Читать книгу Die Eiswolf-Saga / Die Eiswolf-Saga. Teil 2: Irrwege - Holger Weinbach - Страница 8
ОглавлениеAnno 956 – Sigrun
Die Pferde wurden unruhig, als der plötzlich aufkommende Wind die Blätter des nächtlichen Waldes in Bewegung setzte. Das ein oder andere Tier schnaubte laut und begann, nervös mit den Hufen im weichen Waldboden zu scharren. Ihre Reiter, mehrere Dutzend an der Zahl, konnten sie mit besänftigenden Worten wieder beruhigen. Sie waren in Rüstungen gekleidet und mit Langschwertern, Äxten und Schilden bewaffnet. Für sie galt es jetzt unbedingt, im Verborgenen zu bleiben.
Die vorderen Reihen der Bewaffneten, etwa die Hälfte, standen nahe am Waldesrand. Diese Reiter unterschieden sich in ihrer Erscheinung von den hinteren durch ihre Kleidung und Waffen, die in diesem Landstrich nicht üblich waren. Ein erfahrenes Auge konnte sofort erkennen, dass ihre seltsam bemalten Rundschilde, eigenartig kurzen Schwerter und Wurfäxte der Art des rauen Nordens entsprachen. Es waren die Waffen und Rüstungen der gefürchteten Nordmänner, der gnadenlos raubenden und mordenden Wölfe aus den kalten Landen jenseits der nördlichen Meere, die mit dem Auftauchen ihrer schlanken, schnellen Boote überall Angst und Schrecken verbreiteten.
Hier allerdings saßen sie völlig ruhig zu Pferd, als wären sie zuhause. Ein ungewöhnlicher Anblick, denn ein befahrbarer Fluss war etwa einen Tagesmarsch entfernt und es war bisher nicht überliefert, dass die Eiswölfe, wie sie im Volksmund auch genannt wurden, zu Pferd derart tief in fremdes Gebiet vordrangen, um Beute zu machen.
Umso seltsamer muteten die hinteren Reihen der Bewaffneten an. Selbst ein hiesiger Bauer hätte sie sofort als Landsleute erkannt. Ihre Rüstungen und Waffen entsprachen denen eines jeden Kriegers in der Grafschaft. Verwunderlich war, dass die beiden ungleichen, sonst feindlich gesinnten Gruppen, beinahe regungslos und friedlich miteinander warteten und die nahe, auf einer Felsenkuppe trutzende Burg jenseits des Waldes beobachteten.
Die Nacht war sternenklar. Das Mondlicht tauchte die Wiesen zwischen dem Wald und der Burg in ein fahles Licht. Es schien eine ungünstige Nacht für das Vorhaben zu sein, doch ein fernes Grollen aus dem Westen kündete einen heraufziehenden Sturm an. Erste Wolken verdunkelten bereits den Horizont. Bald würden sie den gesamten Himmel bedecken und das verräterische Licht des Mondes verbergen.
Bisher galt die Burg des Grafen als uneinnehmbar. Die Festung, mit einem starken Tor geschützt und von dicken Mauern umgeben, strahlte Macht und Sicherheit aus, als wolle sie die Wartenden verspotten. Stark prangte sie auf dem Felsen und wurde ihrem Namen gerecht, der landläufig die Greifburg lautete. Wie der Horst eines Raubvogels war auch diese Feste für Angreifer unerreichbar.
Die Anhöhe stieg vom Westen her steil an und bildete im Nordosten ein hoch aufragendes Felsmassiv, das in einem fast senkrechten Abgrund endete und unmöglich zu erklimmen war. Dieser zerklüftete Abschnitt des Felsens bildete einen Teil des Außenwalls der Burg. Die übrigen Mauern der Wehranlage bestanden aus festem, solidem Stein. Die meisten Burgen in den Landen besaßen nicht mehr als einen Palisadenwall mit einem Wehrgang und einem Bergfried zur Verteidigung, doch die Burg des Grafen war anders. Mit mehreren Türmen, überdachten Wehrgängen, schützenden Zinnen und einem mächtigen Burgtor war die Feste gegen einen direkten Ansturm gut gewappnet und sie würde einem solchen standhalten können, ohne größeren Schaden davonzutragen. Eingeteilt in Vor- und Hauptburg, befanden sich alle wichtigen Gebäude innerhalb der Feste, um als eine eigenständige Siedlung im Falle einer Belagerung bestehen zu können. Das Wichtigste, die Versorgung mit Wasser, wurde durch ein Brunnenhaus mit einer großen Zisterne gesichert. Zudem hatte der einstige Bauherr zahlreiche Vorratsstollen im Fels anlegen lassen, die meist gut gefüllt waren. Die Burgbesatzung mittels einer Belagerung auszuhungern, wäre ein langes Unterfangen.
Den einzigen Zugang zur Burg gewährte ein schmaler, sich links am steilen Hang anschmiegender Pfad. Er war gerade breit genug für einen Karren oder zwei Pferde nebeneinander. Jedem, der die Absicht hatte die Burg zu erstürmen, blieb nur dieser Weg und er war gezwungen, den Schild zum Schutz in die rechte Hand zu nehmen und das Schwert im Futteral zu belassen. Andernfalls wäre er den Bogenschützen der Verteidiger schutzlos ausgeliefert. Sollte trotz aller Wehranlagen das Tor dennoch einmal fallen, so müsste der Feind noch gegen zahlreiche innere Verteidigungsanlagen bestehen, bevor er endlich zum Innenhof der Hauptburg und dem Bergfried gelangen konnte. Mit bloßer Gewalt war die Greifburg nicht einzunehmen. Wer es dennoch wagte, musste mit immensen Verlusten rechnen. „Die Gefallenen wären so zahlreich, dass man auf ihnen wie auf einer Stiege die Mauern mühelos erklimmen könnte“, hatte es einst ein Hauptmann geschildert, als man nach seiner Einschätzung, die Burg zu erstürmen, gefragt hatte.
Die wartenden Männer im Walde waren nicht für eine Belagerung ausgerüstet. Ihr Vorhaben musste schnell vonstatten gehen und ihr Erfolg hing nicht von ihrer Zahl, Überlegenheit und Kampfkraft ab, sondern von ihrer List, Schnelligkeit und Stille. So verharrten sie weiter geduldig, wenn auch angespannt in ihrem Versteck und beobachteten die Burg. Sie hofften auf das Zeichen für den baldigen Angriff.
Die Pferde traten nervös auf der Stelle. Es lag am Geruch der Leichen, die quer auf den Rücken einiger Rösser lagen. Immer wieder blähten sie ihre Nüstern auf, als wollten sie mit einem heftigen Schnauben den abstoßenden Gestank der Verwesung vertreiben.
Ein Blitz erhellte den Himmel kurz und grell.
Einige Pferde scheuten, als der Donner, unerwartet nahe, laut grollend zuschlug. Für einen kurzen Augenblick wurden die Gesichter der Männer erhellt. Manche zuckten ängstlich zusammen und einige Lippen sandten wohl Stoßgebete gen Himmel, dass der gerechte Herr ihnen nicht zürnen möge. Manche unter ihnen hielten sicherlich noch an dem fast vergessenen, heidnischen Glauben fest und riefen alte Gottheiten an. Welche Macht sie auch immer anflehen mochten, sie baten um deren Gunst und Beistand.
