er sich die Wange säubern, doch Drogos Fuß war schneller. Er stellte sich auf eine von Faoláns Hände, um ihn so am Boden zu halten. Erneut schrie Faolán vor Schmerz auf.

„Was ist hier los?“, rief plötzlich eine durchdringende Stimme.

Überrascht drehten sich die vier gehässigen Novizen um. Faolán erkannte Bruder Notger, der soeben aus einer nahen Tür getreten war. Der Mönch kam zielstrebig auf die Jungen zu. Noch bevor er sie maßregeln konnte, kam ihm Drogo mit einer Erklärung zuvor. Faolán sei gestürzt und sie wären auf seinen Schrei hin sofort zu Hilfe geeilt.

Der Mönch beäugte Drogo zweifelnd. Da Faolán nichts Gegenteiliges berichtete, schenkte Bruder Notger ihm schließlich Glauben. Er gebot Drogo, den am Boden liegenden Novizen auf die Beine zu helfen und sich augenblicklich zum Noviziat zu begeben.

Bevor er ging, wandte er sich an Faolán:

„Du solltest dir besser das Gesicht waschen. Mir scheint, du bist in einen Haufen Dung gefallen und so stinkend werde ich dich auf keinen Fall in meinem Unterricht dulden. Das Blut solltest du ebenfalls abwaschen. Am Ende besudelst du mir noch eine meiner wertvollen Schriften.“

Faolán nickte kurz mit gesenktem Haupt, die Antwort kam allerdings von Drogo: „Wir werden ihm behilflich sein. Er scheint heute nicht ganz sicher auf den Beinen zu stehen.“

„Das ist sehr zuvorkommend. Erscheint dennoch pünktlich oder tragt die Konsequenzen“, bemerkte Bruder Notger abschließend und ging.

Augenblicklich nahmen die vier Novizen Faolán in ihre Mitte und eskortierten ihn zum Badhaus. Auf dem Weg dorthin begegneten sie weder Konrad noch Ering und so ergab sich für Faolán keine Gelegenheit, seinen Häschern zu entkommen. Im Badhaus waren die Jungen erneut ungestört, denn die Mönche hielten es weniger mit der körperlichen als mit der seelischen Reinheit.

Faoláns Gesichtswäsche gestaltete sich denkbar einfach. Seine Eskorte steckte ihn einfach kopfüber in einen mit Wasser gefüllten Waschzuber. In dieser Position hielten sie ihn fest, bis Faolán die Luft ausging und sein Strampeln nachzulassen begann. Erst jetzt ließen sie ihn los und er fiel, nach Luft ringend und hustend, zu Boden. Das grausame Lachen der Jungen erfüllte das Badhaus. Es klang in Faoláns Schädel dröhnend wider, wie in einer leeren Halle. Dieses Lachen war alles, was noch existierte.

Langsam verklang es und Stille kehrte ein. Faolán öffnete die Augen und stellte erleichtert fest, dass er allein war. Erschöpft raffte er sich auf und rieb sich das Gesicht am Habit trocken. Dann hob er den Verband vom Boden auf und wusch ihn kraftlos aus. Das Leinen war zwar völlig durchnässt, doch es war das Einzige, womit er die frisch blutende Wunde einigermaßen abdecken konnte.

Noch einmal begab sich Faolán auf den Weg zum Hospital, denn jetzt war ein Verbandswechsel dringend notwendig. Auf halber Strecke begegnete er Konrad, der gerade zum Unterricht hastete.

„Großer Gott, was ist dir widerfahren? Du bist ja völlig durchnässt! Und ein Gestank geht von dir aus, als hättest du in einem Schweinekoben geschlafen.“

Erst jetzt wurde Faolán bewusst, dass die obere Hälfte seines Habits ebenfalls so nass und blutig war wie der provisorische Verband. Langsam konnte er sich ein Bild davon machen, wie er wohl aussah und was zu tun sei. Er sollte sich neue Gewandung anlegen, bevor ihn noch ein Mönch wegen seines Aufzuges bestrafen würde. Das Risiko, zu spät zum Unterricht zu kommen, musste er in Kauf nehmen. Konrad begleitete Faolán, um sicher zu gehen, dass es zu keinem weiteren Übergriff kommen würde.

Nachdem er frische Kleidung übergestreift hatte, wollte Faolán wieder zum Hospital aufbrechen, doch Konrad hielt ihn zurück. „Vergiss den Verband, das schaffen wir niemals vor dem Unterricht. So wie ich Bruder Notger einschätze, wartet er ohnehin schon auf uns. An deiner Stelle würde ich den Verbandswechsel auf später verschieben, es sei denn, du bist auf eine Strafe aus. Ich darf dich daran erinnern, dass unser ehrenwerter Bibliothekar schon bei weitaus geringeren Vergehen als zu spätem Erscheinen harte Strafen verhängt hat. Aber ich begleite dich natürlich, solltest du dennoch zu Bruder Wunhold gehen wollen.“

‚Nein’, dachte sich Faolán, ‚ich kann nicht auch noch die Bestrafung eines Freundes riskieren, nur weil Drogo mir in die Quere gekommen ist. So beschloss er, seine Wunde erst nach der Schriftlehre versorgen zu lassen. Die Blutung ließ ohnehin bereits nach.

