Читать книгу Die Eiswolf-Saga / Die Eiswolf-Saga. Teil 2: Irrwege - Holger Weinbach - Страница 9

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Anno 956 – Brandolfs Kampf

Brandolf erwachte, als sich eine merkwürdige Unruhe in der großen Halle ausbreitete. Als Gast auf der Burg des Grafen verbrachte auch er die Nacht hier, wie die meisten Bewohner. In dieser Feste schliefen deutlich mehr Menschen als auf der kleinen Burg seines Vaters und die Nachtruhe wurde oft unterbrochen, sei es von einem weinenden Kind oder von dem Schnarchen der Männer. Jetzt allerdings regten sich auf einmal viele Menschen. Brandolf wurde neugierig und erhob sich von seinem Lager.

Aus den Augenwinkeln sah der Krieger, wie eine seitliche Tür geöffnet wurde. Er glaubte, die Silhouette einer Frau mit einem Kind an der Hand zu erkennen, die das Gebäude verließen. In diesem Augenblick ertönte vom Hof lautes Poltern von Hufen. ‚Reiter!’, ging es Brandolf durch den Kopf, doch er konnte sich nicht vorstellen, weshalb der Graf, der Dienstherr seines Vaters, die Burgbesatzung mitten in der Nacht mobilisierte.

Er trug bereits seine Stiefel und wollte nach dem Rechten sehen, als Brandolfs Augenmerk abgelenkt wurde. Die Menschen in der Halle richteten gleichzeitig ihre Blicke auf die schmalen Fensteröffnungen, durch die plötzlich flackerndes Licht zu sehen war. Diabolisch tanzende Schatten wurden an die Wände der Halle geworfen. Es war unmissverständlich: Eines der Hofgebäude stand in Flammen. War das der Grund, weshalb solch ein Trubel auf dem Burghof herrschte?

Einige der Männer in der Halle begannen, sich zu organisieren und wollten den Brand bekämpfen. Als sie jedoch die Hauptpforte öffneten, drang Kampfeslärm in den Saal. Ein Lärm, der Brandolf wohl vertraut war. Stahl klang auf Stahl, Schreie des Schmerzes, der Wut, der Erregung und der Todesangst erfüllten seine Ohren. Dort draußen loderte kein gewöhnliches Feuer, was schon bedrohlich genug für die Burg gewesen wäre. Nein, die Ursache des Brandes war die tatsächliche Bedrohung: Die Greifburg wurde angegriffen!

Plötzlich befand sich der ganze Saal in Aufruhr. Selbst der einfachste Mann begriff, was sich auf dem Burghof abspielte. Die eben noch zielstrebigen Männer waren plötzlich nicht mehr so entschlossen, den Brand zu löschen und schlossen die Türflügel wieder.

Nervosität stieg auf und Furcht lag in der Luft. Die Wenigen mit klarem Verstand hatten Mühe, die Besorgten zu beruhigen und sie daran zu hindern, kopflos aus der Halle in ihr Verderben zu stürzen. Einige rafften ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und verbargen sich in den Tiefen des Raumes. Mütter nahmen sich ihrer weinenden Kinder an und stellten sich schützend vor sie. Zwei alte Frauen begannen, murmelnd vor sich hin zu beten und den Herrn um Gnade anzuflehen. Mehr konnten sie im Augenblick ohnehin nicht tun.

Brandolf hingegen wusste, was darüber hinaus zu tun war. Hastig gürtete er sein Schwert und überlegte kurz, ob er sich das eisenbeschlagene Lederwams noch überziehen sollte. Als er jedoch sah, wie zwei weitere Kämpfer damit rangen, ihre Rüstung anzulegen, entschied er sich dagegen und spurtete auf den Burghof hinaus. Noch bevor er durch die Tür trat, hielt er bereits das gezogene Langschwert in der Hand. Die Waffe lag so selbstverständlich in seiner Rechten, als sei sie mit seiner Hand verschmolzen.

Schnell verschaffte sich Brandolf einen Überblick. Einer der Schweinekoben neben den Stallungen hatte Feuer gefangen, und die Flammen erhellten das Szenario auf erschreckende Weise. Menschen wie Tiere schrien in Todesangst. Doch der brennende Koben war nicht von Bedeutung, denn die Schweine würden nach Brandolfs Einschätzung in dieser Nacht sicher die geringsten Opfer sein.

Er beobachtete weiter, während er langsam und wachsam über den Hof schritt. Er sah merkwürdig gekleidete Männer, die mit zum Teil grausam bemalten Gesichtern und blutigen Waffen durch die Burganlage rannten. Sie erstürmten jede Tür, die sich ihnen darbot und metzelten jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellte. Anhand ihrer seltsamen Kleidung und der merkwürdigen Bemalung glaubte Brandolf jene gefürchteten Krieger des Nordens vor sich zu sehen, die für ihre brutalen Übergriffe berüchtigt waren.

Gerade als er sich einem der Feinde näherte, sah er, wie das Tor des Pferdestalles von innen geöffnet wurde. Eine Frau trat auf den Hof und führte ein ungesatteltes Pferd mit sich. Was um Gottes willen hatte ein Weib in dieser Blutnacht hier draußen verloren? Auf dem Rücken des Pferdes erkannte Brandolf eine kleine, verhüllte Gestalt.

Der junge Krieger konnte die Frau nicht erkennen, da der Hals des Tieres ihren Kopf verbarg. Erst als sie dem Tier einen Schlag auf die Flanke gab und es davonpreschte, erkannte Brandolf ihr Gesicht. Es war Sigrun, seine Herrin! Die kleine Gestalt auf dem Pferd musste Rogar sein. Brandolf konnte nicht begreifen, weshalb eine Mutter ihr einziges Kind in einer solchen Nacht allein davonschickte. Warum zog die Gräfin die Flucht ihres Kindes dem Schutz des Bergfriedes vor? Und wo war ihr eigenes Pferd?

Nur einen Herzschlag später wurde Brandolf alles klar. Hinter Sigrun rannten zwei der Barbaren mit gezogenen Klingen auf sie zu.

‚Ein Opfer, schoss es Brandolf durch den Kopf. Ein Opfer, zu dem nur eine liebende Mutter fähig sein konnte. War die Verteidigung der Feste bereits so aussichtslos, dass nur noch Flucht die Familie retten konnte?

Die Waffen zum Todesstoß bereit, waren die Angreifer schon nahe bei der Gräfin. Brandolf preschte los, doch sein Versuch, Sigrun zu retten war zum Scheitern verurteilt. Sie war so weit entfernt, dass er sie niemals würde rechtzeitig erreichen und schützen können. Brandolf wollte es dennoch nicht wahrhaben. Lauthals versuchte er, die nackte Wahrheit zu leugnen und das Unabwendbare zu stoppen, als die Angreifer Sigrun mit tödlicher Wucht erreichten.

Sein Schrei zeriss die Nacht: „NEEEIIIN …!“

Machtlos musste Brandolf mit ansehen, wie die tödliche Klinge des Barbaren blutrot aus dem Brustkorb seiner schönen Herrin ragte. Tot sackte sie zu Boden.

Mit der Wucht seines Laufs und einem Schrei der Wut traf Brandolf auf den Nordmann. Er benötigte nur einen Streich, um das Schicksal des Barbaren zu besiegeln, der noch damit beschäftigt war, seine Klinge aus dem leblosen Körper zu befreien, dass er nicht einmal erkennen konnte, wer sein Leben so rasch beendete.

Der zweite Nordmann konnte den in Rage kämpfenden Brandolf zumindest mit erhobener Axt und schützendem Rundschild empfangen, doch auch er war weder der Wut noch der Perfektion von Brandolfs Kampfstil gewachsen. Die unglaubliche Schnelligkeit und Kraft der Hiebe des jungen Kriegers trieben den Barbaren in eine Ecke, wo er ein schnelles Ende fand.

Ohne sich weiter um die beiden Gefallenen zu kümmern, lief Brandolf zu seiner Herrin. Er wusste, dass der erlittene Stoß tödlich gewesen war, doch insgeheim hoffte er auf ein Wunder. Er kniete neben dem Leichnam nieder und verharrte dort kurz, als wartete er auf eine Regung von der jungen Frau.

Sigrun war tot!

Seine Herrin war niedergestreckt worden, weil er zu langsam gewesen war. Ihr Blut wurde vom Erdboden des Burghofes aufgesogen, als zöge er das Leben aus dem jungen Körper. Behutsam zog Brandolf die tödliche Klinge aus ihrem Leichnam, was ihm nahezu leiblichen Schmerz bereitete. Wütend schleuderte er den Stahl fort. Trauer breitete sich in seiner Brust aus und am liebsten hätte er diesem Gefühl nachgegeben, doch er verdrängte es, schluckte es herunter. Dafür war jetzt noch keine Zeit. Brandolf wandelte stattdessen die unsägliche Trauer in Wut, dem einzigen Gefühl, das ihm jetzt noch beistehen konnte.

Im Burghof waren die Pforten der Hölle geöffnet worden und sie empfingen Brandolf mit einem Meer von Flammen, Hitze und Verderben. Das Feuer des Schweinekobens griff auf den Pferdestall über und es schien unmöglich, den Brand zu löschen. Die panischen Schreie der sterbenden Tiere gellten in Brandolfs Ohren. Sie waren jetzt nicht von Bedeutung, obwohl sich sein eigenes Pferd auch im Stall befand. Aus den Augenwinkeln bemerkte er den Stallmeister vorbeirennen, doch auch ihm schenkte er keine Beachtung. Das Feuer war nicht Brandolfs Feind. Nordmänner waren überall und kämpften gegen den verzweifelten, törichten Widerstand einiger Knechte an, die ihnen entgegentraten.

Es war ein ungleicher Kampf.

Ein gewaltiger Donnerschlag, der in seiner Wucht den Leibhaftigen selbst hätte ankündigen können, riss Brandolf aus seiner geistigen Abwesenheit. Abrupt setzte dichter Regen ein, der Brandolfs Gewandung innerhalb weniger Augenblicke durchnässte. Mit festem Schritt überquerte er den Hof. Niemand stellte sich ihm in den Weg. Langsam beschleunigte Brandolf seinen Gang und rannte schließlich auf das Hauptgebäude zu. Jetzt galt es, den Bergfried als letzte Bastion vor den Eindringlingen zu verteidigen. Die Burg war vielleicht verloren, doch der Bergfried konnte noch gehalten werden.

Viel zu langsam erreichte Brandolf den großen Saal. Es schien, als ob der Sturzregen seine Schritte verzögerte, als ob er mit den Füßen im Morast des Kampfes stecken zu bleiben drohte.