Nur das Gesicht eines Mannes war gänzlich unerschrocken. Er blickte ruhig auf die Burg, wirkte dabei entspannt, aber sehr bestimmt. Auf seltsame Weise strahlte dieser Mann sogar Zufriedenheit aus. Er hatte sein Pferd gut im Griff. Im Gegensatz zu vielen seiner Artgenossen regte sich das Tier nicht ein einziges Mal während des Donners. Dies war kein gewöhnliches Pferd, sondern ein gewaltiges, edles Schlachtross. Ein solches Tier war nicht so leicht zu erschrecken, waren ihm doch lärmende Kämpfe, Gewalt, Blut und der Geruch des Todes vertraut. Das Pferd passte aufgrund seiner großen und muskulösen Statur ausgesprochen gut zu seinem Herrn, denn dieser überragte die meisten Männer um nahezu eine Haupteslänge. Er war ein Fels von einem Krieger, groß, spröde und hart.
Auch die Gewandung des Mannes hob sich von jener der übrigen Krieger deutlich ab, war von weitaus feinerer Qualität. Beinkleider, Wams, Schulterschutz und Armschienen bestanden aus bestem Leder. Oberhalb des Kragens schimmerte schwach die eiserne Brünne des unter dem Leder getragenen Kettenhemdes hervor, die den gesamten Hals bis unter das Kinn schützte. In einem fein gearbeiteten Lederfutteral zu seiner Linken befand sich ein Langschwert und ein runder, mit Metall beschlagener Schild hing rechts an seinem Sattel.
Ohne Zweifel oblag diesem Krieger die Befehlsgewalt über die merkwürdige Reiterschar. Das war nicht nur daran erkennbar, dass die Männer einen respektvollen Abstand zu ihm hielten oder weil er feinere Gewandung trug. Nein, seine gesamte Erscheinung war es, die Autorität ausstrahlte.
Plötzlich löste sich einer der Reiter aus dem Dunkel der hinteren Baumreihen, statt wie befohlen an seinem Platz zu warten, und hielt auf den großen Krieger zu. Auch dieser Mann war anders gekleidet. Trotz der sommerlichen Schwüle hüllte er sich in einen schwarzen Mantel, unter dem er weder Waffen noch Rüstung trug. Eine Kapuze verbarg sein Gesicht völlig, doch sein Blick war unverkennbar ebenfalls starr auf die Burg gerichtet. Nach einem kurzen Zögern wandte er sich dem Anführer zu und seine raunende, eindringliche Stimme brach das Schweigen. „Die Männer und die Pferde werden langsam unruhig.“
Der Kommandant reagierte nicht. Unsicher wandte sich der Verhüllte wieder der Burg zu und schwieg für eine Weile. Der Krieger erkannte an den unruhigen Händen die Nervosität des Mannes und so wunderte er sich nicht, dass dieser das befohlene Schweigen bald erneut brach: „Wo bleibt das vereinbarte Zeichen? Es ist längst überfällig! Wer weiß, ob Eure Spießgesellen nicht volltrunken bei einer Dirne liegen, statt ihren Auftrag auszuführen.“
Einzig eine hochgezogene Augenbraue deutete darauf hin, dass der Krieger die Worte vernommen hatte. Trotz des soeben geäußerten Zweifels an seinem Durchsetzungsvermögen und der Loyalität seiner Verbündeten blieb seine Stimme ruhig, als er zum Gegenzug ansetzte. „Ich kann mich auf meine Männer verlassen. Es sind einfache Handgriffe, die ich von ihnen erwarte, und glaubt mir, sie führen diese nicht zum ersten Mal aus. Im Glauben seid Ihr doch stark, nicht wahr?“
Der Seitenhieb saß und die verhüllte Gestalt schwieg für einige Augenblicke, schluckte die Enttäuschung und die eigene Angst herunter. Doch lange konnte sie die Stille nicht bewahren: „Die Männer können sich und ihre Tiere kaum noch zurückhalten. Seht Ihr denn nicht, wie angespannt sie sind? Ein Wiehern oder ein Husten kann uns verraten. Der aufkommende Wind trägt die Geräusche heute Nacht weit und es würde mich nicht wundern, wenn er den Gestank der Leichen bereits bis zur Feste getragen hat.“
„Habt Ihr schon einmal eine Schlacht erlebt? Ward Ihr schon einmal bei der Erstürmung einer Burg dabei? Oder vielleicht bei dem galoppierenden Ritt der Vorhut auf das feindliche Heer zu? Habt Ihr schon einmal das bebende Zittern der Erwartung kurz vor dem Zusammentreffen von Lanze mit Schild, Rüstung und Fleisch gespürt?“
Wäre das verhüllte Gesicht unter der Kapuze zu sehen gewesen, so hätte der Krieger Abscheu erkannt. So war allerdings nur die Stimme zu vernehmen, die nicht viel mehr als eine gezügelte Entrüstung preisgab. „Was denkt Ihr? Natürlich nicht! Schließlich bin ich ein Diener des Herrn und kein Krieger!“
„Dann tut das Eurige, um die Männer zu beruhigen und erteilt die Absolution!“
Der Befehlshaber duldete keine Widerrede. Obwohl der Kleriker kein Getreuer des Kriegers war, fügte er sich dennoch, wenn auch zögerlich. Als er sein Pferd bereits gewendet hatte, hielt er noch einmal inne, um dem Kommandanten erneut die Stirn zu bieten. „Vergesst nicht, ich riskiere viel mit meiner Anwesenheit.“
„Wer in seinem Leben nichts wagt, der wird auch nichts gewinnen. Und gewinnen ist doch genau das, was Ihr am meisten wollt, und zwar noch im Diesseits, nicht wahr? Wenn ich Euch richtig einschätze, so haltet Ihr es nicht ganz so streng mit den Worten, die von den Kanzeln der Kirchen gepredigt werden. Ihr vertraut doch nicht nur auf eine nicht greifbare Belohnung im Jenseits. Oder täusche ich mich?“
Der Priester suchte nach einer passenden Antwort, entschied sich jedoch zu schweigen und bewegte seinen Gaul schließlich zu den wartenden Reitern, um seinen Beitrag zum Gelingen des nächtlichen Vorhabens zu leisten.
Erst jetzt richtete der Kommandant seinen Blick für einen kurzen Moment auf den Kleriker, als wollte er sich vergewissern, nicht weiter durch unnötiges Gerede gestört zu werden. Dann wandte er sich wieder der Burg zu. Gerade noch rechtzeitig, um ein kleines, flackerndes Licht zu bemerken, das in einem der oberen Fenster des Bergfrieds unerwartet aufleuchtete.
Das war ein ganz und gar schlechtes Zeichen, denn es bedeutete, dass entweder der Graf oder dessen Gemahlin erwacht war. Das könnte den Plan des Kriegers vereiteln. Umso mehr war jetzt Schnelligkeit gefragt. Wo blieb nur das verabredete Zeichen?
Er war so nahe daran, endlich das zu erlangen, wonach er sein Leben lang gestrebt hatte. Durch nichts würde er es sich heute Nacht nehmen lassen!
* * *
Sigrun entzündete weitere Kerzen im dunklen Schlafgemach, hoch oben im Bergfried. Sie ging dabei sehr vorsichtig und geschickt vor und ließ keinen einzigen Tropfen des kostbaren Wachses fallen. Auf dem Arm trug sie ihren einzigen Sohn, Rogar, der weinend mitten in der Nacht aufgewacht war. Er hatte sich sofort wieder beruhigt, als er die Wärme und Nähe seiner Mutter spürte. Jetzt schmiegte er sich an sie und beobachtete, wie sie die Lichter entzündete.