„Du hast Recht, Konrad. Komm’, lass uns gehen.“

Im Lehrsaal des Noviziats verhielt es sich genau so, wie es Konrad vermutet hatte. Bruder Notger wollte bereits mit dem Unterricht beginnen und wartete schweigend vor den still an ihren Pulten stehenden Novizen. Mit gesenktem Blick schlichen sich die beiden Verspäteten leise zu ihren Plätzen. Offensichtlich war dies in den Augen des Mönches genug der Reuebekundung, denn er begann mit der Unterweisung, ohne weiter auf den Vorfall einzugehen.

Auch wenn der Bibliothekar ihn ignorierte, so war sich Faolán doch unzähliger Blicke der Novizen bewusst, die ihm folgten. Er gab sicherlich ein merkwürdiges Bild ab, mit seinem nassen Haupthaar und dem dreckigen, schäbigen Verband. Trotz des frischen Habits trug er noch immer den unverkennbaren Gestank von Schweinedung mit sich. Die Novizen um ihn herum hielten immer wieder den Atem an oder hüstelten, doch Faolán beachtete es nicht weiter.

Möglichst unauffällig schaute er zu Ering, der mit einem fragenden Gesichtsausdruck von seinen Freunden gerne gewusst hätte, was vorgefallen war. Da es jetzt allerdings keine Möglichkeit zum Sprechen gab, bekundete Faolán mit einer knappen Handbewegung, dass alles in Ordnung sei.

Bruder Notger verteilte bereits verschiedene Schriftstücke aus wertvollem Pergament und platzierte sie in sicherem Abstand vor seinen Schülern auf den Pulten. Es war ihnen untersagt, die Bögen zu berühren. Auf diese Weise wollte der Mönch verhindern, dass seine Kostbarkeiten durch die Unachtsamkeit der Knaben während ihrer stümperhaften Schreibversuche beschädigt würden.

Ähnlich verhielt es sich mit der Tusche. Die kleinen, meist tönernen Gefäße standen stets verschlossen in den dafür vorgesehenen Versenkungen der Schreibpulte, selbst während des Unterrichtes der Novizen. Keinem der Knaben war es erlaubt, das kostbare Schwarz zu benutzen.

Nach Ansicht des Bibliothekars besaß noch keiner von ihnen die Fertigkeit, eine fehlerfreie Abschrift anzufertigen. Ausschließlich für diese oder für neue Dokumente durfte die Tusche verwendet werden, und dann nur von den ausgebildeten Schreibern der Abtei.

Faolán sah diese strikte Regel in seinem Falle als unsinnig an. Seit Monaten war ihm bei den Schreibübungen kein einziger Fehler mehr unterlaufen. Es schien Bruder Notger dennoch nicht Beweis genug für seine Fähigkeiten zu sein.

So blieb auch Faolán nichts weiter übrig, als vor seinem hölzernen Rahmen zu warten, in dem sich sehr feiner, feuchter Sand befand. Sobald der Pergamentbogen vor ihm lag, musste er mit einem angespitzten Stäbchen eine Abschrift des Werkes auf der geglätteten Sandoberfläche anfertigen. War diese Abschrift beendet, wurde der Sand nach einer Begutachtung durch den Bibliothekar erneut geglättet. Danach musste mit einer weiteren Übung begonnen werden. Auf diese Weise wurde die Verschwendung wertvoller Materialien durch Schreibübungen verhindert.

Faolán war stets hoch konzentriert und gab sein Bestes, vor allem bei Bruder Notger. Dabei vergaß er nicht nur seine unmittelbare Umgebung, sondern auch den heutigen Zwischenfall mit Drogo und den pulsierenden Schmerz in seiner linken Gesichtshälfte. Er schrieb exakt und flink, führte das Stäbchen mit einer bemerkenswerten Präzision in parallelen Zeilen über den Sand.

Wie jedes Mal legte er auch heute als Erster seine Holztafel zur Durchsicht dem Bibliothekar vor. Der Mönch fand keinen Fehler, wirkte aber trotzdem etwas verdrossen. Faolán führte es auf seine Verspätung zurück und war erleichtert, dass der Bibliothekar ihn kommentarlos mit einem weiteren Absatz beauftragte.

Auf seinem Weg zurück musste er Drogos Pult passieren. Faolán achtete nicht auf seinen Widersacher, doch Drogo hielt es anders und stellte ihm ein Bein. Faolán stolperte darüber, konnte sich jedoch gerade noch auf den Beinen halten, ohne die Schreibtafel zu verlieren oder Sand zu verschütten.

Sein Blick fiel verärgert auf den Sohn des Grafen. Im Grunde war nichts passiert – Faolán hätte einfach weitergehen und Drogo ignorieren können. Hätte er das getan, so wäre weiter nichts geschehen.

Doch Faolán entschied sich diesmal anders!

Er richtete sich auf und wandte sich an Drogo, der ihn mit einem spöttischen Grinsen ansah. In diesem Augenblick stieg in Faolán all der Hass hoch, den er immer zurückgehalten hatte. Sein Herz begann wild zu schlagen und das Blut rauschte in seinen Ohren. Ungewohnte Hitze wallte in ihm auf. Einige Pulte entfernt versuchte Ering mit stummen Gesten Faolán vor einem Wutausbruch zu bewahren, doch der nahm seinen Freund nicht wahr.