Im Innern der Halle hatten sich Mägde und Knechte, Frauen und Kinder sowie Alte und Junge ängstlich in eine Ecke gedrängt, ohne Widerstand gegen drei Nordmänner zu leisten, die sich gerade ein junges Mädchen gefügig machten. Schluchzen und verzweifelte Hilferufe erfüllten das Gebälk, doch es rührte sich keiner, um dem Mädchen beizustehen. Stattdessen wurde ihr Flehen nur mit dem hämischen Lachen der Schänder beantwortet.

Sie waren derart mit ihrem Opfer beschäftigt, dass sie Brandolf nicht bemerkten. Die Schreie der jungen Frau erreichten ihren kreischenden Höhepunkt, als der erste Vergewaltiger auf ihr und anschließend die beiden anderen Barbaren tot neben ihr zusammensackten. Sie hatten noch nicht einmal ihre Waffen gegen Brandolf erheben können, so schnell besiegelte er ihr Schicksal. Angsterfüllt versuchte die Magd sich des auf ihr liegenden Leichnams zu entledigen. Brandolf half ihr nicht dabei. Allein die Schänder zu töten, hatte schon viel Zeit in Anspruch genommen.

Mit großen Sprüngen nahm der Krieger gleich mehrere Stufen der steilen Holzstiege, eilte nach oben, trat durch die Tür und ließ die große Halle hinter sich. Vor dem rutschigen Steg zum Bergfried hielt er kurz inne. Zu seinem Entsetzen stand die Tür des Turmes weit offen. Brandolf hoffte inständig, dass dies nichts zu bedeuten hatte, doch da sich bereits Nordmänner in der Halle befunden hatten, befürchtete er das Schlimmste. Besorgt rannte er über die Brücke.

Die unterste Ebene des Bergfrieds fand Brandolf menschenleer vor. Es gab keine Anzeichen eines Kampfes. Hoffnung keimte in ihm auf. Das Schwert fest in beiden Händen, spurtete er die steinerne, gewundene Treppe hinauf. Auf der nächsten Ebene sah er die ersten Toten. Die Nordmänner waren also doch schon im Bergfried! Er schaute sich kurz um. Die Toten waren nicht bewaffnet. Wahrscheinlich waren sie aus der großen Halle geflohen und hatten Zuflucht in der letzten Bastion der Burg gesucht. Statt Schutz hatten sie nur den Tod gefunden.

Abscheu über diese sinnlose Metzelei überkam Brandolf. In dieser Nacht schien alles möglich zu sein. Schließlich handelte es sich bei den Angreifern um Barbaren, die in ihrer heidnischen Sprache offensichtlich kein Wort für Gnade kannten. Brandolf musste jetzt vorsichtig sein und durfte trotz seiner Eile nicht in einen Hinterhalt geraten. Er rannte die unübersichtliche, schmale Treppe zur nächsten Ebene hinauf. Plötzlich vernahm er Poltern und Kampfeslärm nur einen Stock darüber.

‚Der Graf, dachte Brandolf alarmiert. Er hatte am vergangenen Nachmittag mit ansehen müssen, wie sein Herr einen Becher Wein nach dem anderen geleert und sich erst nach dem Drängen seiner Gemahlin zurückgezogen hatte. Brandolf hatte sich gefragt, welche schlechte Nachricht Farold dazu veranlasst haben konnte, derart gegen seine Prinzipien zu handeln. Was auch immer der Grund dafür gewesen sein mochte: Mit großer Wahrscheinlichkeit befand er sich jetzt noch lange nicht in der Verfassung, sich seiner Feinde zu erwehren.

Mit langen Schritten stürmte Brandolf die letzten Stufen hinauf und durch die offene Tür in die Kammer des Grafen. Mit einem schnellen Streich fällte er den ersten Nordmann in seinem Weg. Ohne zu zögern eilte er auf zwei weitere Schergen zu. Die waren von dem unerwarteten Ansturm so überrascht, dass Brandolf den Kampf mit beiden gleichzeitig aufzunehmen wagte. Ein paar harte, flinke Schwerthiebe drängten sie bald in eine Ecke des Raumes, wo sie ihr jähes Ende fanden.

Rasend vor Wut wandte sich Brandolf dem letzten Eindringling zu. Der Anblick, der sich ihm bot, traf ihn jedoch wie ein Schlag und drohte ihm seine ganze Kraft zu rauben. Der Graf wurde vor seinen Augen von der Wucht einer Barbarenklinge zu Boden geschmettert. Schwer verwundet und stark blutend hatte Farold den Breitsax zwar ablenken können, doch seine Kräfte waren am Ende. Einem weiteren Streich würde er mit Sicherheit nicht standhalten können!

Dessen war sich auch der Nordmann bewusst. Mit einem feisten Grinsen stand er über Farold und hob seine Waffe genüsslich zum Todesstoß empor. Diese Überheblichkeit nutze Brandolf. Obwohl zu einem weiteren Schwertstreich noch nicht bereit, stürmte er brüllend auf den Nordmann zu und hieb ihm den Schwertknauf mit voller Wucht ins Gesicht. Der Barbar fiel mit einem Schrei nach hinten. Das eben noch triumphierende Gesicht des Nordmannes hatte sich zu einer zahnlosen Fratze gewandelt, aus deren Mundwinkel das Blut tropfte. Er hatte keine Zeit mehr, sich Gedanken darüber zu machen, wie entstellt er sein mochte, denn Brandolfs letzter Schwertstreich trennte den unansehnlichen Kopf vom Rest des Körpers. Schlagartig trat eine unheimliche Stille ein.

Nur noch Herzschlag und Atem dröhnten in Brandolfs Ohren.

Er wandte sich seinem Herrn zu, der regungslos zu seinen Füßen lag. Der junge Krieger sackte auf die Knie, das Schwert entglitt seiner plötzlich kraftlosen Hand. Es kam ihm vor, als durchlebe er das traurige Ende seiner Gräfin erneut. Nur kniete er diesmal neben dem Leichnam ihres Gatten, dem Grafen Farold.

Doch der Herr war noch nicht tot! Er blutete zwar stark, jedoch atmete er noch, wenn auch kaum merklich. Seine Wunden waren zahlreich und tief. Obwohl Brandolf ahnte, dass die Verletzungen tödlich waren, versuchte er dennoch das austretende Blut mit dem Leintuch des Bettes aufzuhalten. Hilflos wie ein kleines Kind zerrte er es vom Lager, wusste jedoch nicht, wo er beginnen sollte. Es waren einfach zu viele Wunden und zu viele Tränen in seinen Augen, als dass er noch hätte klar handeln können. In seiner Verzweiflung presste er das Tuch einfach auf den Körper des sterbenden Grafen. Schon bald zeigte sich das Rot in immer größer werdenden Flecken auf dem hellen Linnen und Brandolf sah, wie das Leben seines Herrn regelrecht verrann.

Plötzlich schaute Farold zu ihm auf und versuchte, etwas zu sagen, doch seine Kräfte ließen ihn bereits im Stich. Er brachte lediglich ein leises Röcheln hervor. Dennoch glaubte der junge Krieger, den Namen „Sigrun“ ganz leise vernommen zu haben. In den letzten Augenblicken seines Lebens wollte der Graf über das Schicksal seiner geliebten Frau Gewissheit haben. Was sollte Brandolf berichten? Er hatte sie sterben sehen, doch das wollte er seinem Herrn so kurz vor dem Tode nicht offenbaren. Ratlos suchte er nach einer tröstenden Antwort.

Wie aus der Ferne hörte sich Brandolf schließlich die Worte sagen: „Ich sah ihr Pferd aus dem Tor galoppieren.“

Fragen zeichneten sich auf dem Gesicht des Sterbenden ab. Ganz leise brachte er ein krächzendes „Rogar“ hervor. Diesmal fiel Brandolf die Antwort leichter.

„Der Junge war auf dem Pferd.“

Das waren wohl die richtigen Worte, denn Farold schloss mit einem erleichterten Lächeln die Lider. Brandolf glaubte ihn bereits tot, als sich die glasigen Augen noch einmal öffneten. Erneut versuchte der Sterbende zu sprechen, diesmal etwas deutlicher und lauter.

„Eine List …“, begann er, musste dann allerdings nach Atem ringen.

Brandolf verstand nicht. Er wartete, bis der Graf erneut genügend Kraft zum Sprechen fand. „Er war es! Er hatte es schon immer darauf …“

Ein starker Husten unterbrach die wenigen klaren Worte und schien Farold die letzte Kraft zu rauben. Er ruhte sich etwas aus, wobei Brandolf glaubte, den Atem seines Herrn immer weniger zu spüren. Dann setzte der Graf noch einmal zum Sprechen an. Seine Worte mussten von größter Bedeutung sein, sonst würde er mit Sicherheit diese Anstrengung nicht auf sich nehmen. Um ihn besser verstehen zu können, beugte sich Brandolf nach vorne.

„Verflucht seien er und dieses Weib!“, hauchte der Graf.

„Wer?“

Eine kurze Pause, dann fuhr der Graf fort: „Er wollte sie schon immer haben, die Burg und die Grafschaft …“

Farolds Blick wurde mit einem Male wieder feurig und klar. Sein ganzer Körper spannte sich noch einmal an und er zog Brandolf mit überraschender Kraft zu sich hinab. Das Flüstern in seinem Ohr erfüllte den Schädel des jungen Kriegers. „Schwöre mir, mein treuer Brandolf, dass du sie finden wirst. Schwöre mir, dass du sie beschützen wirst. Hilf ihnen! Schwöre mir … schwöre mir Rache. Schwöre es, bei Gott … und allem, was dir heilig ist!“

Obwohl Sigrun bereits tot und der Junge verschwunden war, konnte Brandolf nicht anders, als dem letzten Wunsch seines Herrn zu entsprechen. Er nahm Farolds Hand fest in die seine und blickte ihm in die Augen. „Ich schwöre es, mein Herr, bei Gott und allem was mir heilig ist. Ich schwöre es.“

Die Worte erleichterten den Grafen sichtlich und der geschundene Körper entspannte sich wieder. Das schwache Lächeln zeigte sich erneut auf seinen Lippen. Dann versuchte Farold noch einmal zu sprechen, doch Brandolf verstand nur Bruchstücke davon: „… im Wald, dort wo … Felsen mit der Wolfshöhle … werden sie warten.“

Mehr vermochte er nicht zu sagen. Mit großer Anstrengung füllte Farold ein letztes Mal seine Lungen, dann weiteten sich seine Augen in plötzlicher Erlösung. Der Leib des Grafen erschlaffte und sein letzter Atem entwich langsam. Gesenkten Hauptes schloss Brandolf vorsichtig die Lider der leblosen Augen und betrachtete das Antlitz des Toten.