Sigrun wusste, dass ihr Junge nach einem solchen Nachtschrecken etwas Helligkeit benötigte, um die Schatten aus den Ecken des Raumes zu vertreiben. Manchmal hatte sie ein schlechtes Gewissen wegen der Kerzen, denn sie waren ein teures Gut, das sich nur wenige leisten konnten. Dann aber besann sie sich, dass sie das Licht für ihren kleinen Jungen in Anspruch nahm und für ihn war ihr nichts zu kostbar.
Obwohl Sigrun zierlich von Gestalt war, empfand sie das Gewicht des beinahe siebenjährigen Kindes keineswegs als Last. Im Gegenteil, sie trug den Jungen gerne. Vielleicht lag es daran, dass er für sein Alter recht zart gebaut war. Doch tief in ihrem Innern wusste sie, dass vielmehr ihre Liebe zu ihm ihr die Kraft gab, ihn mit Freude zu tragen. Vor allem während seiner schweren Krankheit hatte ihr diese Liebe immer wieder die erforderliche Stärke gegeben, ihn über Stunden hinweg tragen zu können.
Trotz der nächtlichen Unruhe durch das Weinen des Kindes und das flackernde Kerzenlicht war Sigruns Gemahl Farold nicht erwacht. Dem leisen Schnarchen nach zu urteilen, schlummerte er noch tief und fest. Als sie ihn so friedlich auf dem Bett liegen sah, erinnerte sie sich an den Tag ihres Kennenlernens, was ein liebevolles Schmunzeln bei ihr hervorrief.
Damals war sie ein unwissendes Mädchen gewesen, dessen Vater einen völlig fremden und viel zu alten Mann als ihren Gemahl auserwählt hatte. Es war eine arrangierte Hochzeit aus politischen Gründen gewesen, deren einziges Ziel es war, Macht zu erlangen und Verbündete zu finden. Liebe spielte dabei keine Rolle.
Sigrun bekam ihren zukünftigen Ehegatten erst wenige Tage vor der Vermählung zum ersten Mal zu Gesicht und war, gelinde ausgedrückt, fassungslos gewesen. Nicht nur wegen seines Anblicks, sondern vor allem wegen seines Alters. Man hatte ihr damals zwar mitgeteilt, dass er bereits nahezu dreißig Jahre zählte und Sigrun hatte daher auch keinen Jüngling erwartet. Als er dann jedoch leibhaftig vor ihr stand, zerbrachen all ihre Vorstellungen in tausend Scherben.
Aufgrund der blumigen Erzählungen ihrer Mutter über die Stattlichkeit des Grafen hatte Sigrun ihn sich immer als einen hoch gewachsenen, edlen und fein gekleideten Herrn vorgestellt, der nur so vor Kraft strotzte. Als einen Mann, der allein schon durch seine Anwesenheit jede Frage von Autorität beantwortete. Als Sigrun schließlich das erste Mal vor Farold stand, konnte sie nicht glauben, dass er der Graf sein sollte. Hätte man ihn ihr nicht mit Namen und Stand vorgestellt, wäre sie an ihm wie an einem getreuen Krieger ihres Vaters vorbeigeschritten, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Weder war er hoch gewachsen, noch trug er besonders feine Kleidung. Im Gegenteil! Seine Gewandung bestand zwar aus gutem, aber auch sehr einfachem Leder. Was seine Größe betraf, so überragte sie ihn sogar um knapp zwei Fingerbreit. Seine Statur war kräftig, wirkte leicht untersetzt und entbehrte jeglicher Eleganz des Mannes ihrer mädchenhaften, naiven Träume.
Ihre Enttäuschung und Ernüchterung hätte sie vielleicht mit einem Wimpernschlag verbergen können. Doch was ihr sichtlich den Atem verschlug, war sein unglaublicher Bart! Es war nicht etwa ein kleiner, gestutzter, zierlicher Bart. Nein, es handelte sich dabei um einen kräftigen, dichten Vollbart aus dunklem, krausem Haar in einem kaum zu erkennenden Gesicht, das sie in Zukunft lieben, ehren und sogar küssen sollte! Diese Behaarung traf sie wie ein Schlag. Ihr zukünftiger Gatte wirkte bedrohlich auf sie und hatte etwas Animalisches an sich, fern jeder Anmut.
Sigrun hatte damals all ihre Willensstärke aufbringen müssen, um nicht einen Schritt zurück zu machen. Ihr kurzes Zögern wurde jedoch von allen Anwesenden bemerkt. Eine betretene Stille erfüllte den zuvor noch so heiter gestimmten Raum. In diesem Moment zeigte sich Farolds exzellente Beobachtungsgabe und sein Feingefühl in schwierigen Situationen, die ihn als Grafen auszeichneten. Und genau diese Eigenschaften waren es auch, die Sigrun als Erstes an ihm kennen und lieben lernte. Mit einer humorigen Bemerkung auf seine Kosten und einem kurzen, herzhaften Lachen kam der Graf auf sie zu und die Spannung im Raum löste sich auf. Dieser herzhafte, von Grund auf ehrliche Humor war das nächste, was Sigrun an Farold lieben lernte. Die eigentliche Liebe kam allerdings erst sehr viel später, lange nachdem sie verheiratet waren.
Zum Zeitpunkt der Trauung war Sigrun noch so unbedarft, dass sie nicht wusste, welches Leben sie an der Seite dieses Mannes erwartete. Geistig abwesend hatte sie ihm in der kleinen Kapelle der Greifburg das Eheversprechen gegeben. Auch ihre jüngeren Schwestern konnten ihr damals keinen Trost spenden, denn wovor sich die junge Braut am meisten fürchtete, war die bevorstehende Nacht mit ihrem Gemahl.
Sigrun war unter den fürsorglichen Augen ihrer Mutter aufgewachsen und unschuldig geblieben, hatte ihre so kostbar gehandelte Jungfräulichkeit für diesen Tag aufbewahrt. Aus Erzählungen und Kommentaren der Bediensteten konnte sich Sigrun immerhin eine vage Vorstellung von dem machen, was sie in dieser ersten Nacht der Ehe erwarten würde. Diese Ahnung ließ sie vor Furcht erstarren.
Das Betten der Frau in der Hochzeitsnacht kam einem Pflichtakt gleich. Der Beweis für den Vollzug der Ehe war das blutige Leintuch des Nachtlagers, das am nächsten Morgen von den Mägden entfernt wurde. Über all das wurde zwar niemals offen gesprochen, doch vom Wechseln der Linnen bis hin zum weit verbreiteten Gerücht würde es nicht einmal bis zum Abend dauern, und alle Anwesenden auf der Burg würden Kenntnis davon besitzen, ob das Tuch befleckt war oder nicht.
Aus Furcht vor dieser Nacht zog Sigrun es in Erwägung, sich ihrem Gemahl zu entziehen. Wenn er sie nicht mit Gewalt gefügig machen würde, könnte sie diese Erfahrung noch einige Zeit von sich fernhalten.
Ein unbeflecktes Bettleinen konnte allerdings zwei mögliche Gerüchte am nächsten Morgen zur Folge haben. Eines davon würde der Wahrheit entsprechen und lauten, dass in der Nacht nichts geschehen war. Es würde den frisch vermählten Grafen allerdings schwach erscheinen lassen, unfähig, sein Recht im Bett einzufordern. Ein fatales Gerücht für Farolds Machtstellung, denn diese Geschichte würde sich auch jenseits der Burgmauern wie ein Lauffeuer ausbreiten. Nicht nur Bauern würden diesen Worten lauschen, sondern auch Vasallen, Gleichgestellte und Mächtigere von höherem Stande.