Es gab nur noch Drogos dämliches, provokantes Grinsen und dessen Stimme: „Es stinkt hier gewaltig nach Schweinedung!“

Obwohl die Worte nur geflüstert waren, dröhnten sie dennoch in Faoláns Ohren. Sofort hatte er eine Antwort parat: „Wen wundert es, schließlich steht ja auch ein Schweinehirt vor mir!“

„Pass auf, dass du nicht wieder den Boden unter den Füßen verlierst! Oder verlangt es dich danach, die Erde zu meinen adligen Füßen zu küssen?“

Faolán kochte vor Wut. Drogos hochmütiges Auftreten widerte ihn an. Seine freie Hand suchte blind nach dem erstbesten Gegenstand auf dem Pult, den sie in Drogos Visage schleudern könnte. Sie wurde fündig! Doch bevor Faolán begriff, was er auf seinen Widersacher warf, war es bereits zu spät. Noch in der Luft begann sich das Tuschegefäß zu entleeren. Der Topf landete schließlich auf dem Habit des Novizen. Das Resultat war nicht nur ein von Kopf bis Fuß besudelter Drogo, sondern auch zahlreiche schwarze Flecken auf den umstehenden Pulten, dem Steinboden und den kostbaren Schriftstücken des Bibliothekars.

Bestürztes Schweigen beherrschte den Saal. Niemand rührte sich, nicht einmal Bruder Notger. Drogo stand wie angewurzelt da, das schwarz gefleckte Grinsen in seinem Gesicht war gefroren. Faolán reagierte als einziger und drückte auch noch die Sandtafel in die Fratze seines Gegenübers.

Noch bevor Drogo begriff, was Faolán ihm angetan hatte, waren zwei seiner Getreuen zu ihm geeilt. Sie hatten Bruder Notger nicht vergessen und wollten verhindern, dass sich ihr junger Herr zu einer unüberlegten Tat hinreißen ließ. So blieb dem festgehaltenen Drogo nichts weiter übrig, als Faolán eine Drohung an den Kopf zu werfen.

„Das wirst du noch büßen, du kleine Ratte. Mit Blut wirst du dafür bezahlen, das schwöre ich dir.“

Diese Worte holten Faolán wie aus einem bösen Traum zurück. Er hätte sich in diesem Augenblick am liebsten selbst geohrfeigt. Niemals hatte er geglaubt, dass Drogos Hunde zu einer solchen Geistesgegenwart fähig wären und ihren jungen Herrn zurückhalten würden, um alles weitere dem Bibliothekar zu überlassen.

Mit einem Aufschrei löste sich Bruder Notger aus seiner Starre und stürmte auf die Pulte der Novizen zu, die allesamt schweigsam dastanden und nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten. Die Sorge des Mönches galt jedoch nicht Drogos Misere, sondern seinen wertvollen Pergamenten, die mit Tusche befleckt waren. Entsetzt riss der Bibliothekar die besudelten Dokumente an sich und versuchte mit dem Ärmel seines Habits die noch feuchte Tusche abzuwischen, bevor sie gänzlich vom Pergament eingesogen wurde. Je mehr Flecken er entdeckte, umso größer wurde sein Ärger.

Dann geschah etwas, was Faolán bisher für unmöglich gehalten hatte. Mit weit aufgerissenen Augen und doch blind vor Wut blieb Bruder Notger schwer atmend vor ihm stehen. Doch er sah in diesem Moment nicht seinen besten Schüler vor sich, dem ein Missgeschick unterlaufen war, sondern den mutwilligen Zerstörer seiner geliebten Schriftstücke. Mit all seiner Kraft schlug der Mönch Faolán plötzlich in sein ohnehin schon geschundenes Gesicht, sodass dieser zu Boden fiel.

Absolute Stille herrschte im Raum, einzig das erregte Atmen des Bibliothekars war zu hören. Schließlich brachte er doch noch ein paar sinnlos aneinandergereihte Worte hervor. „Du …? Wie …? Ich …!“

Faolán rappelte sich auf und hielt sich den Kopf. Er versuchte etwas zu sagen, doch für eine Entschuldigung ließ ihm der Bibliothekar keine Zeit. Er packte seinen Schüler an der Kapuze und zog ihn hinter sich her, einer harten Strafe entgegen. Zu seinem Schrecken musste Faolán erkennen, dass Bruder Notger ihn hierzu nicht zu Abt Degenar zerrte …

Prior Walram stand an dem Pult in seiner Kammer und starrte auf den Pergamentbogen vor sich. In seiner Hand hielt er eine Feder, bereit zu schreiben. Doch er rührte sich nicht. Seine Gedanken waren klar, doch er war unfähig, sie niederzuschreiben.

Missmutig legte Walram die Feder nieder. Schon oft hatte er versucht, diese Zeilen zu verfassen, es jedoch nie fertig gebracht. Nicht nur darüber war er verärgert, sondern auch über die Tatsache, dass er dieses Schriftstück überhaupt verfassen musste – und es dennoch nicht tat. Walram war unschlüssig. Wie sollte er dem Grafen nur vermitteln, was ihm wichtig war, ohne dabei zu viel zu wagen?