Trotz all des Blutes und der vielen Wunden lag ein merkwürdiger Frieden auf Farolds Gesicht. Eine unbeschreibliche Ruhe, Würde und Macht umgaben den Leichnam und zogen den jungen Krieger in ihren Bann. Brandolf wurde in diesem Augenblick klar, dass er seinem Herrn selbst über den Tod hinaus treu ergeben sein würde. Er musste seinem Eid gerecht werden! Er verharrte noch einen Augenblick bei dem Leichnam, dann erhob sich Brandolf entschlossen und ergriff das Langschwert mit kraftvoller Hand. Mit festen Schritten trat er aus der Kammer. Er wusste, was er zu tun hatte, und er schwor, diesmal nicht zu spät zu kommen.

* * *

Es war ein tödlicher Tanz, den Brandolf vollführte. Er beherrschte ihn mit einer Perfektion wie kein zweiter in dieser Nacht. Trotz des heftigen Regens und des rutschigen, schlammigen Bodens im Burghof tanzte er ihn sicheren Fußes. Er wechselte den Partner, sobald einer den tödlichen Kuss des kalten Stahls empfangen hatte. Und Brandolf tanzte mit jedem, der sich ihm anbot.

Ohne Gefühl für Zeit und Raum kam Brandolf erst wieder zur Besinnung, als sich ihm niemand mehr in den Weg stellte. Mit einem Mal übermannte ihn die Erschöpfung des Kampfes. Er blieb stehen und blickte in den Himmel. Regentropfen stachen wie unzählige Messerspitzen in sein Gesicht. Kraftlos sank er auf die Knie. Sein Körper war durchnässt von Regen, Schweiß und Blut, das aber nicht das seine war. Brandolf hielt sein Gesicht gen Himmel gerichtet und ließ den schwächer werdenden Regen auf sich niedergehen, als wolle er die Nacht und all seine Taten von sich waschen. All den Schmerz und all das Töten. Der Krieger schloss die Augen, um nichts mehr sehen zu müssen. Langsam spülten die Regentropfen das Blut von seiner Klinge und schon bald lag das Schwert wieder nahezu rein und unschuldig in seiner Hand.

Nach einer Weile öffnete Brandolf seine Augen und blinzelte in die anbrechende Dämmerung des Sommermorgens. Der Regen hatte das Feuer des Schweinekobens und der Stallungen gelöscht, doch stiegen noch immer Rauchschwaden der verkohlten Reste empor und lagen über dem Burghof. Während Brandolfs Kampf war eine zweite Reiterschar auf der Burg eingetroffen und hatte in das Kampfgeschehen eingegriffen. Von diesem Augenblick an hatte sich das Geschick der Greifburg gewendet und der junge Krieger war nicht mehr der Einzige gewesen, der sie verteidigte.

Erschöpft schaute sich Brandolf um und sah Bewaffnete, die Verwundete versorgten, Gefallene beiseite trugen, Pferde einfingen und das Chaos der Nacht zu beseitigen versuchten. Einige Leichen ließen sie achtlos liegen und Brandolf erkannte, weshalb: Kleidung und Waffen nach waren es die überwältigten Nordmänner. Um sie würde man sich später kümmern, sie zusammentragen und anschließend verbrennen. Nur so konnte man verhindern, dass sich die Ratten an ihnen nähren würden.

Je länger Brandolf sich umsah, desto merkwürdiger kamen ihm die Leichen der Barbaren vor. Mühsam erhob er sich, packte sein Schwert und ging langsam über den Hof. Er wusste nicht genau, was ihn störte, doch er betrachtete einige der Toten genauer. Schließlich entdeckte er es: Helme, Schilde und Waffen befanden sich beinahe ausnahmslos neben den Toten. Keiner hielt seine Waffe in der Hand oder trug den Helm auf dem Haupt. Es schien, als habe man einfach alles achtlos hingeworfen. Brandolf bezweifelte, dass die Männer im Augenblick des Todes alles von sich geworfen hatten, zumindest hatte er so etwas noch nie erlebt. Vielleicht machte er sich aber auch nur zu viele Gedanken nach dieser furchtbaren Nacht und es hatte nicht das Geringste zu bedeuten.

Brandolf schritt weiter über den Burghof. Aus den verkohlten Überresten des Schweinekobens und des bis zur Hälfte niedergebrannten Pferdestalls stieg ihm der süßlich beißende Gestank von verbranntem Fleisch in die Nase, den selbst der Wind nicht fortzutreiben vermochte.

Da kam Brandolf ein Gedanke: Sigrun! Der Leichnam der Gräfin lag bestimmt noch dort, wo sie der Nordmann niedergestreckt hatte, vor dem Tor der Stallungen. Brandolf eilte dorthin und fand seine tote Herrin. Unbeachtet hatte man sie in Regen und Schlamm liegen lassen. Er kniete neben ihr nieder und wischte den Schmutz und das strähnige Haar aus ihrem blassen, kalten Gesicht. So verweilte er respektvoll an ihrer Seite, gedachte der Toten und haderte mit sich selbst und seinem Unvermögen, sie nicht gerettet zu haben. Dann betrachtete er das Gesicht der toten Gräfin genauer. Wie schon bei Farold erkannte er auch in ihrem Antlitz einen Ausdruck, der eine seltsame Friedlichkeit ausstrahlte. Erhabenheit und Zufriedenheit waren darin zu sehen, als wären die letzten Gedanken ihres Lebens glückliche gewesen.

Brandolf erinnerte sich, wie ihm einst vor vielen Jahren ein alter Recke vor einer Schlacht gesagt hatte, dass man wahren Frieden und Glück allein im Tod finden könne und er sich daher nicht davor zu fürchten brauche. Vielleicht hatte der Alte ja Recht gehabt. Brandolf fühlte sich allerdings alles andere als glücklich. Er war seiner Aufgabe als Ritter und Getreuer nicht gerecht geworden, hatte die Grafenfamilie nicht zu schützen vermocht und der Erbe, um den er sich von jetzt an kümmern sollte, war vor seinen Augen entschwunden. Er musste ihn finden!

Doch bevor er sich dieser neuen Aufgabe widmen konnte, sah es Brandolf als seine Pflicht an, das Grafenpaar ein letztes Mal zu vereinen. Das war er ihnen schuldig. Sanft schob er einen Arm unter Sigruns kalten Körper und hob ihn an. Seine Herrin, selbst im Tod noch so unbeschreiblich schön, wollte er nicht im Schlamm liegen lassen. Vor allem nicht neben der Leiche ihres Meuchlers.

Bei diesem Gedanken bemerkte er, dass der Körper des ersten Mannes, der Sigruns Schicksal besiegelt hatte, nicht mehr dort lag, wo Brandolf ihn niedergestreckt hatte. Sein Blick suchte nach dem zweiten Mann. Dessen Leichnam befand sich ebenfalls nicht mehr dort, wo Brandolf ihm ein Ende bereitet hatte.

Sachte ließ der Krieger die Gräfin wieder zu Boden gleiten und ging auf den zweiten Toten zu. Als er sich dem Leichnam näherte, stieg ihm ein Gestank in die Nase, den selbst der beißende Qualm des erstickten Feuers nicht überdecken konnte. Ein Gestank, den Brandolf von einem alten Schlachtfeld her kannte, auf dem Scharen von Krähen ein wochenlanges Festmahl abhielten. Es war der Gestank der Verwesung und stammte von der Leiche nur wenige Ellen vor ihm.

Ein heftiger Würgreiz versuchte, von Brandolf Besitz zu ergreifen, doch er konnte ihn unterdrücken und trat näher an den Gefallenen heran. Das Gesicht des Toten war bereits von grauer Farbe, die Hände nahezu schwarz, als trüge er Handschuhe. Blut fand Brandolf an der Leiche nicht und erst unterhalb des Stalldaches, etwa drei Ellen weiter, konnte er blutgetränktes Stroh finden. Dort hatte er den zweiten Nordmann niedergestreckt, doch sein Leichnam war nicht in der Nähe. Einem Impuls folgend suchte Brandolf nach der tödlichen Wunde, die er dem zweiten Mann zugefügt hatte, jedoch vergeblich. Stattdessen fand er eine kleine Wunde am Schädel, die von einem Pfeil oder dem spitzen Ende einer Streitaxt stammen mochte. Brandolf hatte sie diesem Mann weder zugefügt, noch konnte sie von dieser Nacht stammen.

Es gab keinen Zweifel mehr: Dies waren nicht die Männer, die er getötet hatte. Irgendjemand musste die Gefallenen ausgetauscht haben! Doch weshalb nur? So sehr er sich den Kopf darüber zermarterte, er konnte keinen Grund finden. Sein Instinkt sagte ihm allerdings, dass dies hier einen üblen Beigeschmack hatte. Ein Beigeschmack aus Vorsatz, Arglist und Hinterhalt, den man am liebsten mit einem kräftigen Schluck Wein hinunter spülen wollte, so wie es Graf Farold am Tage zuvor getan hatte.

Da erinnerte er sich wieder an die letzten Worte seines Herrn: „Eine List … Verflucht seien er und dieses Weib! Er wollte sie schon immer haben, die Burg und die Grafschaft …“. Jetzt erst verstand Brandolf, dass hinter der heutigen Nacht mehrsteckte als nur ein Überfall der gefürchteten Nordmänner. Farold hatte es vor seinem Tode bereits erkannt. Vor allem musste er gewusst haben, wer hinter dem Angriff steckte.

Brandolf hingegen war es noch verborgen, doch er entschloss sich herauszufinden, was hier vor sich ging! Er wandte sich von den stinkenden Leichen ab und begab sich wieder zu seiner toten Herrin. Vorsichtig hob er Sigruns leblosen Körper empor und überquerte unter den erstaunten Blicken der Anwesenden den Innenhof. Mit einem Fuß stieß er einen Torflügel zur großen Halle auf und betrat den Raum. Überrascht traf er dort auf den Großteil der überlebenden Burgbewohner und auf eine stattliche Anzahl unbekannter Krieger. Offensichtlich hatten sie die Burg gerettet.

Zunächst nahm niemand Notiz von Brandolf. Doch nachdem einige den Leichnam in seinen Armen bemerkt hatten, traten sie rasch beiseite. Die Menge öffnete sich für den jungen Krieger. Aus Respekt vor dem Leichnam erstarb das unterschwellige Gemurmel und betroffenes Schweigen breitete sich in der Halle aus. Vereinzelt vernahm Brandolf ein leises Schluchzen. Einige Frauen hielten sich ungläubig die Hand vor den Mund, andere verbargen vor Entsetzen ihre Gesichter. Männer nahmen ihre Kopfbedeckungen ab, senkten ihr Haupt und blickten zu Boden. Es war ehrliche Trauer, die diese Menschen zeigten, denn ihre Herrin war beliebt gewesen und ihr Tod war ein großer Verlust.