Das andere mögliche Gerücht hätte Sigruns Unberührtheit in Frage gestellt, sollte sich ihr Gatte trotz fehlenden Blutes auf dem Linnen damit brüsten, seine Gemahlin ganz nach seinem Willen genommen zu haben. In diesem Zwiespalt gefangen verstrich der Tag der Vermählung viel zu schnell. Sigruns Gedanken weilten immer wieder bei der bevorstehenden Nacht und sie war wohl die einzige auf dem Fest, die keine Freude verspürte.
Als schließlich der gefürchtete Augenblick gekommen war, wurde das Paar von zwei Mägden zum Gemach begleitet und dann sich selbst überlassen.
In der Kammer war alles vorbereitet worden, um die Nacht so angenehm wie möglich zu gestalten. Blüten lagen verstreut auf Bett und Boden, ein Krug mit Wasser und eine Schale mit Früchten sorgten für Erfrischung. Eine Vielzahl von flackernden Kerzen versuchte den kalten Mauern ein bisschen Romantik abzutrotzen.
Vermählt und sich doch völlig fremd standen sich beide Eheleute mit respektvollem Abstand wortlos gegenüber. Keiner von ihnen rührte sich. Sigrun hatte sich im Verlauf des Abends vorgenommen, ihrem Gatten keinen Widerstand entgegenzubringen, doch den ersten Schritt wollte sie auch nicht machen.
Nach einer kleinen Ewigkeit des Schweigens zeigte sich langsam ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen des Grafen. Als habe er Sigruns Gedanken erraten, nickte er nur ein einziges Mal. Und dann ging alles ganz schnell.
Mit zwei großen Schritten stand Farold urplötzlich dicht bei ihr. Kräftig ergriff er Sigruns Handgelenke und zog sie zum Bett. Ihr Puls raste und das Blut rauschte in den Ohren. Sie hatte geglaubt, auf alles gefasst zu sein, doch was dann geschah, hatte sie sich selbst in ihren wildesten Vorstellungen nicht ausgemalt.
Farold wies seine junge Gemahlin mit ruhiger Stimme an, sich auf die Mitte des Bettes zu knien, während er seinen Dolch aus dem Futteral zog. Sigruns Augen weiteten sich in grenzenloser Furcht und sie vergaß für einen Moment seiner Aufforderung Folge zu leisten. Mit entblößter Klinge wartete der Graf geduldig, bis sie die Bettmitte eingenommen hatte. Sigrun konnte die flinke, mit sicherer Hand geführte Schneide kaum sehen, als der Graf ihr Kleid an einigen Stellen auftrennte und es ihr vom Leib riss.
Mit Entsetzen haftete Sigruns Blick auf den Fetzen des eigens für die Trauung angefertigten Gewandes, so dass sie den Dolch nur aus den Augenwinkeln wahrnahm. Ein scharfer Schmerz und ihr kurzer Aufschrei erschreckten sie so sehr, dass sie den Atem anhielt. Angsterfüllt sah sie Blut aus einem feinen Schnitt am ihrem linken Oberarm laufen. Ohne ein einziges Wort zu verlieren stand der Graf vom Lager auf und holte den Krug. Er goss ein Rinnsal Wasser über die Wunde, das seinen Weg auf das Leintuch über den Ellenbogen fand. Die Tropfen zerplatzten dort in hellem, zartem Rosa und wurden von den Fasern des Linnens gierig aufgesogen. Sigrun glaubte, die Zeit bliebe stehen, als sie ihren Lebenssaft im Tuch versickern sah.
Wie aus einem Albtraum brachte ihr Gemahl sie wieder zur Besinnung, indem er die Wunde mit einem Tuch sanft abtupfte. Er presste damit so lange auf den Schnitt, bis kein Blut mehr hervortrat. Für diesen Augenblick waren sie sich so nahe, dass Sigrun den Atem ihres Gatten auf ihrer nackten Haut spürte. Sein Blick durchdrang sie bis ins Mark und ein Schauer durchlief ihren Körper. Mit einem Mal begriff sie, was all das zu bedeuten hatte.
Die Nähe der beiden war nur von kurzer Dauer. Der Graf nahm das Tuch von der Wunde, rieb es anschließend über die blutige Stelle auf dem Leintuch und verteilte so das helle Rot zu einem ungleichmäßigen Fleck. Danach erhob er sich vom Bett und setzte sich in einen hohen Stuhl neben einem der kleinen Fenster, mit dem Rücken zu seiner jungen, hübschen Gemahlin.
Sigrun glitt aus ihrer knienden Haltung und starrte Farold ungläubig an. Was er soeben vollbracht hatte, war eine ebenso liebevolle wie einfache Lösung, um aus einer für beide schwierigen Situation zu gelangen. Die junge Gräfin wusste, dass Farold sie heute Nacht zu nichts zwingen würde. Nicht in dieser Nacht und auch nicht in den nächsten. Erst viel später wurde ihr bewusst, dass er mit dieser Tat den Grundstein für das Fundament gelegt hatte, das später einmal die starke Feste ihrer unerschütterlichen Liebe tragen würde.
Ihre Liebe benötigte Zeit und sie entwickelte sich langsam. Je besser sie sich kennen lernten, umso näher kamen sie sich. Als der Tag schließlich gekommen war, an dem sie ihn ebenso begehrte wie er sie, war es weder Nacht noch befanden sie sich in ihrem Schlafgemach. Es war lichter Tag und ihr Lager war ein Felsen im nahe gelegenen Wald. Sigruns Verlangen war so groß, dass der kurze, reißende Schmerz in ihrem Unterleib sehr schnell einem unbekannten, viel angenehmeren Gefühl wich, als er sie mit seiner Männlichkeit ausfüllte. Es war in jeder Beziehung anders, als sie es sich aufgrund der grausigen Erzählungen vorgestellt hatte. Und nachdem sie einmal von dieser süßen Frucht der Leidenschaft gekostet hatte, hatte Farold alle Hände voll zu tun, sie zu sättigen.
Diese schönen Erinnerungen an vergangene Tage zauberten ein Lächeln auf Sigruns Lippen und sie spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg. Dabei gab es nichts, wofür sie sich hätte schämen müssen, schon gar nicht ob der Liebe zu ihrem Gatten. Aus dieser Liebe war so viel entsprungen.
Rogar war nicht ihr erstes Kind gewesen, doch er war das einzige, das ihnen geblieben war. Sigrun hatte vor ihm bereits zwei Geburten bewältigt, doch beide Kinder, ein Mädchen und ein Junge, wurden nur ein, beziehungsweise drei Jahre alt. Sie starben beide an einer unbekannten Krankheit, gegen die man kein Heilmittel kannte. Weder Mönchsärzte noch sonstige Heiler vermochten die Kinder zu retten. Am Ende blieben nur die Worte der Kleriker, welche die Krankheiten als Prüfung Gottes deuteten und vom Jenseits und Sühne sprachen. Worte, die weder halfen, noch Trost spendeten.
Auch Rogar erkrankte in seinem vierten Lebensjahr so schwer, dass alle Heilkundigen erneut ratlos um sein Krankenlager standen und es als weitere Prüfung Gottes deuteten. Sigrun war verzweifelt und befürchtete, auch ihr drittes Kind zu verlieren. Als dann die Pusteln aufbrachen und eitriger Sud ausfloss, wollte niemand außer ihr und Farold noch an eine Heilung glauben.