Der Prior wusste, dass Rurik hart durchgreifen würde, sollte ihn jemand mit einer unverhältnismäßigen Forderung in Bedrängnis bringen. Dabei war die Forderung in Walrams Augen nur allzu berechtigt. Er wollte nicht mehr als das, was Rurik und er in ihrem Abkommen damals vereinbart hatten. Schließlich wollte er doch nur Abt dieses kleinen Klosters werden und nicht gleich Bischof – obwohl er dagegen auch nichts einzuwenden hätte.

Rurik hätte ihn laut ihres Abkommens in diesem Vorhaben unterstützen sollen, so wie Walram mit seinem Einfluss dafür gesorgt hatte, dass Ruriks Überfall auf die Greifburg von Erfolg gekrönt war. Doch Rurik hatte sein Wort gebrochen, angeblich weil Walram die Vereinbarung nicht eingehalten hätte, indem er dem Grafen weder den Siegelring noch seinen Neffen Rogar ausliefern konnte. Als ob das noch wichtig gewesen wäre, nachdem Rurik von König Otto zum Grafen ernannt worden war. Damit war doch alles erfüllt, was in dem Abkommen zwischen ihm und Walram gefordert war – bis auf den Vorsitz der Abtei!

Noch immer hatte Degenar hier das Sagen, obwohl es an ihm, Walram, wäre, die Führung zu übernehmen. Doch ohne Ruriks Rückhalt war das unmöglich. Schuld daran war nur dieser Junge. Faolán nannte er sich schon seit Jahren, obwohl Walram sich sicher war, dass der richtige Name Rogar lautete. Aber auch hier war er machtlos, es gab keinen Beweis, den er Rurik hätte vorlegen können. Würde es diesen Jungen doch nur nicht geben! Wäre er doch als kleines Kind an seiner Krankheit verendet, wie all die anderen Kinder des einstigen Grafen!

Je länger der Prior darüber nachdachte, umso wütender wurde er. Was die Krankheit nicht geschafft hatte, würde er am liebsten selbst vollbringen. ‚Ich hätte keine Hemmung’, dachte sich Walram und ballte hasserfüllt seine Fäuste. Ja, er wäre zu jeder Tat bereit. Er war es damals und er wäre es auch heute. Um seinem Ärger Luft zu machen, wollte er aus seiner Kammer stürmen und den erstbesten Novizen bestrafen, der ihm über den Weg lief, als sich plötzlich die Tür öffnete. Bruder Notger trat ein und zu Walrams Überraschung zog er Faolán hinter sich her.

„Entschuldigt die Störung, ehrwürdiger Prior“, begann der Bibliothekar aufgebracht, „doch ich muss Euch über ein Vergehen dieses Novizen unterrichten.“

Walrams Zorn verflog schlagartig. „Bitte, Bruder Notger, keine falsche Scham. Berichtet mir alles, jedes Detail …“

Es folgte ein ausführlicher Bericht. Während der Bibliothekar von Faoláns Missetat erzählte und dabei zum Beweis mit beschmutzten Pergamenten herumfuchtelte, breitete sich auf Walrams Gesicht ein zufriedenes, schadenfrohes Lächeln aus. Nachdem Bruder Notger seine Ausführungen beendet hatte, dankte ihm der Prior und er versprach, sich der Sache voll und ganz zu widmen. Der Schriftgelehrte verließ daraufhin erschöpft, aber dankbar, die Räume des Priors und Faolán war mit Walram allein.

Wie ein Wolf, der seine Beute einkreiste, begann der Prior um Faolán herum zu gehen. Er hatte keine Eile, nicht nach all den Jahren des Wartens. War dies eine Fügung des Allmächtigen? Er wusste es nicht und es war ihm auch gleich. Wichtig war nur, dass Faolán jetzt hier war – und er wollte es genießen.

Bedächtig suchte Walram eine geeignete Rute aus. Er hatte viele davon, und er wollte sicher gehen, dass sie nicht am Novizen zerbrechen würde. Unter sachkundigem Blick ließ er seine Wahl mehrfach durch die Luft zischen, dann wandte er sich dem Jungen zu. Faolán stand regungslos da, wagte kaum zu atmen. Zufrieden sah Walram offene Furcht in dessen Augen.

Der Prior festigte seinen Griff um die Rute, bevor er mit einem diabolischen Grinsen zu Faolán sprach: „Endlich ist es soweit! Du hast ja keine Ahnung, wie lange ich mich schon nach diesem Augenblick sehne. Du hast nicht die leiseste Ahnung …“

Und dann schlug Walram zu.

* * *

Faolán erwachte und nahm als erstes den Schmerz wahr. Nicht nur in der linken Wange, sondern an seinem gesamten Körper. Es war ein neuer, brennender Schmerz. Die verabreichten Stockhiebe waren nicht ohne Wirkung geblieben. Walram hatte darauf geachtet, sie gut zu verteilen und sowohl Rumpf als auch Gliedmaßen gleichermaßen zu misshandeln. Doch am stärksten pulsierte der Schmerz in Faoláns Schädel, der von der Bisswunde stammte und weit ausstrahlte.

Der Novize wagte nicht, sich zu bewegen. Er blieb regungslos auf dem kalten Steinboden liegen und überlegte, wie lange er wohl schon in dieser kargen Zelle stecken mochte. Er hatte jede Erinnerung und Wahrnehmung jenseits des Schmerzes verloren. Weder hatte er jemanden zu Gesicht bekommen, noch wurde ihm etwas zu Essen oder zu Trinken gebracht. Sein Rachen war ausgetrocknet und sein Magen leer. Hatte man ihn vergessen? Oder war dies Teil von Walrams auferlegter Strafe?