Brandolf schritt die Gasse entlang, die sich hinter ihm wieder schloss und blieb schließlich vor einer Gruppe bewaffneter Männer stehen, die sich trotz des allgemeinen Schweigens noch besprachen. Sie standen um den reich verzierten Sitz des Grafen. Wer darauf Platz nahm, war befugt, Recht zu sprechen. Wer darauf saß, war ebenso berechtigt, die Abgaben einzutreiben und die Geschicke der Ländereien zu lenken, wie er im Gegenzug verpflichtet war, dem Volk in Notzeiten beizustehen. Auf diesem Sitz hatte jetzt jemand Platz genommen, den Brandolf noch nicht erkennen konnte.

Erst nach einer Weile bemerkten ihn die debattierenden Krieger und beendeten abrupt ihre Unterredung. Einer nach dem anderen trat beiseite und der Kreis um den Grafensitz öffnete sich. Dort saß ein Mann, der offensichtlich die Befehlsgewalt innehatte. Genervt und grimmig blickte er drein und erhob sich, um zu sehen, weshalb man ihn unterbrochen hatte.

Der Krieger war groß gewachsen und von kräftiger Statur. Seine Gewandung bestand aus gutem Leder, das offensichtlich aufwendig gepflegt wurde. Der Hals wurde durch eine Brünne aus feinen Eisenringen bester Qualität geschützt. Futteral und Heft des Langschwertes zu seiner Linken waren kunstvoll gearbeitet und reich verziert. Dieser Mann war eindeutig von adeligem Stande und Brandolf wusste sofort, wer es war, obwohl er ihn noch niemals zuvor gesehen hatte. Es war Rurik, der jüngere Bruder des verstorbenen Grafen.

Brandolf war zwar bekannt, dass Rurik mitsamt seinem Gefolge heute auf der Burg erwartet wurde, doch dass er noch vor dem Morgengrauen und damit rechtzeitig zur Rettung der Burg eingetroffen war, überraschte ihn sehr. Es war ungewöhnlich, einen solchen Tross durch die Nacht reiten zu lassen, statt ein sicheres Lager aufzuschlagen.

Brandolf und Rurik starrten einander schweigend an. Keiner der Anwesenden regte sich. Nicht einmal ein Husten oder Räuspern war zu vernehmen. Die stummen Blicke der beiden Männer kamen einem Kräftemessen gleich, ausgetragen ohne Waffen. Allein die Willenskraft war hierbei entscheidend. Es war ein ungleiches Ringen, das Brandolf, von den Kämpfen der vergangenen Nacht erschöpft, jedes einzelne Gran mentaler Stärke abverlangte. Doch er hielt stand.

Rurik, beinahe einen Kopf größer als sein Gegenüber, blickte abschätzig auf den durchnässten und verdreckten Krieger herab. Im Gegensatz zu Brandolf machte er nicht den Eindruck, als habe er in dieser Nacht auch nur einmal sein Schwert gezogen. Kein einziger Spritzer Blut haftete an ihm und seine Stiefel waren kaum schlammverkrustet.

Die Stille des Raumes wurde immer schwerer und lastete bleiern auf Brandolf, wie auch die Last in seinen Armen mit einem Mal unerträglich wurde. Als ihm die Machtprobe die letzten Kräfte zu rauben drohte, kniete er schließlich nieder und legte den Leichnam behutsam zu Füßen des großen Mannes ab. Dann richtete er sich wieder auf und blickte Rurik erneut in die kalten Augen.

„Die Gräfin, Eure Schwägerin, ist tot.“ Die Worte hallten im Gebälk des Dachstuhles wider, so still war es in dem Saal.

„Das sehe ich!“, raunte Rurik. Seine Stimme klang kratzig, als käme sie aus einem tiefen, schroffen Brunnen. Weder Haltung noch Mimik ließen eine Gefühlsregung erkennen. Rurik reagierte, als habe man ihm soeben einen erlegten Rehbock zu Füßen gelegt. Vielleicht hätte er diesen noch mit einem Blick gewürdigt, Sigruns Leichnam hingegen ignorierte er gänzlich. Was würde er wohl sagen, wenn er vom Tod seines Bruders erfuhr? Oder wusste er bereits davon und war deshalb so kühl und wortkarg?

Brandolf unterband diesen Gedanken. Ihm lag bereits eine bissige Bemerkung wegen des Grafensitzes auf der Zunge, denn es gefiel ihm nicht, dass Rurik darauf Platz genommen hatte. Er hatte kein Recht, das Kommando zu übernehmen! Wahrscheinlich war er über das Schicksal seines Bruders im Bilde. Brandolfs Gedanken rasten wild durch seinen Schädel und er suchte hastig nach den richtigen Worten, um das bleierne Schweigen zu beenden.

„Sie hatte nicht die geringste Aussicht auf eine Flucht!“ Seine Worte klangen nahezu wie ein Vorwurf. Als sie seine Lippen verließen, begriff er, dass dieser Vorwurf berechtigt und genau dem richtigen Mann gegenüber ausgesprochen worden war. Wieder schossen Brandolf die letzten Worte des Grafen durch den Kopf: ‚Eine List … Verflucht seien er und dieses Weib …

Ruriks Antwort konnte kaum verächtlicher klingen. „Auch das sehe ich, Mann! Denkst du etwa, ich sei mit Blindheit geschlagen? Ich habe bessere Augen im Kopf als manch anderer hier. Befände ich mich sonst dort, wo ich im Augenblick stehe?“

Brandolf war wachsam. Sein Gegenüber war auf eine Konfrontation aus. Diplomatie und Behutsamkeit waren jetzt gefragt.

„Nein, natürlich nicht“, antwortete er scheinbar beschämt.

„Wer bist du überhaupt, dass du mir derart unter die Augen trittst? Wie lautet dein Name?“

Rurik trat einen Schritt näher und betrachtete Brandolf genauer.

„Ich bin Brandolf, Sohn des Edelherrn Gerold und Vasall des Grafen“, antwortete der Befragte ruhig, obwohl in ihm die Wut brodelte. Am liebsten hätte Brandolf Rurik die Antwort ins Gesicht gespuckt, ganz gleich welche Konsequenzen es haben würde. Doch er hielt sich im Zaum und bewahrte Haltung.

Mit erhobenen Augenbrauen nahm Rurik die Antwort zur Kenntnis. „So, ein Vasall des Grafen … Ist dein Vater das tatsächlich?“

Die Frage klang skeptisch, beinahe hohnvoll, als galt es, diese Behauptung unter Beweis zu stellen. Wollte er am Ende Brandolfs Lehenstreue ins Lächerliche ziehen? Rurik drehte sich einem seiner Männer zu und wechselte ein paar leise Worte, danach schenkte er ihm wieder seine Aufmerksamkeit. „Brandolf, Sohn des Gerold, was wisst … Ihr zu berichten?“

Jede einzelne Faser des jungen Kriegers spannte sich an, als bereite er sich, einer Katze gleich, auf einen fluchtartigen Sprung vor. Ein Instinkt gebot ihm, jetzt mehr denn je Vorsicht walten zu lassen. Er wählte seine Worte behutsam und berichtete von dem Augenblick an, als er durch den Überfall geweckt worden war. Er führte seine Zuhörer durch die Nacht des Kampfes und des Todes bis zu jenem Moment, da sich ihm kein Gegner mehr in den Weg gestellt hatte.

Doch Brandolf berichtete nicht alles. Einige Details ließ er bewusst aus. Weder erwähnte er Rogars Flucht, noch dass die Gräfin vor dem Stalltor ermordet worden war. Diese Information hätte vielleicht Hinweise auf Rogars Verbleib gegeben und Brandolf wollte Rurik dies auf keinen Fall anvertrauen. Ebenso behielt er die letzten Worte seines Herrn und den geleisteten Eid für sich. Wieder war es ein merkwürdiger Instinkt, der ihn zum Schweigen veranlasste, obwohl hier doch der Bruder seines verstorbenen Herrn, der momentane Befehlshaber der Burg, vor ihm stand.

Während des gesamten Rapports behielt Rurik sein Gegenüber stets im Blick. Es schien, als versuche er, Brandolfs Augen zu durchdringen, um das dahinter Verborgene zu ergründen. Er wartete förmlich darauf, einen Widerspruch zu entdecken und Brandolf zur Rede stellen zu können.

Doch der junge Krieger kannte dieses Spiel. Obwohl er einige Begebenheiten der Nacht ausließ, blieb er dennoch bei der Wahrheit und verstrickte sich nicht in Ungereimtheiten. Dies war die einfachste Art, in diesem Spiel zu bestehen und dem Blick dieses Mannes standhalten zu können. Die ganze Zeit über sah er Sigruns Leichnam aus den Augenwinkeln. Ihr Anblick, mit all seiner im Tode vereinten Ungerechtigkeit, gab ihm zusätzliche Stärke, um in diesem Kräftemessen zu bestehen. Nachdem er seinen Bericht abgeschlossen hatte, stand Brandolf aufrechter vor Rurik als zu Beginn. Der vorläufige Burgherr ließ ihm keine Zeit und stellte sofort seine nächste Frage:

„Wo ist der Sohn?“

„Wessen Sohn?“

Zornesröte stieg in Ruriks Gesicht, als er die Gegenfrage vernahm. Seine Stimme klang laut und polternd in der Halle. „Wessen Sohn? Des Hufschmieds Balg! Wollt Ihr mich zum Narren halten? Natürlich der Sohn meines Bruders! Den Erben der Grafschaft, Rogar!“

Der plötzliche Wutausbruch überraschte die anwesenden Burgbewohner derart, dass die vorderste Reihe nahezu einheitlich erschrocken einen Schritt nach hinten trat. Ruriks Frage und seine Wut ließen Hoffnung in Brandolf aufkeimen: Sollte Rogar es in dem Chaos der Nacht tatsächlich gelungen sein, sich Ruriks vielen Händen zu entziehen und unerkannt zu fliehen? Niemand schien zu ahnen, dass Rogar längst nicht mehr in der Burg war. Alle wähnten ihn noch in der Feste, irgendwo versteckt oder gar von den Barbaren erschlagen.

„Es tut mir leid, darüber kann ich Euch keine Auskunft geben.“

„Könnt Ihr oder wollt Ihr es nicht?“

„Ich kann es nicht, denn weder weiß ich etwas über den Verbleib des Jungen, noch kenne ich sein Schicksal nach dieser blutigen Nacht.“

„Ich frage mich, ob Ihr es mir anvertrauen würdet, wenn Ihr Kenntnis über seinen Verbleib hättet?“

Brandolf setzte zu einer Antwort an, doch Rurik gebot ihm Einhalt und fuhr selbst fort. „Spart Euch die Worte. Mir ist durchaus bewusst, dass Ihr nicht so dumm seid, mir eine falsche Antwort zu geben.“

Rurik wandte sich sogleich wieder einem seiner Vertrauten zu und veranlasste, die gesamte Burg noch einmal nach dem Kind zu durchkämmen und auch den kleinsten Winkel dabei nicht auszulassen. In jedem Vorratsstollen und in jedem Abort sei nachzuschauen, selbst wenn dafür Kammern zu leeren wären oder jemand in die Zisterne hinabsteigen müsse. Die Dringlichkeit war unüberhörbar. Die letzte seiner Anweisungen, man solle den Jungen möglichst lebend finden, besaß jedoch einen merkwürdigen Unterton und klang weder überzeugend noch ehrlich.