Sigrun pflegte den schwachen Rogar unermüdlich weiter, hielt die offenen Pusteln sauber und hoffte, dass ein Wunder geschehen möge.
Es war in einer jener Nächte des endlosen Bangens und Hoffens am Krankenlager des Jungen, als eine merkwürdige Frau die Kammer betrat. Ihre Erscheinung spottete jeder Beschreibung. Sie trug weder die Gewandung einer Magd, noch war sie als Bäuerin zu beschreiben. Ihr Rock war ein einziges Flickwerk. Das lockige Haar war lang und grau. Sigrun glaubte, eine jener wilden Frauen vor sich zu sehen, die allein im Wald hausten.
Noch bevor sie fragen konnte, wie diese Frau Zutritt erhalten hatte, ging die Fremde zielstrebig auf das Krankenlager zu. Aus einem unerklärlichen Grund ließ Sigrun die Alte gewähren, statt sich ihr in den Weg zu stellen.
Der beleibte Geistliche, der für die Notwendigkeit der letzten Ölung Tag und Nacht in der Kammer zugegen war, schreckte beim Aufschlagen der Tür aus dem Schlaf und fiel beinahe von der kleinen Bank. Er versuchte sich aufzurichten, doch sein massiger Körper wollte nicht gehorchen. So kämpfte der Mönch noch um Haltung, während die wilde Frau bereits das Leintuch vom Jungen nahm und ihn genau betrachtete.
Die Fremde stellte ein paar Fragen über den Verlauf der Krankheit. Wann die Pusteln aufgetreten waren, seit wann das Fieber wütete und was man dagegen schon alles unternommen hatte. Im Gegensatz zu den übrigen Heilern zuvor wollte die Frau einfach alles wissen. Sigrun antwortete bereitwillig.
In der Zwischenzeit hatte sich der Mönch erfolgreich von der Bank erhoben und kam schwer schnaufend auf die beiden Frauen zu. Er versuchte, die in Lumpen gekleidete Wilde mit lauten und garstigen Worten vom Lager zu vertreiben, hielt dabei aber einen sicheren Abstand ein, um ihr nicht zu nahe zu kommen oder sie gar zu berühren. Sein Geschrei veranlasste sie dazu, ihn mit harschen Worten beten zu schicken, damit er wenigstens das Seine für das Wohl des Kindes täte und sie in Ruhe wirken könne. Selbst in diesem Augenblick, in dem die Alte die kirchliche Autorität lächerlich machte, dachte Sigrun nicht daran, die Fremde von der Seite ihres Jungen zu stoßen.
Die Wilde kramte in einem großen Beutel und entnahm ihm etliche kleinere Bündel und Päckchen. Sie griff sich eine hölzerne Schale, forderte Sigrun auf, gut zuzusehen und begann verschiedene Kräuter zu zerreiben und mit Fett zu einer dicken Paste zu verrühren. Die Gräfin würde diese noch öfter anrühren müssen, wenn sie ihren Jungen je wieder gesund sehen wolle, lautete die Anweisung der Fremden.
Mit dem fertigen Brei bestrich sie sorgfältig die Pusteln und offenen Wunden. Dem Mönch, der bislang alldem fassungslos beigewohnt hatte, weiteten sich die Augen. Entsetzt vor sich hin schimpfend entfloh er schließlich dem heidnischen Treiben und schlug die Kammertür laut krachend hinter sich zu.
Als der Junge wieder in ein sauberes Leintuch eingewickelt war, gab die wilde Frau Sigrun noch ein paar Anweisungen, packte dann ihren Beutel und verschwand ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war. Wenige Zeit später platzte Farold mit dem Mönch und einigen Bewaffneten in die Schlafkammer.
Sigrun ließ dem Mönch keine Gelegenheit, die Heilmittel der Kräuterkundigen in Frage zu stellen. Schnell raffte sie die zurückgelassenen Heilmittel zusammen, warf sie in Farolds große Truhe und setzte sich auf den schweren Deckel. So sehr der Gottesmann die Mittel auch schlecht reden mochte, Sigrun gab sie nicht frei. Stattdessen forderte sie ihn auf, sie mit ihrem Sohn endlich in Frieden zu lassen. Der Mönch zog gekränkt davon und verließ bereits im Morgengrauen die Burg. Die Gräfin verzichtete nur zu gerne auf den Geistlichen, dessen dürftiger Beistand bisher ohnehin nichts bewirkt hatte. Auf die beschwichtigenden Worte ihres Gatten wollte sie ebenfalls nicht hören. Sigrun war es gleich, ob sie einen Mann Gottes oder einen Scharlatan fortschicken musste. Wenn sie nichts für den Jungen tun konnten, so hatte keiner von ihnen etwas an Rogars Lager zu suchen.
Die Krankheit blieb eine lange und harte Prüfung für Sigrun. Geduldig befolgte sie die Anweisungen der wilden Frau und erst nach drei Wochen besserte sich die Lage des Jungen. Das Fieber und die Pusteln gingen über Nacht zurück, gerade zu dem Zeitpunkt, als sich der Vorrat an Kräutern dem Ende neigte. Von da an mussten allein Sigruns pflegende Hände es schaffen, Rogar wieder auf die Beine zu bringen. Und tatsächlich kehrten seine Kräfte langsam wieder zurück. Das Gesinde behauptete sogar, dass allein die Liebe der Mutter den Jungen gerettet habe.
Die Krankheit war an Rogar nicht spurlos vorüber gegangen. Diese harte und lange Pein hatte ihn verändert. Mit dem Fieber schien ihm allerdings eine Reife eingebrannt worden zu sein, die für einen Jungen seines Alters ungewöhnlich war. Er war schweigsam geworden, doch dafür legte er eine Neugierde an den Tag, die er vorher nicht besessen hatte.
Einige Burgbewohner waren davon überzeugt, dass Rogar sein zehntes Jahr nicht erleben würde, so geschwächt war er dem Krankenlager entstiegen. Doch Sigrun glaubte fest an ihren Jungen und an das, was sie sah: Einen durch die Krankheit zwar erschöpften, aber gereiften Jungen, der auch zäher und robuster geworden zu sein schien. Tatsächlich erkrankte Rogar im darauffolgenden Winter nicht ein einziges Mal.
Das alles war lange her und Sigrun riss sich aus ihren Erinnerungen. Sie fühlte sich unwohl, was vielleicht am heraufziehenden Unwetter liegen mochte. Sigrun konnte ihre Empfindung nicht in Worte fassen und wusste nicht, woher sie rührte, doch es herrschte eine seltsame Stimmung. Eine ungreifbare Falschheit lag in der Luft. Die Sommernacht war schwül und drückend. Bis vor Kurzem hatte sich noch kein Lüftchen geregt, doch jetzt kam ein Wind auf. Vom Fenster aus konnte Sigrun erkennen, wie sich die Baumwipfel des nahe gelegenen Waldes träge wiegten.
Es war beinahe genauso wie zu Rogars Geburt. Damals war es eine entsetzliche Nacht. In jenem Sommer herrschte eine über Wochen anhaltende Dürre, die in der Nacht seiner Geburt mit einem mächtigen Gewitter ihr Ende fand.
‚Eine Nacht, in der Helden gezeugt werden‘, wie einige Männer der Burg überheblich hinausposaunten.