Das Denken fiel ihm schwer, sein Kopf glühte. Vorsichtig berührte er die verletzte Wange und bereute es sofort. Der reißende Schmerz war unbeschreiblich, und die ganze Seite seines Gesichtes brannte höllisch. Der Verband lag auf dem Steinboden, doch es war Faolán zu anstrengend, ihn wieder anzulegen.

Ganz vorsichtig tastete der Novize noch einmal die Wange ab, den Schmerz mit zusammengebissenen Zähnen aushaltend. Die Wunde war geschlossen und verkrustet, doch sie fühlte sich hart und prall an, als wolle sie aufbersten. Es wäre jetzt höchste Zeit, das Hospital aufzusuchen, doch die Büßerzelle blieb unerbittlich verriegelt.

Faolán versuchte, die Tür zu erreichen, aber er konnte sich nicht aufraffen. Er streckte eine Hand aus, doch sie war zu weit von der Tür entfernt. Schon nach wenigen Augenblicken begann sie zu zittern und fiel kraftlos zu Boden. Erschöpft drehte sich Faolán auf den Rücken und starrte an die Decke der kalten Zelle, ohne sie tatsächlich zu sehen … Seine Augen wurden glasig und eine willkommene Dunkelheit brach über ihn herein.

* * *

Faolán lag wach auf dem Zellenboden, doch es kam ihm vor, als schliefe er noch. Er war der Welt auf merkwürdige Weise entrückt und es schien ihm unmöglich, diesem Dämmerzustand zu entkommen. Der Novize versuchte, sein Umfeld zu begreifen, doch es entglitt ihm jedes Mal, wenn er glaubte, es festhalten zu können. Nur mit Mühe konnte er seine Augenlider zeitweise offen halten, immer wieder umfing ihn bewusstlose Schwärze.

Die Tür zu seiner Zelle öffnete sich. Grelles Licht zerschlug die wohltuende Dunkelheit. Schatten bewegten sich und Wasser rann plötzlich über seine glühende Stirn. Die Kühlung war nur von geringer Dauer, die Feuchtigkeit schien auf seiner Haut augenblicklich zu verdampfen. ‚Das Feuer der Hölle, dachte Faolán und erinnerte sich an ein Paar glühende, rote Augen.

Mit einem Mal fiel der steinerne Boden unter ihm ab und Faolán verlor jeglichen Halt. Die Decke kam ihm entgegen, und er fühlte sich schwebend, wie von Engeln getragen. Doch hier gab es keine Engel, nur düstere Schatten. Einer von ihnen trat dicht an ihn heran und flößte ihm ein Gebräu ein. Ein Brennen breitete sich plötzlich vom Rachen bis in den Magen aus und Faolán hätte den Sud am liebsten wieder von sich gegeben. Doch er war zu schwach um sich dagegen zu wehren.

Danach begann er aus der Zelle zu schweben, weiter durch die Hallen des Klosters, ohne auch nur eine Gliedmaße zu bewegen. Merkwürdige, dunkle Gestalten begleiteten ihn stumm auf seinem Weg. Gebäude, mit ihrer aus Stein geschlagenen Allmacht, zogen an ihm vorüber und blickten mit ihren dunklen Fenstern anklagend und verurteilend auf ihn herab. War das der Weg zum Jüngsten Gericht?

Faolán versuchte auszumachen, wo er sich befand. Er vernahm Stimmen, deren Worte er nicht verstand. War das die Sprache der ewigen Verdammnis? Schließlich kam ihm etwas bekannt vor. Es war abermals eine Stimme und Faolán glaubte, sie einem Mann zuordnen zu können, den seine Erinnerung als Abt Degenar bezeichnete. Er hörte sie für einen kurzen Augenblick, dann verschwamm wieder alles und er besaß keine Vergangenheit mehr. Die strahlende Sonne blendete ihn, trachtete ihn zu verbrennen. Weiter schwebte er durch die Welt, mit einem Schmerz, der unbarmherzig hinter seinen Augäpfeln hämmerte.

Dunkelheit und Kälte umfingen ihn mit einem Mal. Faolán öffnete seine Augen und fand sich in einer Kammer wieder, die sich um ihn zu drehen schien. Der Raum streckte sich weit in die Höhe und eine harte Holzplatte schmiegte sich an seinen Rücken. Faolán glaubte das Schlagen einer Tür zu vernehmen und es wurde noch finsterer.

Im schwachen Licht sah Faolán Bruder Wunholds Antlitz über sich schweben. Weshalb er sich an ihn erinnern konnte, wusste Faolán nicht. Wahrscheinlich hatte es mit seiner Verdammnis zu tun. Der Kopf des Mönches war so unerträglich nahe, dass seine Nasenspitze wie flüssiges Wachs mit Faoláns Gesicht zu verschmelzen begann. Lippen flüsterten Worte, die wie dicker Sirup in Faoláns Ohren drangen, sie zu verstopften drohten und die Welt immer dumpfer klingen ließen. Am liebsten hätte er geschrien, wäre er dazu in der Lage gewesen!