Schließlich wandte sich Rurik wieder Brandolf zu und nahm ihn weiter ins Verhör. „Nach allem, was mir von meinen Männern und Euch berichtet wurde, habt Ihr … tapfer gekämpft und viele … Feinde erschlagen. Ihr wart von Beginn des Überfalls an dabei und habt alles genau beobachten können.“ Ruriks Blick forschte nach irgendeinem Hinweis in Brandolfs Augen. „Könnt Ihr Euch erklären, woher die Angreifer kamen?“

Brandolf witterte erneut Gefahr. Sorgfältig versuchte er, Ruriks Falle zu umgehen und wählte seine Worte vorsichtig.

„Anscheinend waren es Nordmänner. Allerdings …“

Brandolf machte eine Pause und erst als er sich der Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher war, fuhr er fort:

„Allerdings muss ich gestehen, dass mir dieser Angriff der Nordmänner recht ungewöhnlich vorkam. Ein befahrbarer Fluss für ihre Langschiffe ist zu weit entfernt, als dass dies einer ihrer schnellen Raubzüge gewesen sein könnte. Tief im Landesinneren eine gut befestigte Burg anzugreifen, das entspricht nicht dem, was ich bisher über ihre Art zu kämpfen gehört habe. Üblicherweise greifen sie Dörfer, kleine Städte und Klöster in Fluss- oder Küstennähe an. Dabei schlagen sie schnell und hart zu, machen sich jedoch ebenso rasch wieder davon, da sie gegen massive Gegenwehr nicht gerüstet sind. Ihr Vorteil ist die Überraschung. Eine Burg wie diese ist für sie zu stark befestigt und die Aussicht auf schnellen Erfolg zu gering.“

Rurik senkte seinen Blick zu Boden, als er die nächsten Worte sprach: „Nun, auf Widerstand sind sie tatsächlich gestoßen, nicht zuletzt durch Euch.“

Dann hob er seinen Blick wieder und schaute Brandolf direkt in die Augen.

„Aber Ihr habt Recht, Brandolf. Es waren tatsächlich Nordmänner. Das ist leicht anhand Gewandung und Bewaffnung der Toten zu erkennen.“

‚Eine Lüge!, dachte Brandolf sofort. „Gibt es denn keine Gefangenen, die man befragen könnte?“

„Nein, es gibt keine überlebenden Angreifer!“

Ruriks Gedanken schienen abzuschweifen und er verweilte einige Augenblicke stumm. Beinahe geistesabwesend blickte er Brandolf wieder an und entließ ihn schließlich mit einer abfälligen Handbewegung und ein paar unverständlich gemurmelten Worten.

Brandolf war von dem plötzlichen Sinneswandel überrascht. Er zweifelte zunächst an der Ernsthaftigkeit dieser Anweisung und erwartete jeden Augenblick eine weitere Frage. Doch als Rurik ihn keines Blickes mehr würdigte, machte sich Brandolf auf, um die Halle zu verlassen. Erneut bildete sich eine Gasse für ihn.

Nach ein paar Schritten hielt er allerdings inne, überlegte einen Moment und machte noch einmal kehrt. Laut richtete er seine Worte an Rurik, der nicht damit gerechnet hatte und sich überrascht umschaute.

„Verzeiht mir, doch eines kommt mir bei all den Ereignissen merkwürdig vor …“, begann Brandolf. Er ließ die Feststellung im Raum klingen, bis Rurik es nicht mehr ertragen konnte.

„Was? Was ist merkwürdig?“, herrschte er den jungen Krieger ungeduldig an.

Brandolf ließ ihn noch kurz warten, dann fuhr er fort.

„Es sind die Leichen der Nordmänner!“

Mehr sagte er nicht. Er wollte erst sehen, ob sich auf Ruriks Gesicht eine Reaktion zeigte. Der würde zwar nicht leichtfertig in eine solch einfache Falle tappen, doch Brandolf hoffte auf diese Weise ein Stück Wahrheit über die vergangene Nacht in Erfahrung zu bringen.

„Was ist mit den Leichen?“, platzte Rurik erneut ungeduldig heraus, nicht gewohnt, dass man ihn warten ließ.

Brandolf genoss diesen Augenblick, dann gab er sich sehr nachdenklich.

„Sie stinken. Und sie befinden sich nicht dort, wo sie getötet wurden.“

Rurik hob die Augenbrauen, als durchschaue er Brandolfs Absicht. Er machte einen Schritt auf ihn zu und gab geradewegs eine Erläuterung für die Umstehenden ab, um Brandolfs merkwürdige Feststellung zu relativieren.

„Es sind sich wohl alle hier darüber einig, dass es sich bei den Nordmännern um ein dreckiges, stinkendes Pack von ungläubigen Heiden handelt.“

Rurik schaute kurz in die Menge und fand nickende Zustimmung. Der mächtige Mann fuhr zufrieden fort.

„Außerdem habe ich gleich nach meiner Ankunft den Befehl erteilt, alle Leichen der Angreifer zu sammeln und zu verbrennen, damit uns ihr Gestank nicht länger belästigen möge. Daher können sich auch keine Leichen mehr dort befinden, wo sie erschlagen wurden.“

Nach dieser Erklärung für die Menge blickte Rurik scharf in Brandolfs Augen und fuhr mit gedämpfter, aber fordernder Stimme fort.

„Gibt es sonst noch etwas, das Ihr vielleicht bemerkt habt und mir mitzuteilen wünscht?“

Mit einem Kopfschütteln verneinte Brandolf die Frage. Er wollte sein Glück nicht überstrapazieren. Ruriks Erklärung genügte ihm vollkommen, um einige Fragen zu beantworten. In scheinbarer Demut senkte er respektvoll sein Haupt, bedankte sich und schritt erneut die Menschengasse entlang, die bis zum Portal führte.

Kurz bevor Brandolf durch die Tür entschwand, drehte er noch einmal kurz den Kopf zur Seite und sah Rurik mit einem seiner Männer sprechen. Dabei bemerkte er, wie Rurik eine achtlose Handbewegung in seine Richtung machte. Das war für Brandolf keine Überraschung. Natürlich würde Rurik ihn beobachten lassen. Würde er es nicht tun, so wäre Brandolf beinahe enttäuscht gewesen. Er musste jetzt sehr vorsichtig sein und alles daran setzen, möglichst schnell aus der Burg zu gelangen.

Ohne weiter zu zögern betrat Brandolf den Burghof. Inzwischen war die Sonne aufgegangen und die ersten Strahlen erhellten die Mauern der Feste. Die düstere Schlacht wurde dadurch wie ein unwirklicher Albtraum weit entrückt. Tatsächlich waren keine Leichen mehr auf dem Hof zu finden. Rurik hatte es sehr eilig, die Spuren des Kampfes zu beseitigen.

Mit großen Schritten ging Brandolf auf den teilweise abgebrannten und eingestürzten Pferdestall zu. Er hoffte, dass sein Pferd den Brand überlebt hatte, denn ohne seine Stute würde er niemals die Feste verlassen können, geschweige heil zur Burg seines Vaters gelangen. Genau das musste ihm jetzt aber unbedingt gelingen.

Unterschiedliche Gedanken rasten durch seinen Kopf. Bilder der Schlacht tauchten vor seinem inneren Auge auf. Immer häufiger kehrte eine bestimmte Situation wieder, bis er schließlich nichts anderes mehr sah: Rogars überstürzte Flucht und Sigruns Tod. Diese Erinnerungen schmerzten sehr. Doch Brandolf hatte inzwischen begriffen, dass Sigrun das einzig Richtige getan hatte. Mit ihrem eigenen Leben hatte sie das ihres Kindes erkauft. Ein hoher Preis, um den Fortbestand der eigenen Familie zu sichern. Ungläubig schüttelte Brandolf den Kopf. Der Graf und seine Gemahlin waren tot und nur Rogar war noch am Leben. Dieses Leben galt es jetzt zu beschützen. Dazu war es allerdings erst einmal notwendig, den Jungen zu finden.

Derart in Gedanken vertieft betrat Brandolf den Stall, wo er zu seiner Erleichterung tatsächlich seine Stute neben einigen anderen Pferden wohlbehalten vorfand. Der junge Krieger war froh, dass Rurik bisher noch nicht so schlau gewesen war, ihm sein Pferd zu nehmen. Die Stute war kein Schlachtross, wie es wohlhabende Ritter von höherem Rang bevorzugten. Das wäre bei weitem zu aufwendig für Brandolfs Vater gewesen. Die Kosten für ständig neue Waffen, Rüstungen und für die Besatzung seiner kleinen Burg verschlangen schon genug Gelder und Abgaben.

Die braune Stute des Kriegers war wesentlich kleiner und zierlicher gebaut als ein Schlachtross. Mit ihrem ruhigen Gemüt war sie im Gefecht allerdings ebenso beherrscht wie ein solches und darüber hinaus sehr viel wendiger als die meisten Pferde. Zudem hatte das Tier eine einzigartige Ausdauer und konnte über lange Strecken im Trab laufen. Darauf kam es jetzt an: eine schnelle Rückreise. Wenn Brandolf sich sputete und er das Pferd bis an seine Grenzen brächte, so könnte er in zwei Tagen schon auf der väterlichen Burg sein.

Doch noch konnte er nicht reiten. Zuvor musste er seine Habseligkeiten aus dem großen Saal holen, die er in der Nacht zurückgelassen hatte. Seine Rüstung war viel zu kostbar, als dass er sie opfern konnte und sie würde auf dem Heimweg bestimmt noch notwendig sein. Allerdings konnte er jetzt unmöglich einfach in die Halle marschieren und seine Habe packen. Damit würde er Rurik seine Absicht verraten.

Zudem ahnte Brandolf, dass er beobachtet wurde, selbst wenn er Ruriks Gefolgsmann nicht sehen konnte. Scheinbar gelangweilt drehte sich der junge Krieger um und ließ seinen Blick über den Hof gleiten. Es schien, als würde niemand Notiz von ihm nehmen, doch die Ruhe war trügerisch. Brandolf vertraute seinem Instinkt, der ihn warnte.

Der Späher musste getäuscht werden. Brandolf gab nicht preis, dass er die heimlichen Blicke im Nacken spürte und rieb sein Pferd mit frischem Stroh ab, als habe er alle Zeit der Welt. Danach begab er sich wieder auf den Burghof und schlenderte gelassen weiter, weg von der Halle. Er musste den Mann soweit beschäftigen, dass er nicht gleich zu seinem Herrn laufen und berichten konnte.