‚Nein, eine Nacht, in der Helden geboren wurden‘, wie Sigrun es stattdessen lieber sagte. Allein aus diesem Grunde war sie schon immer fest davon überzeugt gewesen, dass Rogar sowohl die Krankheit wie auch das zehnte Lebensjahr überleben würde. Es war seine Bestimmung zu überleben, dessen war sie sich sicher. Eines Tages würde er alt genug sein, um als würdiger Nachfolger die Grafschaft zu übernehmen.
In diesem Augenblick erhellte ein greller Blitz den Horizont, den nahen Wald und die Wiesen vor der Burg. Das kurze Schattenspiel warf groteske Figuren auf die Wände der Festung. Das Unwetter konnte jeden Augenblick losbrechen.
Sigrun drehte sich um und setzte sich, mit Rogar auf ihrem Schoß, neben ihren Gemahl. In seinem Bart, der einige Narben alter Kämpfe verbarg, zeigte sich an manchen Stellen das Grau des Alters. Sein Gesicht wirkte dadurch jedoch nicht betagt, sondern erhielt vielmehr besonders edle Züge. Es strahlte Gutmütigkeit und Härte sowie Gerechtigkeit und Gnade zugleich aus. Rogar hatte einige dieser markanten Gesichtszüge geerbt und wenn Sigrun ihren Sohn ansah, glaubte sie, ihren Gemahl als kleinen Jungen wieder zu erkennen. Zärtlich strich sie über den gepflegten Bart, woraufhin Farolds Augenlider aufsprangen. Sein Blick war hellwach.
„Was ist?“ fragte er mit belegter Stimme.
„Nichts, schlaf ruhig weiter.“
„Was ist los?“
Farold versuchte sich aufzurichten und mit den Ellbogen abzustützen, bereute es aber sofort. Mit geschlossenen Augen sank er stöhnend wieder zurück auf das Lager und hielt sich mit beiden Händen den hämmernden Schädel.
Der Schmerz rührte vom übermäßigen Weingenuss am Nachmittag. Sonst trank der Graf wenig Alkohol, Dünnbier oder stark verwässerten Wein. Heute war es aber anders gekommen. Am Nachmittag waren zwei Männer auf der Burg eingetroffen und hatten Kunde von Farolds jüngerem Bruder übermittelt. Sigrun wusste noch nicht, worum es sich bei den Neuigkeiten handelte, doch sie waren offenbar von so schlechter Art, dass Farold kurz darauf begann, Wein zu trinken. Viel Wein, und zwar unverdünnt.
Missbilligend und besorgt hatte Sigrun ihm dabei lange zugesehen. Als sie glaubte, er habe endgültig genug getrunken, schritt sie ein und ließ ihn in die Kammer bringen, wo er seinen Rausch würde ausschlafen können. Das alles war noch vor Sonnenuntergang geschehen.
Inzwischen hatte Farold geraume Zeit geschlafen und war wieder bei klarem Verstand, doch auf dem Höhepunkt körperlicher Kräfte befand er sich noch nicht. Seine angespannten Gesichtszüge berichteten von dem Schmerz, der unerbittlich in seinem Schädel hämmerte.
Farold öffnete erneut die Augen, bemerkte erstmals Rogar auf dem Schoß seiner Gemahlin und wiederholte besorgt seine Frage. „Was ist los?“
„Nichts. Beruhige dich. Rogar geht es gut. Es ist wahrscheinlich das aufkommende Unwetter. Oder er konnte den Morgen nicht abwarten. Schließlich hast du ihm versprochen, ihn an seinem siebten Jahrestag mit auf die Jagd zu nehmen, auf seinem eigenen Pony.“
„Richtig“, bemerkte Farold etwas verbittert. „Wenn mein Bruder morgen rechtzeitig eintrifft, können wir auf die Jagd gehen.“
Sigrun verstand den scharfen Unterton nicht. Vorsichtig fragte sie weiter. „Die beiden Männer waren seine Gesandten?“
„Ja.“
Natürlich hatte Sigrun die Besucher an den Wappen der Schilde erkannt und sich schon gefragt, warum zwei der Männer aus dem Gefolge ihres Schwagers einen Tag früher auf der Burg eintrafen als der Rest. Farolds knappe Antwort signalisierte ihr aber, dass es jetzt kein Gespräch darüber geben würde. Sigrun akzeptierte es zunächst und so blieb ihr nichts weiter übrig, als zu mutmaßen, um was es sich bei den Neuigkeiten handelte. Allerdings erwartete sie nichts Gutes. Die guten Nachrichten teilte Farold ihr meist sobald wie möglich mit. Nur über die Schlechten musste er immer erst eine Weile brüten, bevor er sie seiner Gemahlin offenbarte. Wahrscheinlich würde sich mit dem morgigen Tag ohnehin alles aufklären, wenn sein Bruder auf der Burg eintraf.
Rurik, der jüngere Sohn des alten Grafen, lebte auf einem großen Gutshof, etwa zwei schnelle Tagesritte von der Greifburg entfernt. Der Hof selbst war mehr als nur ein Gutshof. Großräumig angelegt und von einem Wall umgeben konnte man ihn wegen seiner Palisadenumwehrung, dem starken Tor und zwei Schutztürmen auch als kleine Burg bezeichnen. Für einen jüngeren Nachkommen durchaus ein stattliches Erbe. Die Ländereien des Guts waren überaus ertragreich und sicherten selbst in schlechten Jahren dem Besitzer ein Auskommen. Doch es war im Vergleich zu Farolds Burg und der Regentschaft über die Grafschaft sowie die Nähe zum König als dessen direkter Vasall von keiner Bedeutung für die Geschicke des Reiches.
Sigrun wusste, dass der Jüngere seinen Bruder schon immer mit Neid und Missgunst betrachtet hatte. Rurik wäre allzu gerne selbst Graf geworden und seine Frau wahrscheinlich noch lieber Gräfin. Bei den jährlichen Besuchen der beiden auf der Burg wurde Sigruns Vermutung jedes Mal durch die spitzen Bemerkungen und die kleinen Wortgefechte der beiden Brüder bestätigt. Farold hingegen sah das Ganze nicht so, obwohl er die Sticheleien seiner Gäste ebenfalls wahrnahm. Er sah darin lediglich einen gesunden, brüderlichen Wettstreit, den die beiden seit ihrer Kindheit austrugen. Nicht zuletzt verdankten sie dieser Tatsache ihren Ehrgeiz und ihr Durchsetzungsvermögen.
Als Neider oder gar Konkurrenten sah Farold seinen Bruder nicht. Aus diesem Grunde legte er auch sehr großen Wert darauf, dass die gesamte Familie des Bruders einmal im Jahr für ein paar Tage seine Gastfreundschaft in Anspruch nahm. Sigrun hielt nicht viel von diesen Besuchen. In ihren Augen waren Rurik und seine Frau nur machthungrig. Sie hatte bemerkt, dass beide mit jedem Jahr ein immer neidischeres Auge auf die Grafschaft warfen und hätte schwören können, dass beide erst dann zufrieden wären, wenn sie die Greifburg ihr Eigen nennen könnten.
Rurik und seine Gemahlin hatten ebenfalls Nachwuchs. Ihr einziger Sohn, Drogo, war ein Jahr früher geboren als Rogar, wirkte im direkten Vergleich jedoch wesentlich älter. Er war von deutlich größerer und kräftigerer Statur, schien jedoch tumb und ohne einen geistigen Funken zu sein. Nicht, dass es ihm an Intelligenz mangelte. Er bewies äußerstes Geschick und Kreativität darin, neue Wege und Mittel zu finden, um eine Katze oder ein anderes hilfloses Tier zu quälen. Das galt für Drogo als Kurzweil und ein Tag war in seinen Augen erst erfolgreich, wenn er mindestens eines seiner Opfer zur Strecke gebracht hatte! Er war schlichtweg grob und ohne jegliches Feingefühl.