Doch der Kopf des Mönches schwebte und redete weiter vor sich hin, unerbittlich, unerträglich.

Feuer wurde herbeigeholt und flackerte verzehrend vor Faoláns Gesicht. Er war verdammt dazu, dieses Höllenwerk zu betrachten. Er war unfähig, seine Augen davor zu verschließen. Die Fratze des Heilers gaffte Faolán unentwegt an. Finger begannen über sein Gesicht zu fliegen und zu krabbeln, flink wie unzählige Spinnenbeine. Erneut wollte ein seltsam würziger Sud seinen Rachen hinabsteigen, drohte ihn zu ersticken, doch diesmal versuchte Faolán sich dagegen aufzubäumen.

Vergeblich!

Sein Magen schien zu zerreißen. Am liebsten hätte er alles wieder von sich geben, doch sein Körper versagte ihm diesen Dienst.

Faolán war zu erschöpft. Er konnte sich nicht wehren, konnte sein Schicksal nicht abwenden. Mit einem tiefen Atemzug ergab er sich dem Unabwendbaren, ganz gleich, was es sein würde. Schließlich umfing ihn erlösende Schwärze, lockte ihn mit Vergessen. Faolán hieß sie willkommen und folgte ihr mit einem schwachen Lächeln, selbst wenn dieser Weg die ewige Verdammnis bedeutete.

* * *

Ein nasses Tuch lag kühlend auf Faoláns Stirn. Er hielt seine Augen geschlossenen und tastete mit seinen Fingern vorsichtig danach. Eine fremde Hand war schneller und hielt ihn davon ab, sich weiter zu regen. „Bleib’ ruhig liegen. Ich werde mich darum kümmern!“

Es war Bruder Wunholds Stimme. Was war geschehen? Der Mönch entfernte das Tuch, tränkte es in frischem Wasser und legte es wieder auf die fiebrige Stirn. Mit geschlossenen Augen genoss Faolán die Kühlung und nutzte seine übrigen Sinne, um herauszufinden, wo er sich befand.

Er lag in einem Bett, das nicht das seine war und sich auch nicht im Schlafsaal der Mönche befand. Das Kissen war ungewöhnlich groß und weich. Auch die Decke war schwerer als gewohnt. Ein Wohlgeruch von Kräutern und etwas Weihrauch stieg ihm in die Nase. Das Husten eines anderen Mannes bestätigte seine Vermutung schließlich: Er befand sich im Krankensaal des Hospitals.

Langsam öffnete Faolán seine Augen. Grelles Morgenlicht drang durch die hohen, schmalen Fenster und durchflutete den weiß getünchten Raum, in dem sich mehrere Krankenlager befanden. Das Licht schien hier eine besondere Kraft zu besitzen. Neben seinem Bett saß Bruder Wunhold, der ihn beobachtete.

„Was ist …?“, brachte Faolán mühselig hervor. Eine Hand des Mönches gebot ihm Einhalt, während die andere einen Becher mit frischem Wasser reichte. Faolán trank langsam, während der Heiler begann, die Begebenheiten zu schildern.

„Ich werde dir kurz berichten, was geschehen ist. Allerdings nur, wenn du still zuhörst. Du musst dich noch schonen und das Sprechen kostet dich zu viel Kraft.“

Faolán nickte kurz und Bruder Wunhold begann zu schildern, was geschehen war, nachdem Prior Walram den Novizen in die Büßerzelle gesperrt hatte. Demnach wurde er zwei Tage ohne Wasser und Nahrung unter Verschluss gehalten. Außer Walram wusste niemand im Kloster, wo sich Faolán befand. Erst als sich der Abt der Angelegenheit annahm, wurde der Vorfall klarer. Der Bibliothekar hatte schließlich den entscheidenden Hinweis auf Walram gegeben. Allerdings war es trotzdem schwierig gewesen, Faolán zu finden, denn Prior Walram war wie vom Erdboden verschwunden. Ob er sich bewusst fern hielt, konnte nicht geklärt werden. Auffällig und ungewöhnlich war aber, dass er selbst den Andachten nicht beiwohnte.

Faolán wurde eher zufällig entdeckt und aus seiner Büßerzelle befreit. Sein Fieber war zu diesem Zeitpunkt bereits so weit vorangeschritten, dass sein gesamter Körper glühte und sein Geist jeglichen Bezug zur Realität verloren hatte. Ohne zu zögern hob der Abt die verhängte Strafe auf, und Faolán wurde unverzüglich ins Hospital gebracht. Die Behandlung war, nach Angaben des Heilers, kein einfaches Unterfangen gewesen. Böses Blut hatte sich bereits in der Bisswunde festgesetzt und bahnte sich seinen Weg am Halse des Novizen entlang. Es erforderte drei Tage allen Könnens des Mönches, ehe er den Jungen außer Gefahr sah. Seither war etwa eine weitere Woche vergangen und Faolán war überrascht, dass er sich an nichts erinnern konnte.

Weiter berichtete Bruder Wunhold, dass Faoláns Freunde, Konrad und Ering, so häufig am Krankenlager gewacht und geholfen hätten, wie es ihre täglichen Pflichten und Aufgaben erlaubten. Drogo und seine Anhänger hingegen hätten genau das Gegenteil zu bewirken versucht und die beiden Freunde ständig daran gehindert. Von den ausführlichen Schilderungen des Mönches wurde Faolán langsam schläfrig. Noch bevor der Bericht zu Ende war, umfing ihn bereits heilsamer Schlaf, den er so dringend benötigte.