Der innere Burghof bot ein umtriebiges Bild. Überall beseitigte man die Spuren des Kampfes. Tote wurden geborgen und entlang des Außenwalls aufgereiht. Es sah aus, als seien sie die groteske Stückware des Todes, die auf makabere Art und Weise zum Kauf angeboten wurde. Ein hektischer Mönch schritt die Reihe ab und betete für einen jeden Gefallenen, wirkte dabei jedoch so, als benötige er selbst geistlichen Beistand. Mägde liefen über den Hof und versorgten Verwundete, Kinder versuchten freilaufendes Federvieh und Ziegen einzufangen und sie in die Verschläge zu sperren, mit mäßigem Erfolg.

Der Qualm eines neuen Feuers außerhalb der Burgmauern hing in der Luft und trieb den Gestank versenkten Fleisches in den Innenhof. Wie Rurik es angeordnet hatte, wurden die erschlagenen Nordmänner bereits außerhalb der Burgmauern verbrannt. Auch die beiden Kadaver, die Brandolf in der Nähe seiner toten Herrin begutachtet hatte, waren nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich nährten sich bereits die Flammen an den sterblichen Überresten.

Brandolf suchte den Schmied auf, schaute in der Wachstube nach dem Rechten, half die verkohlten Schweinekadaver aus den niedergebrannten Koben zu bergen und ging hier und da zur Hand, wo seine Hilfe benötigt wurde. Den Pferdestall ließ er indes nie ganz aus den Augen. Er wollte sichergehen, dass seine Stute dort ständig zur Abreise bereit stand. Wenn es soweit war, wollte Brandolf nicht in einem leeren Stall stehen und auf ein Wunder hoffen müssen.

Es war nahezu Mittagszeit, als Rurik mit seinem Gefolge das Hauptgebäude verließ. Das war Brandolfs Chance. Er wartete noch kurz, dann betrat er durch eine Seitentür die Halle. Einige der Burgbewohner hielten sich noch immer darin auf, doch die Mehrzahl der Menschen widmete sich bereits wieder ihrer gewohnten Arbeit, die auch an einem solch außergewöhnlichen Tag keinen Aufschub duldete. Brandolf blieb daher völlig unbeobachtet, ein weiterer Mann unter vielen. Flink zog er sich sein Lederwams und die restliche Gewandung über, schnürte sein Bündel und verließ kurz darauf das Gebäude.

Der Burghof war jetzt deutlich belebter. Rurik erwartete seinen Tross und einige Reiter verließen den Hof, um die Ankommenden schon vor der Burg in Empfang zu nehmen. Darunter würden auch seine Gemahlin und sein Sohn sein.

Auf eine solche Ablenkung hatte Brandolf gehofft. Schnell huschte er in Richtung Stall. Als er bereits die Hälfte des Weges hinter sich gebracht hatte, hörte er laut und deutlich seinen Namen. Brandolf reagierte nicht. Sicherlich gab es noch andere Männer auf dieser Burg mit gleichem Namen.

„Brandolf, Sohn des Gerold! Haltet ein!“

Es gab keinen Zweifel mehr, wer gemeint war und Brandolf verfluchte leise sein Pech. Ausgerechnet jetzt! Dennoch ging er weiter. Mit ein paar flinken Blicken schaute er sich um und sah eine junge Magd, die direkt auf ihn zukam. Wenige Schritte später war Brandolf direkt bei der jungen Frau. Während sein Name noch einmal ungeduldig und laut gerufen wurde, drückte er der überraschten Magd sein Bündel in die Arme und raunte ihr seine Bitte zu:

„Bringe dies zu der braunen Stute im Stall. Bitte! Tu es für Gräfin Sigrun.“

Er war nicht stehen geblieben, sondern einfach an der Magd vorbeigeschritten, doch er hoffte, dass die Eindringlichkeit seiner Bitte unmissverständlich war. Ohne ihre Mithilfe war sein ganzes Vorhaben gefährdet. Geistesgegenwärtig hatte die junge Frau das Bündel unauffällig an sich genommen. Brandolf wagte einen kurzen Blick über seine Schulter und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass sie, ebenso wie er, weitergegangen war.

Nur wenige Schritte weiter erklang sein Name erneut, diesmal mit erboster und eindringlicher Stimme dicht hinter ihm. Er hielt inne, drehte sich um und gab mit überraschter Miene vor, seinen Namen soeben zum ersten Mal vernommen zu haben.

„Brandolf, seid Ihr etwa taub?“, herrschte ihn Ruriks Mann an.

„Nein, durchaus nicht.“ Brandolf blieb höflich, spielte weiterhin den Überraschten und zu Unrecht Beschuldigten.

„Warum hört Ihr dann nicht, wenn Ihr von einem Gefolgsmann des Grafen gerufen werdet?“

Brandolf horchte auf und konnte sich eine Frage nicht verkneifen: „Ist es bereits soweit?“

Den Vertrauten schien die Frage zu verwirren, denn er zweifelte nicht an der neuen Position seines Herrn. Das bestätigte Brandolfs Befürchtung zusätzlich: Rurik versuchte, die Grafschaft an sich zu reißen! Das war ein weiteres Indiz dafür, dass Rurik hinter dem Angriff auf die Greifburg steckte. Schließlich fand Ruriks Mann doch noch Worte. „Gebt Acht und werdet nicht vorlaut! Folgt mir jetzt ohne weitere Reden! Ihr sollt unverzüglich vor Graf Rurik erscheinen!“

Ohne Widerstand kam Brandolf der Aufforderung nach und stand schließlich wieder vor Rurik. Der schien nicht gerade glücklich darüber zu sein, sich erneut mit dem jungen Ritter befassen zu müssen. Er machte den Eindruck, als müsse er sich einer lästigen Fliege erwehren, derer er sich schon längst entledigt geglaubt hatte. Doch Brandolf wusste, dass es sich dabei nur um gespielte Oberflächlichkeit handelte. In Wahrheit musste Rurik sehr daran gelegen sein, ihn erneut zu sprechen, sonst hätte er ihn weder beobachten noch zu sich rufen lassen. Brandolf war für ihn gefährlich!

„Sohn des Gerold“, begann Rurik polternd mit rauer Stimme. „Es wurde mir mitgeteilt, dass Euer Vater Ländereien im Westen der Grafschaft besitzt.“

„Ja“, antwortete Brandolf knapp. Er wollte die Unterredung nicht unnötig in die Länge ziehen.

„Ja, mein Herr!“, korrigierte Rurik ihn zornig. „Seid Ihr und Euer Vater getreue Lehensmänner und Vasallen des Grafen?“

„Natürlich, mein Herr.“

„So solltet Ihr wissen, dass ich bis auf Weiteres die Grafschaft im Namen meines Neffen – Rogar – befehligen werde, als Sachwalter und Stellvertreter meines Bruders. Dies wird so lange von Dauer sein, bis der Knabe gefunden ist und alt genug sein wird, das Volk und die Lande selbst zu führen. Habt Ihr all das vernommen und auch verstanden?“

„Ja, mein Herr.“

Rurik war gerissen und sich über seine Lage im Klaren. Zwar konnte er sich noch nicht als Graf bezeichnen, doch er kannte seine Rechte als Bruder des verstorbenen Burgherrn genauestens. Diese Rechte nutzte er jetzt aus, um seine vorläufige Anwesenheit auf der Burg zu begründen.

Was er dann allerdings forderte, traf Brandolf wie ein Schlag: „So kniet nieder und leistet dem Grafen auch im Namen Eures Vaters einen Eid!“

Es kostete Brandolf einige Überwindung, doch nach kurzem Zögern beugte er schließlich das Knie und senkte sein Haupt in scheinbarer Demut. So schnell er es vermochte, leistete er den althergebrachten Schwur, der dem Grafen uneingeschränkte Treue bekundete. Brandolf fühlte sich mit jedem Wort schmutziger und schämte sich in Grund und Boden. Nicht etwa, weil er zu stolz war, um vor Rurik zu knien. Vielmehr war es der Eid selbst, der wie klebriger Morast schwer an Brandolf haften blieb. Mit höchster Konzentration brachte er die gegenüber Rurik so falsch klingenden Worte über die Lippen. Am liebsten hätte er sich danach den Mund ausgespült, um den faden Beigeschmack loszuwerden.

Nachdem die Worte verklungen waren, legte sich eine erwartungsvolle Stille über den Burghof. Viele der Umstehenden hielten in ihrer Tätigkeit inne, um zu sehen, was weiter geschehen würde. Sie hatten mitbekommen, welcher Eid gerade geleistet worden war, und den meisten war auch bewusst, dass dieser nur dann abverlangt wurde, wenn an der Loyalität des Eiderbringers gezweifelt wurde. Mit einem Mal rückte Brandolf in den Augen der Menschen in das Licht eines trügerischen Recken, dessen Ruf fragwürdig sein könnte und vor dem man sich besser in Acht nehmen sollte. Rurik wusste nur zu genau, was er mit diesem Schauspiel bewirken konnte. Er überließ nichts dem Zufall!

Die Blicke richteten sich jetzt auf den neuen Befehlshaber, vor dessen Übermacht ein kleiner Krieger unterwürfig im Schmutz kniete. Rurik kostete seinen Triumph in vollen Zügen aus. Er genoss es, ebenso auf Brandolf herab blicken zu können, wie ihn im Dreck knien zu sehen und das Ganze auch noch in aller Öffentlichkeit stattfinden zu lassen.

Demütig ließ Brandolf all das in der Hoffnung über sich ergehen, bald die erlösenden Worte zu vernehmen und von Rurik entlassen zu werden.

„Erhebt Euch, Brandolf, Sohn des Gerold“, vernahm er schließlich erleichtert und richtete sich wieder auf. „Geht mir jetzt aus den Augen, doch vergesst niemals, welchen Eid Ihr soeben vor Gott und all den Menschen hier geleistet habt. Ihr seid und bleibt ein Mann des Grafen, bis man Euch aus dem Eid entlässt, sei es durch Tod oder Wort. Habt Ihr das begriffen?“

„Ja, mein Herr.“

„Dann verschwindet jetzt!“

Deutlicher hätte Rurik es nicht sagen können. Wahrscheinlich würde Brandolf eher der Tod ereilen, als dass Rurik ihn mit Worten von diesem Schwur entließe. Bevor sich der junge Krieger erhob, blickte er noch einmal in die Augen seines Gegenübers. Er wusste nicht, was er darin suchte, vielleicht eine Regung, ein Funkeln oder einen Hinweis.