Diesen Eindruck hatte zumindest Sigrun von dem Jungen. Vielleicht lag sie mit ihren Annahmen auch falsch und tat den Betroffenen Unrecht, wie ihr Gemahl sie immer wieder zu überzeugen versuchte. Doch sie konnte ihre Eindrücke ebenso wenig leugnen wie ihren eigenen Schatten: Rurik und seine Gattin waren neidisch, ihr Sohn ein gefühlloser Trampel. Dennoch nahm Sigrun sich bei jeder neuen Zusammenkunft der beiden Familien vor, ihren Gästen ohne Vorurteile gegenüberzutreten. Sie bemühte sich auch sehr dies einzuhalten, doch jedes Mal wurden ihre früheren Eindrücke mit Worten und Taten bestätigt. Eines dieser Treffen stand nun unmittelbar bevor und Sigrun sehnte schon den Tag der Abreise herbei.
Die Gräfin holte sich aus diesem bedrückenden Gedankenstrom heraus, der ihre gute Stimmung umzukehren drohte. Sie schaute Farold an und das Lächeln kehrte auf ihre Lippen zurück. Noch einmal strich sie ihm durch das dunkle, mit Grau durchsetzte Haupthaar. Farold hatte die Augen geschlossen, doch er schlief nicht. Er genoss ihre liebevollen Berührungen, die seinem hämmernden Schädel gut taten.
Eine heftige Windböe löschte plötzlich einige der Kerzen und Sigrun trat mit Rogar auf dem Arm an eines der schmalen Fenster. Ihren Blick hielt sie nach oben gerichtet, um die bedrohlich nahe Gewitterfront zu beobachten.
Hätte sie nach unten gesehen, so wären ihr vielleicht die beiden Schatten aufgefallen, die den Burghof flink überquerten und dabei immer wieder das Dunkel zwischen den Gebäuden aufsuchten. Doch Sigrun sah sie nicht. Ihre Augen waren auf den Sturm des Himmels gerichtet.
* * *
Wie zwei flüchtige Schatten bewegten sich die beiden Männer im Burghof. Trotz der Schwüle der Nacht trugen sie dunkle Umhänge mit hochgeschlagenen Kapuzen. Ihre lautlosen Schritte führten sie nicht etwa auf direktem Wege über den Hof, sondern dicht entlang der Häuser. In deren Schutz eilten sie vorbei an Schmiede, Waffenkammer, Kapelle und Stallhaus, bis sie sich schließlich in der Vorburg vor der Holztür der Wachstube am Haupttor befanden.
Dort legten sie flink ihre Umhänge ab, rollten sie zusammen und verbargen sie hinter einem Fass. Beide Männer waren bewaffnet und trugen unter den Mänteln Lederrüstungen mit groben Eisenringen. Mit einem kurzen Blick über den nächtlichen Burghof und die dunklen Wehranlagen vergewisserten sie sich, dass sie unbemerkt geblieben waren, öffneten dann rasch die Tür zum Wachhaus und betraten es.
Die Wachstube bestand aus einem großen Raum, der von ein paar Lampen erhellt wurde. Die kleinen Flammen flackerten beim Öffnen der Tür im Luftzug und warfen tanzende Schatten an die Wände. Eine steile Stiege führte hinauf in die nächste Ebene, über die man auf den Wehrgang der äußeren Burgmauern gelangen konnte.
In der Mitte des Raumes befand sich eine einfache, große Tafel aus Holz, um die mehrere Bänke standen. Zwei Wachen saßen dort und erhoben sich sofort, als die beiden gerüsteten Männer zu so später Stunde die Stube betraten. Der Wachhabende griff nach seinem Schwert und war bereit es zu ziehen. Er erkannte die beiden als Ruriks Männer und wusste, dass sie Gäste seines Herrn waren, doch er blieb auf der Hut. Es behagte ihm nicht, zwei Fremde in seiner Wachstube zu sehen. Noch bevor er eine Erklärung forderte, kam einer der Eindringlinge auf ihn zu und begann in beiläufigem Tonfall zu plaudern.
„Seltsame Nacht heute, was?“
„Wie meint Ihr das?“, gab der Hauptmann die Frage zurück.
„Es ist alles so ruhig auf dieser Burg.“
„Nun, was habt Ihr erwartet? Es ist mitten in der Nacht“, kam die abfällige Antwort. „Solltet Ihr zu dieser Zeit fahrende Gaukler und ein Trinkgelage erhofft haben, so muss ich Euch enttäuschen und für verrückt erklären. Ihr befindet Euch auf der Burg des Grafen Farold, nicht in einer Dorfschenke.“
Die rüden Worte rangen dem Angesprochenen nur ein geringschätziges Lächeln ab. Gelassen ging er weiter auf die Wachen zu. Es galt ihr Vertrauen zu gewinnen. „Nein, Ihr habt Recht. Fahrende Gaukler wären wohl zu viel des Guten gewesen und das Trinkgelage hat bereits heute Nachmittag stattgefunden, zumindest für Euren Herrn.“ Diese Bemerkung rief ein leises, gurgelndes Lachen bei dem zweiten Fremden hervor.
„Selbst die Mädchen bei Euch sind so prüde, dass man glauben könnte, ihre Punzen seien selbst im Hochsommer zugefroren, so kaltschnäuzig sind sie. Es ist nicht der geringste Spaß mit ihnen zu haben. Die einzige Brust, die ich zu Gesicht bekam, war die des Schmiedes. Um ehrlich zu sein, befanden sich für meinen Geschmack zu viele Haare darauf. Anscheinend schläft die ganze Burg und wir hatten daher auf ein kleines Spielchen in der Wachstube gehofft.“
Mit diesen Worten zog der Fremde ein paar Würfel aus einem kleinen Lederbeutel und ließ sie auf den Tisch fallen, dass sie tanzten. Seine andere Hand spielte dabei scheinbar nebensächlich an einer Geldkatze am Gürtel, was das leise, aber eindeutige Klirren von Münzen hervorrief.
Ein Glänzen trat in die Augen des Hauptmannes. Seine Zunge befeuchtete die trockenen Lippen und die Hand löste sich vom Schwertknauf.
„Wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich meine Würfel vorziehen“, erklärte er aufgeregt.
„Wie Ihr wünscht“, ging der Fremde nur allzu bereitwillig darauf ein. „Ich nehme an, Ihr seid ein Ehrenmann und Eure Würfel sind nicht falsch.“
Auf einen Wink kam nun auch der zweite Fremde näher und ließ sich auf einer Bank nieder. Die Würfel wurden geworfen und der unverdünnte Inhalt eines mitgebrachten Weinschlauches in tönerne Becher gegossen. Das Spiel war lebhaft und mit jedem gelungenen Wurf stiegen Laune und Übermut der Burgmänner, die dem Wein durstig zusprachen.
Nach einiger Zeit war die einst voll klingende Geldkatze des Fremden nahezu leer und ihr Inhalt befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches, in den Händen der Wachen. Zu deren Schadenfreude hielt das Verlieren selbst dann an, als die Würfel gegen das Paar der Fremden ausgetauscht wurden.