Als Faolán wieder erwachte, wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war. Die Sonne ließ den Krankensaal wieder in reinem Weiß erstrahlen. Faolán fühlte sich kräftig und versuchte sich aufzurichten. Doch Schwindel füllte seinen Kopf und er bewegte sich nur ganz zaghaft. Sein Magen knurrte. Faolán sah sich um und erblickte auf dem Schemel neben seinem Bett eine Schüssel mit Getreidebrei. Sogleich begann er die zähe Masse zu verschlingen, was sich als Fehler erwies. Unter lautstarkem Würgen begann Faoláns Magen das Gegessene wieder von sich zu geben.

In diesem Augenblick betraten seine beiden Freunde den Raum und eilten zu Hilfe. Während Konrad Faolán auf das Bett zurücklegte, kümmerte sich Ering um das Erbrochene und einen Krug frischen Wassers. Als Bruder Wunhold von Faoláns Erwachen hörte, war er hocherfreut. Der Hunger sei ein gutes Zeichen der Genesung. Faolán solle aber ruhig und in kleinen Portionen essen.

Diese Worte erweckten in dem Kranken die Hoffnung, schnell aus dem Hospital entlassen zu werden. Bruder Wunhold behielt ihn jedoch noch beinahe eine weitere Woche im Krankensaal, bevor er den Novizen wieder in den anstrengenden Klosteralltag entließ.

Die Rückkehr in die Mitte der Gemeinschaft stellte für Faolán eine große Herausforderung dar. Nicht etwa, weil er noch nicht ganz genesen und für seine täglichen Pflichten zu schwach gewesen wäre. Vielmehr schämte er sich für seine Tat im Schreibsaal, die ihn in die Büßerzelle gebracht hatte. Obwohl er für sein Vergehen bereits mehr gebüßt hatte, als ein gerechter Richter je vorgesehen hätte, war ihm nicht wohl zumute, als er wieder unter die Augen der übrigen Novizen und Mönche trat. Inzwischen hatten alle von seiner respektlosen und frevelhaften Tat erfahren und sie begrüßten Faolán nur mit tadelnden Blicken.

Die Tatsache, dass Drogo das Opfer seiner Wut geworden war, kümmerte Faolán weniger. Allerdings schämte er sich für die Vergeudung der Tusche, die Zerstörung der Sandtafel und das Besudeln der wertvollen Pergamente, die Bruder Notger so heilig waren. In den Augen des Schriftgelehrten war Faolán jemand, der die tägliche Arbeit und das Lebenswerk des Bibliothekars regelrecht mit Füßen getreten hatte. Kein Wunder, dass der sonst friedfertige Mönch seine Fassung verloren und auf seinen Schüler eingeschlagen hatte.

Faolán machte ihm daraus keinen Vorwurf. Wenn er jemandem Vorwürfe machte, dann nur sich selbst.

Faolán versuchte mehrmals, dem Bibliothekar sein Bedauern auszudrücken, jedoch vergeblich. Bruder Notger begegnete ihm mit Ignoranz, ließ ihn nicht einmal zu Wort kommen. Das schmerzte Faolán umso mehr. Im Gegensatz zu den meisten Angehörigen der Bruderschaft, die ihn einfach nur angafften und hinter seinem Rücken tuschelten, würdigte der Gelehrte ihn nicht einmal eines Blickes.

Das Gerede hinter seinem Rücken konnte Faolán indes gut ertragen. Seine beiden Freunde hatten ihn darauf vorbereitet, dass Drogo während seiner Abwesenheit verschiedene Gerüchte in Umlauf gesetzt hatte. Dass die Wunde von einem Rattenbiss herrührte, war an sich nichts Neues. Dass die Narbe allerdings inzwischen selbst wie der Kopf einer Ratte aussehen und eine Brandmarkung des Leibhaftigen sein solle, war nur eine aus Drogos Geist entsprungene Fantasie.

Obwohl Faolán seine Narbe bereits mehrfach betrachtet hatte, konnte er beim besten Willen keine Ähnlichkeit mit einem Tier feststellen, geschweige mit einer Ratte. Die meisten Novizen schienen jedoch nachhaltig von Drogo beeinflusst worden zu sein, denn sie gafften ihn und die Narbe immer wieder an. Selbst daraus machte sich Faolán nicht viel. Sollte die Narbe doch aussehen wie sie wollte, von ihm aus auch wie der Kopf einer Ratte. Jeder durfte sich sein Urteil darüber bilden, und er ließ das Getuschel und die Blicke unkommentiert. Mit der Zeit wurde die ganze Geschichte für die meisten uninteressant und es wurde wieder ruhig um Faolán.

Bruder Ivo betrachtete Faoláns Entwicklung mit Besorgnis, denn er bemerkte eine Veränderung im Verhalten seines Schützlings. Sein Gehilfe wurde wieder so schweigsam und nachdenklich, wie er einst zu Beginn seiner Zeit im Kloster gewesen war. Damals war der Novize schüchtern und zurückgezogen gewesen, und genau so verhielt er sich in diesen Tagen wieder. Trotz der Rückkehr zu den alltäglichen Pflichten blieb die erhoffte Normalität selbst nach einigen Wochen aus und seine Sorge um Faolán wuchs.