Rurik erwiderte den Blick für einen Herzschlag, dann schaute er verächtlich beiseite, als habe er Wichtigeres zu tun. Dieser kurze Augenblick war allerdings ausreichend, um Brandolf all jene Dinge zu offenbaren, welche er schon bei vielen anderen Männern gesehen hatte: Hochmut, Habgier und Machthunger. Rurik glaubte sich am Ziel seiner Bestrebungen oder zumindest in dessen unmittelbarer Nähe. Durch nichts würde er sich jetzt noch von seinem Ziel abbringen lassen. Schon gar nicht von einem Mann wie Brandolf.

Schnell senkte Brandolf sein Haupt, um diese Erkenntnis und seinen aufkeimenden Zorn vor Rurik zu verbergen. Er stand auf und kehrte seinem neuen Lehnsherrn den Rücken, allerdings mit einem unangenehmen Gefühl, da Brandolf nicht wusste, was jetzt alles hinter ihm geschah. Seine Schritte mit der Befürchtung im Nacken, Rurik könnte es sich doch noch einmal anders überlegen, führten ihn über den Hof, zurück zum Stallgebäude. Je größer die Distanz zu Rurik wurde, umso leichter fiel es Brandolf schließlich, durchzuatmen und auszuschreiten.

Erleichtert stellte er fest, dass seine Stute im Stall auf ihn wartete. Jetzt musste er sie nur noch satteln, aufsitzen und losreiten. Aus der Burg zu entkommen, war für ihn wahrscheinlich die größte Bedrohung des Tages und würde nicht so leicht gelingen, wie es sich anhörte. Es könnte Brandolf schneller das Leben kosten als der Kampf in der vergangenen Nacht.

Er ging zu seiner Stute und sah, dass sie gesattelt und sein Bündel mit Lederriemen daran befestigt war. Die junge Magd hatte ihn erhört und nicht nur seiner Bitte entsprochen, sondern auch dafür gesorgt, dass der Stallmeister das Pferd für die Abreise bereit machte. Im Stillen dankte Brandolf ihr, während er eilig die Zügel vom Pfosten löste und sein Tier an den anderen Pferden vorbei durch den Stall führte.

Noch bevor er die Stalltür erreicht hatte, bemerkte er jemanden, der sich von hinten näherte. War es einer von Ruriks Männern, der ihm auflauerte? Wieso hatte Brandolf ihn nicht bemerkt? Er brachte die Stute zum Stehen. Auf alles gefasst, legte Brandolf verdeckt die Hand an das Heft seines Schwertes. Die unbekannte Person schlich über den mit Stroh bedeckten Boden, näherte sich ihm noch immer. Die Bewegungen waren kaum zu vernehmen, nur ein leises Rascheln, doch der junge Krieger war gewappnet. Immer näher kamen die Schritte, dann waren sie dicht hinter ihm.

Blitzschnell drehte sich Brandolf um und zog gleichzeitig sein Schwert. Als er jedoch die hilfsbereite Magd vor sich sah, ließ er die Klinge beinahe fallen. Erschrocken blieb die Frau stehen und die Worte, die sie gerade aussprechen wollte, blieben ihr im Halse stecken. Ein Bündel entglitt beinahe ihrer Hand.

„Gute Frau, schleiche dich niemals von hinten an einen Krieger heran.“ Erleichtert ließ Brandolf die scharfe Klinge im Futteral verschwinden.

Nach dem Schrecken nahm die Magd all ihren Mut zusammen und ging auf Brandolfs Pferd zu. Dort befestigte sie das Bündel am Sattel. Während sie die Riemen schnürte, erklärte sie leise: „Wahrscheinlich habt Ihr einen langen Weg vor Euch. Ein wenig Proviant soll Euch helfen. Besser ist es, wenn Ihr zügig reitet und möglichst selten anhalten müsst. Man weiß nie, ob und wann der neue Herr es sich vielleicht noch einmal anders überlegen wird.“

Brandolf war verwirrt über die offenen Worte der Magd. Auch wenn er sie um Hilfe gebeten hatte, so konnte sie dennoch ein Hinterhalt Ruriks sein. Daher blieb er vorsichtig.

„Ich habe gerade einen Eid vor allen Anwesenden geleistet. Hast du ihn als Einzige etwa nicht vernommen? Ich bin dem Grafen zur Treue verpflichtet und er zu meinem Schutz. Rurik würde es nicht wagen, den Eid von sich aus zu brechen.“

„Das mag sein. Doch was sollte ihn daran hindern, Euch verfolgen zu lassen? Auf Reisen kann viel geschehen! Es gibt zahllose Wegelagerer und Geächtete in den Wäldern. Ihr wäret nicht ihr erstes Opfer, selbst als erfahrener Ritter. Zudem habt Ihr den Eid nicht auf Rurik geleistet …“

Die Magd sprach offen aus, was Brandolf selbst befürchtete. Aus einem fremden Munde klang es allerdings viel plausibler als in seinen Gedanken. Rurik hatte ihn die gesamte Zeit beobachten lassen und es wäre nicht verwunderlich, wenn er für ihn einen Hinterhalt geplant hätte. „Ich danke dir. Selbst deine Herrin Sigrun hätte nicht edler handeln können.“

„Von ihr habe ich es auch gelernt. Ich habe nur eine Bitte an Euch.“ Brandolf gestattete sie mit einem Kopfnicken. „Vergesst Euren Eid nicht, den Ihr soeben geleistet habt. Denkt vor allem daran, wem Ihr ihn geleistet habt!“

Eine merkwürdige Bitte für eine Magd. Brandolf war so verblüfft, dass er nicht zu antworten wusste. Die junge Frau wandte sich zum Gehen und verschwand durch den abgebrannten, offenen Bereich des Stalles, noch bevor er etwas erwidern konnte. In Gedanken versunken führte er sein Pferd aus dem Stall in Richtung Haupttor.

Gerade wollte Brandolf das Tor zur Vorburg passieren, als mehrere Reiter im vollen Galopp über den Platz in den Innenhof der Feste preschten, direkt auf Rurik zu. Es waren seine Gefolgsmänner und sie kündigten die Ankunft des Wagentrosses an.

Brandolf fluchte leise. Wegen des Eintreffens des Gefolges war es jetzt unmöglich, den schmalen Weg hinab in die Auen zu nehmen. Dieser enge Pfad war im Augenblick mit Mann, Tier und Karren derart blockiert, dass ein Vorbeikommen unmöglich war. Brandolf blieb nichts anderes übrig, als etwas abseits am Tor zwischen Vorburg und Innenhof auf eine Gelegenheit zu warten, die Feste endlich zu verlassen.

Das Warten gab ihm aber auch eine Gelegenheit, Ruriks Gemahlin zu Gesicht zu bekommen. Ihm war über dieses Weib schon so manches zu Ohren gekommen und es entsprach nicht gerade dem, wie sich ein Weib zu verhalten hatte.

Wulfhild, so lautete ihr Name, zeigte all jenen das Gegenteil, die glaubten, eine Adelige müsse sich bei einer Reise in einem der hinteren, von Kriegern geschützten Wagen durch die Landschaft fahren lassen, damit sie und ihr Nachwuchs in Sicherheit waren. Weit gefehlt! Sie kam kurz hinter der galoppierenden Vorhut auf einem Pferd ebenso forsch durch das Tor geprescht wie die Reiter zuvor. Es war ein imposantes Schauspiel und da die Vorhut bereits abgesessen war, konnte sie sich als einzige Reiterin im gesamten Hof aller Blicke gewiss sein.

Ruriks Gemahlin war eine große Frau und überragte die meisten Männer, mit Ausnahme ihres Gatten. Entsprechend breit war ihre Statur und unter den Kriegern gab es wenige, die es mit ihren breiten Schultern und den kräftigen Oberarmen hätten aufnehmen können. Mutige Zungen behaupteten, dass an ihr ein Krieger verloren gegangen sei, der seinesgleichen gesucht hätte. Besonders Kühne meinten gar, dass ein jedes Kleid an ihrem Körper eine Verschwendung feinen Stoffes wäre und sie deshalb nahezu ausschließlich die Gewandung von Männern trug. All diese Äußerungen mussten natürlich vorsichtig und hinter vorgehaltener Hand gemacht werden, wenn man sein Leben nicht verwirken wollte.

Soweit Brandolf es einzuschätzen vermochte, beneidete kein einziger Mann Rurik um sein Eheweib. Es hieß aber auch, dass er der einzige Mann sei, der diese Frau zu bändigen wusste und Wulfhild allein von Rurik Anweisungen und Befehle akzeptierte.

Um die hohe Geschwindigkeit des Tieres in dem beengten Innenhof zu verringern, lenkte Wulfhild ihr Tier in mehreren großen Kreisen über den Platz und trieb dadurch die versammelte Menge auseinander. Brandolf glaubte gar zu sehen, dass sie dem Tier sogar noch die Hacken in die Flanken trieb, um es anzuspornen statt zu zügeln. Ein Lächeln auf ihrem breiten Gesicht bekundete, dass ihr dieses Auftreten Vergnügen bereitete.

Rurik schaute sich das Spektakel nicht lange an. Schon nach der zweiten Umrundung seiner Gemahlin begann er lauthals zu drohen, das Pferd dem Schlachter zu überlassen, sollte sie es nicht augenblicklich zum Stehen bringen. Wulfhild ließ das aufgebrachte Pferd immer langsamer seine Kreise um Rurik ziehen und brachte es schließlich vor ihm zum Stillstand. Eine dichte Staubwolke umhüllte ihn und seine Getreuen. Rurik beherrschte sich und blieb ohne eine Regung stehen, während seine Männer zu hüsteln begannen und sich augenreibend abwandten.

Mit Elan sprang Wulfhild vom Pferd und tätschelte zufrieden den muskulösen Hals des Tieres. Erst jetzt konnte man die Fülle dieser Frau zur Gänze erkennen. Direkt vor ihrem Gemahl stehend, blickten sich beide zunächst stumm an. Die Anwesenden im Hof verharrten schweigend und beobachteten, was nun geschah.

Nach wie vor stand Rurik ungerührt da, einem unbeweglichen Felsen gleich. Die Blicke, die er und seine Gemahlin austauschten, erinnerten Brandolf an sein eigenes Ringen mit diesem Mann. Rurik beendete dieses Spielchen und brach das Schweigen mit grollender Stimme.

„Musste das wieder sein? Ich habe dir schon mehrfach angedroht, das Tier wegzunehmen, wenn du es nicht zu beherrschen lernst.“

Die Stille im Burghof war so vollkommen, dass selbst Brandolf am Tor jedes einzelne Wort hören konnte. Wulfhild schien sich daran nicht zu stören. Stämmig und selbstbewusst wie sie war, wich sie keinen Fingerbreit vor ihrem Gatten zurück. Im Gegenteil, sie bot Rurik sogar die Stirn: „Du solltest dich doch noch gut daran erinnern können, dass ich schon ganz andere Dinge zugeritten habe.“

Nach der Bemerkung blickte Wulfhild kurz in die Runde und ihr entging das ein oder andere Grinsen nicht, das rasch hinter einer Hand oder durch ein gesenktes Haupt verborgen wurde. Genau das war es, was sie erreichen wollte: Rurik ein Stück weit lächerlich machen und selbst das Wort führen.