Aus diesem Grunde betrat der Cellerar gedankenverloren die Räumlichkeiten des Abtes, obwohl ihm noch kein Einlass gewährt worden war. Degenar erkannte sogleich den Kummer im Gesicht seines Freundes und versuchte ihn mit freundlichen Worten aufzumuntern: „Mein lieber Ivo. Wenn ich in dein sorgenvolles Gesicht blicke, wundert es mich nicht, dass du mir keine Zeit lässt, dich hereinzubitten.“

„Oh, verzeiht mir, ehrwürdiger Abt“, entschuldigte sich der Cellerar, als bemerke er erst jetzt, was er getan hatte.

Degenar empfing ihn jedoch mit offenen Armen und einem wohlwollenden Lächeln. „Ivo, mein Freund, du bist mir stets willkommen! Tritt ein, setze dich zu mir und berichte von dem, was dir so schwer auf dem Herzen lastet. Doch um eines möchte ich dich zuvor noch bitten: Sprich mich nicht mit ‚ehrwürdiger Abt an, wenn wir allein sind!“

Die Bemerkung rief ein Lächeln auf Ivos Gesicht hervor, und seine Sorgen schienen für einen kurzen Augenblick verflogen zu sein. Der Cellerar setzte sich und kam ohne Umschweife zu seinem Anliegen. „Ich mache mir Sorgen um Faolán. Er hat sich in den letzten Wochen sehr verändert.“

„Das ist mir nicht entgangen.“ Auch Degenar wirkte mit einem Mal besorgt.

„Dann hast du sicherlich auch bemerkt, dass dies nicht gerade eine Veränderung zum Guten war. Ich habe den Eindruck, als sei all das in den letzten Jahren gewachsene Selbstbewusstsein mit dieser Narbe abhanden gekommen.“

Degenar nickte. „Auch das habe ich bemerkt, wobei ich mich deinem Urteil nicht so schnell anschließen möchte. Ich habe mir auch schon Gedanken darüber gemacht. Vielleicht ist Faolán auf der Suche nach einem Sinn dieser Ereignisse und braucht deshalb einfach mehr Zeit für sich. Du weißt, dass man für solch eine Suche etwas Zurückgezogenheit benötigt.“

„Mehr Zeit und etwas Zurückgezogenheit ist in seinem Fall allerdings eine Untertreibung der Tatsachen. Der Junge grenzt sich regelrecht ab. Ich komme mir vor, als spräche ich gegen eine Wand, wenn er bei mir ist. Nicht, dass er mich nicht versteht. Seine Aufgaben erledigt er nach wie vor zu meiner vollsten Zufriedenheit. Nein, es ist etwas anderes. Ich dringe einfach nicht mehr zu ihm durch. Nur noch seine Freunde scheinen Zugang zu ihm zu haben.“

Der Abt versuchte es auf andere Weise zu erklären:

„Jeder Mensch hat Abschnitte in seinem Leben, in denen er sich gegen äußere Einflüsse abgrenzt. Nur auf diese Weise kann er zu sich selbst finden. Verhält es sich nicht genau so beim Beten? Eine Andacht dient nicht nur meiner Suche nach Gott und meinem Seelenheil, sondern vor allem der Suche nach dem Göttlichen in mir selbst. Jedes Gebet ist eine Suche nach meinem innersten, eigenen Selbst. Ist dir das noch nie klar geworden?“

„Doch, natürlich. Die Art und Weise, wie Faolán sich zur Zeit verhält, ist aber nicht normal. Das hat meiner Meinung nach nichts mit Selbstfindung zu tun. Ich mache mir ernsthafte Sorgen, er könnte sich selbst verlieren.“

Degenar führte sich vor Augen, welch froher und aufgeweckter Junge Faolán all die Jahre gewesen war, und er musste eingestehen, dass die momentane Entwicklung bedenklich war. Vor allem, wenn man im Blick hatte, dass Faolán eines Tages seiner Bestimmung entgegentreten und sein Erbe in Anspruch nehmen sollte.

„Vielleicht hast du Recht, Ivo. Doch um ehrlich zu sein, sehe ich keine Möglichkeit, die Situation schnell zu ändern.“

„Nun, vielleicht kann ich dir dabei behilflich sein. Ich habe schon eine Idee.“

Degenar wurde neugierig und Ivo erläuterte ihm seine Gedanken über ein bereits durchgeplantes Vorhaben. Beide Mönche saßen noch lange und debattierten darüber, ob Ivos Plan sinnvoll und in die Tat umzusetzen sei. Der Abt dachte lange darüber nach und erst nach der Matutin teilte er seinem Freund seine Zustimmung mit. Ivo versprach, gleich am nächsten Morgen mit den Vorbereitungen zu beginnen. Vielleicht würden sie Faolán auf diese Weise helfen können. Der Abt hoffte darauf inzwischen ebenso inständig wie der Cellerar, denn auch er war jetzt davon überzeugt, dass Faolán Gefahr lief, sich zu verlieren, statt sich selbst zu finden.

Die Eiswolf-Saga / Die Eiswolf-Saga. Teil 2: Irrwege

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