„Und, hast du erreicht, was du wolltest?“

„Ja“, lautete Ruriks knappe Antwort. Es war deutlich, dass er es auf dem Burg hof zu keinem langen Disput kommen lassen wollte, schon gar nicht über dieses Thema. Dennoch fuhr seine Gattin fort.

„Wie viele Tote?“

„Nur wenige. Mein Bruder und seine Frau, Gesinde und ein Teil der Besatzung!“

„Das Kind?“

„Wir suchen es noch. Bisher haben wir es in dieser großen Feste noch nicht ausfindig machen können. Meine Männer durchkämmen im Augenblick jeden noch so kleinen Unterschlupf.“

„Der Junge muss gefunden werden!“

„Ich weiß.“ Rurik wirkte ungeduldig. Er war offensichtlich nicht gewillt, dieses Thema öffentlich weiter auszuführen. Wulfhild bemerkte den aufkommenden Unmut ihres Gatten. Geschickt begann sie, von einer anderen Angelegenheit zu sprechen.

„Du erinnerst dich an unsere Vereinbarung?“

„Natürlich“, gab Rurik entnervt und mit rollenden Augen zurück, als müsse er auch dieses Thema nicht zum ersten Mal mit Wulfhild besprechen. Just in diesem Moment hielt der Rest des Trosses polternd Einzug in die Vorburg und brachte das von Rurik ersehnte Ende des Gesprächs.

Neben den Wagen und der Gefolgschaft war auch ein Pony Teil des Trosses. Darauf saß der von vielen gleichaltrigen oder gar älteren Jungen gefürchtete Sohn Ruriks. Der junge Drogo war ebenso ungestüm wie seine Mutter. Er führte sein Tier in den Innenhof und dann mit kleinen, schnellen Schritten quer über den Platz. Die Menschen, die aufgrund des Gespräches wieder etwas näher an das Paar herangekommen waren, wurden erneut zurückgedrängt. Die Freude des Jungen über den so erzwungenen Gehorsam war unverkennbar und glich der seiner Mutter.

Trotz des Tumults in der Vorburg zog Wulfhild die Aufmerksamkeit ihres Gatten wieder auf sich. Brandolf hatte Mühe, bei dem Lärm die Unterredung weiter mitzuverfolgen und wagte sich ein paar Schritte näher.

„Hast du mit dem Pfaffen gesprochen?“, fragte Wulfhild Rurik fordernd.

„Er ist ein Mönch, kein Pfaffe“, gab Rurik missgelaunt zurück.

„Das tut nichts zur Sache. Ist es beschlossen worden oder nicht?“

„Es wurde alles arrangiert. Und beschlossen war es längst!“

„Wirst du an dem Plan festhalten?“

„Natürlich, Weib!“ Rurik war jetzt sichtlich erbost, dass Wulfhild es wagte, seine Glaubwürdigkeit in aller Öffentlichkeit derart in Frage zu stellen.

„Zweifelst du etwa an meinem Wort und meiner Ehre?“

„Nein, selbstverständlich nicht“, gab Wulfhild etwas gedämpfter von sich, um ihren zornigen Gemahl zu besänftigen.

Sie machte einige Schritte auf das Hauptgebäude zu, hielt jedoch noch einmal inne und wandte sich erneut ihrem Gemahl zu. Ihre Stimme klang laut und deutlich über den Hof.

„Du weißt genau, dass Drogo auch das Wort und nicht nur das Schwert beherrschen muss. So manches Gefecht wird mit dem Federkiel ausgetragen, oft damit entschieden und vor allem damit besiegelt. Eine scharfe Klinge kann zwar manchen Sieg erringen, doch nur das Wort kann ihn auf lange Sicht erhalten und schafft die notwendigen Verbündeten!“

Ohne Rurik die Möglichkeit einer Antwort zu geben, wandte sich Wulfhild ab und ging weiter. Der Klang ihrer Stimme schien noch von den Burgwänden widerzuhallen, als sie die große Halle betrat. Ein derber Fluch kam über Ruriks Lippen. Seine Vertrauten blickten betroffen zu Boden, als ob sie dadurch seinem Unmut entgehen könnten.

Brandolf hatte genug gesehen und gehört. Es war höchste Zeit für ihn aufzubrechen. Möglichst unauffällig führte er sein Pferd durch das Tor in die Vorburg. Wie er gehofft hatte, war der Tross inzwischen nahezu vollständig eingetroffen. Menschen und Tiere drängten sich auf dem kleinen Platz zwischen den Gebäuden, Wagen und Karren.

So schnell wie möglich bahnte sich Brandolf seinen Weg durch das Treiben. Seine Gedanken drehten sich aber noch um das Gespräch zwischen Rurik und Wulfhild. Alle Indizien wiesen darauf hin, dass der Angriff und die plötzliche Rettung der Burg nichts weiter als ihr schmutziges, falsches Spiel gewesen waren. Eine gefährliche Theorie, dessen war sich Brandolf bewusst, doch sie wurde von dem eben vernommenen Disput bekräftigt. Eindeutige Beweise fehlten ihm jedoch.

Kurz bevor Brandolf das Haupttor erreichte, drehte er sich noch einmal instinktiv um und sah Rurik, der ihn beobachtete. Ihre Blicke trafen sich. Es schien, als teilten sie in diesem Moment ein Geheimnis. Brandolf spürte deutlich das Misstrauen, das sich in den Augen des neuen Burgherrn widerspiegelte.

Rurik ahnte es! Er erriet Brandolfs Mutmaßung und Anschuldigung! Schnell löste der junge Krieger seinen Blick, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Er sah gerade noch, wie Rurik zwei seiner Männer anwies, Brandolf zu folgen. Wollte Rurik seine errungene Macht sichern, so musste er Brandolf unbedingt daran hindern, die Burg zu verlassen. Der vor wenigen Augenblicken geleistete Treueschwur war bedeutungslos geworden. Taten würden Rurik mehr Gewissheit geben!

Schnelligkeit würde jetzt Brandolfs bester Verbündeter sein. Ohne sich weiter um seine Verfolger zu kümmern, bestieg er auf dem belebten Hof sein Pferd und trieb es trotz der vielen Menschen lauthals an. Die Leute stoben erschrocken zur Seite und gaben den Weg zum Tor frei. Verwunderte Blicke der Wachen und einige Beschimpfungen begleiteten Brandolf auf dem Weg nach draußen, doch niemand versuchte, ihn aufzuhalten. Die Stute befand sich bereits in vollem Galopp, als sie auf das Plateau vor der Burg preschte.

Auf dem schmalen Pfad hinab zu den Auen befanden sich noch vereinzelt Frauen und Männer, die zum Tross des neuen Sachwalters gehörten. Ein unglaublich großes Gefolge für einen kurzen Familienbesuch, stellte Brandolf fest.

Sicheren Hufes bahnte sich die Stute den Weg auf dem schmalen Pfad nach unten. Sie drängte sich an den Menschen vorbei, die sich gegen die aufgehende Felswand pressten, um von dem ungestümen Tier nicht in die Tiefe gerissen zu werden. Brandolf spornte sein Pferd weiter an, nahm keine Rücksicht auf die arglosen Leute. Mit Schrecken sah er am Beginn des Anstieges einen Ochsenkarren, der kurz davor war, den Weg nach oben anzutreten. Der Karren würde den Weg blockieren. Ein Entkommen wäre dann unmöglich. Der Ochsentreiber würde seinen Karren nicht mehr wenden können und Brandolf säße in der Falle.

Zu seinem Glück bewegte sich der Karren keine Elle weiter, weil er im Morast der Wiese feststeckte. Der Ochsentreiber fluchte aufs Heftigste und versuchte, die beiden Tiere anzutreiben, jedoch ohne Erfolg. Brandolf sah darin eine Gelegenheit.

Er spornte sein Pferd auf dem letzten Abschnitt des Weges noch einmal an. Beim Ochsenkarren angekommen, stoppte der Krieger das Tier abrupt und sprang aus dem Sattel, noch ehe es ganz zum Stehen gekommen war. Sofort machte er sich daran, dem Ochsentreiber zu helfen.

Der Knecht und Brandolf benötigten mehrere Anläufe und eine Unzahl von Flüchen, bevor sich der einachsige Karren mit einem saugenden Geräusch schließlich aus dem Morast löste. Endlich rollte er wieder voran. Sofort begannen die Tiere, ihre Last auf dem schmalen Pfad unaufhaltsam empor zu ziehen.

„Verfluchte Mistviecher, wehe ihr bleibt noch einmal stehen! Danke, Herr.“

Der Ochsentreiber verbeugte sich mit abgenommener Haube ein wenig, dann sprang er seinem Karren hinterher, um sicherzugehen, dass die Ochsen keinen weiteren Fehltritt begingen. Brandolf nickte zufrieden und ließ den schlammverschmierten Mann seiner Arbeit nachgehen. Dessen raue, antreibende Rufe waren ein Wohlklang in Brandolfs Ohren, bedeutete doch jede gefahrene Elle, dass der Weg für seine Verfolger bald versperrt sein würde. Ein Blick nach oben zeigte ihm, dass Ruriks Männer bereits die erste Hälfte des Pfades hinter sich gebracht hatten.

Rasch sprang Brandolf wieder auf seine Stute und galoppierte geradewegs über die Wiesen zum rettenden Waldrand. Als der Forst erreicht war, zügelte der junge Krieger sein Pferd und wandte sich noch einmal der Burg zu. Ein befreiendes Lachen erklang plötzlich aus seiner Kehle, denn seine Verfolger wurden auf dem schmalen Pfad vom Ochsengespann aufgehalten. Gänzlich unbeeindruckt von den Drohungen der Recken trieb der Knecht seine Tiere immer weiter nach oben. Die Pferde der Krieger wurden Schritt für Schritt zurückgedrängt, ganz wie Brandolf es gehofft hatte.

Alles, was er jetzt noch benötigte, war ein ungehinderter Ritt durch die dichten Wälder der Grafschaft. In diesen kannte er sich bestens aus und der notwendige Vorsprung, den er für eine sichere Heimkehr benötigte, war ihm jetzt gewiss. Vielleicht war ihm das Glück auch hold und er würde auf seiner Reise einen Hinweis auf Rogars Verbleib finden. Doch die Suche nach ihm würde wahrscheinlich noch eine Weile warten müssen. Wichtiger war jetzt erst einmal, Ruriks Treiben ein vorzeitiges Ende zu setzen, bevor es richtig beginnen konnte.

Die Eiswolf-Saga / Die Eiswolf-Saga. Teil 2: Irrwege

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