Schließlich waren alle Münzen verspielt und die Geselligkeit endete abrupt. Prächtig gelaunt erhob sich der Wachhabende und fragte übermütig: „Nun denn, habt Ihr genug oder gibt es noch etwas zu verlieren?“
Das Lachen der zweiten Wache bezeugte die herrschende Ausgelassenheit. Die beiden Verlierer ließen sich dadurch nicht provozieren, sondern nahmen es mit ungewöhnlicher, beinahe gefährlich wirkender Gelassenheit hin.
Der Angesprochene schenkte noch einmal Wein nach, den die Gewinner im Rausche des Glücks beinahe allein geleert hatten und trank genüsslich einen Schluck. Er dachte kurz nach, dann setzte er den Becher wieder ab.
„Wenn Ihr Münzen meint, so ist meine Börse restlos leer. Selten habe ich jemanden mit so viel Glück an einem Abend angetroffen wie Euch. Ihr habt ganze Arbeit geleistet.“
Der Fremde legte erneut eine nachdenkliche Pause ein, dann lehnte er sich etwas nach vorne und fuhr leise fort. „Doch da wäre noch etwas, um das wir spielen könnten.“
Erwartungsvolle Ruhe kehrte ein und das gierige Leuchten kehrte in die Augen des Wachmannes zurück. „Was ist es?“, fragte er ungeduldig.
„Es ist von großem Wert!“, gab der Fremde preis. „Eine Beute aus meiner härtesten Schlacht. Ich setze sie nur ungern aufs Spiel, doch jene Münzen, die ich an Euch verloren habe, waren nicht meine eigenen. Es müsste ein Wurf um Alles oder Nichts sein!“
Die Wachen waren neugierig und tauschten fragende Blicke aus. Schließlich hielt es der Wachhabende nicht mehr aus. „Zeigt schon her, was Ihr zu bieten habt!“
Vorsichtig löste der Fremde zwei Dolche von seinem Gürtel und legte sie bedächtig, ja nahezu liebevoll auf den Tisch. Die Klingen befanden sich in reich verzierten und mit kleinen Steinen besetzten Futteralen. Ihre Griffe waren aus kostbarem Elfenbein gefertigt und ebenfalls mit fremdländischen Ornamenten kunstvoll verziert. Die Wachen erkannten, dass sie der Art der weithin gefürchteten Nordmänner entsprachen.
Der Fremde zog langsam eine der Klingen aus dem Futteral. Die Schneide war scharf und wohl gepflegt, dass der Schein der Lampen sich in ihr spiegelte. Ohne Zweifel waren es meisterlich gefertigte Waffen. In den Augen der Wachmänner konnte man das Verlangen nach diesen Klingen regelrecht aufflammen sehen.
Doch das Risiko war hoch. Die volle Geldbörse war schon ein ungewöhnlich hoher Gewinn. Jetzt alles aufs Spiel zu setzen wäre möglicherweise eine Dummheit. Der Wachhabende strich sich mit der Hand über das unrasierte Kinn. „Alles oder Nichts?“
„Alles oder Nichts!ȁ, antwortete der Fremde.
„Ich weiß nicht recht … warum sollte ich dieses Risiko eingehen?“
Der Wachhabende war noch nicht überzeugt und so kam der Fremde mit der Klinge einen Schritt näher.
„Das sind die Klingen eines angesehenen Seekönigs aus dem fernen Norden. Er war wild und mächtig wie ein Wolf, ein wahrer Krieger des Eises und zu Recht ein König seines Volkes. Es war ein schwerer Kampf, bis ich ihn besiegt hatte. Beachtet die perfekte Schneide. Der Stahl ist von so hoher Qualität, dass er selten nachgeschliffen werden muss und niemals stumpf wird, von Rost ganz zu schweigen. Gebt Acht, dass Ihr Euch nicht daran verletzt!“
„Was soll das Geschwätz? Ich weiß eine gute Klinge von einer schlechten zu unterscheiden! Oder wollt Ihr mir meine Ehre und Kenntnisse als erfahrener Krieger in Abrede stellen?“
„Ich sagte, gebt Acht, sonst könntet Ihr Euch noch daran schneiden.“ „Keine Sorge, ich werde schon keine Zwiebeln damit schälen.“
Der Fremde war während des Wortwechsels langsam näher gekommen und stand jetzt direkt vor dem Hauptmann. Nahezu beiläufig stand er da, ohne den alten Haudegen eines Blickes zu würdigen. „Fürwahr, zum Zwiebelschälen sind diese Klingen nicht bestimmt. Doch eines wollte ich noch erwähnen …“
Ungeduldig wartete der Wachhabende. Die Nähe des Fremden schien ihm unangenehm zu sein, doch er blieb standhaft. Die Lust auf ein weiteres Spiel war ihm vergangen und er wollte die beiden Unbekannten nur noch aus seiner Wachstube haben. Schließlich verlor er die Geduld.
„Euer Weg endet hier. Ihr hattet Pech im Spiel. Ein Wurf wird Euch nicht alles zurückbringen. Geht jetzt und lasst Euch hier nie wieder blicken!“
Die Drohung war unmissverständlich, doch der Fremde zeigte sich weder beeindruckt noch eingeschüchtert. Sein Blick ruhte nach wie vor auf der Klinge und er fuhr im Plauderton fort: „Ich verrate Euch ein kleines Geheimnis: Weder glaube ich an das Glück im Spiel noch an ein unabwendbares Schicksal. Doch scheint Ihr daran zu glauben. Blickt mir also in die Augen und begegnet Eurem Schicksal!“
Noch bevor der Wachhabende die Worte begriff, zog der Fremde mit einer schnellen Handbewegung die Klinge quer über die Kehle seines Gegenübers. Von starker Hand geführt schnitt sie sicher und tief. Die Augen des alten Kämpfers weiteten sich in grauenhafter Erkenntnis. Nur noch ein Gurgeln entwich seiner Kehle, dann quoll das Blut hervor, ehe er sterbend auf dem Boden zusammensackte.
Seinem Waffengefährten erging es ähnlich. Auch er wurde überrascht. In seinem Hals steckte der zweite, aus nächster Nähe geworfene Dolch. Ohne einen Laut von sich zu geben, fiel er vornüber auf den Tisch und blieb dort tot liegen. Dann herrschte Stille in der kleinen Wachstube. Rote Lachen breiteten sich auf dem Tisch und dem festgetretenen Erdboden aus.
Flink begannen die beiden Meuchler, ihre Opfer zu inspizieren und vergewisserten sich ihres Todes. Ihre eben noch vorhandene Gelassenheit war wie weggeblasen. Rasch wurden die blutigen Klingen an der Gewandung der Gefallenen gesäubert und in die Futterale gesteckt. Im Vorbeigehen schnappte sich der Anführer noch die vor wenigen Augenblicken von den Wachen gewonnen geglaubte Geldbörse aus der schlaffen Hand des Hauptmanns.
„Elender Narr!“, raunte er dabei und spuckte verächtlich aus.
Sicheren Schrittes eilten die Männer die Stiege in die zweite Ebene hinauf. Von dort führte eine Tür zum Wehrgang. Die Eindringlinge wussten genau, dass noch zwei weitere Wachmänner auf ihrem Rundgang unterwegs waren und bald zurückkehren würden.
Der schweigsamere der beiden Schergen begutachtete die mit Waffen bestückte Wand und nahm sich einen Bogen und zwei Pfeile. Sein Kumpan betätigte derweil sachte und lautlos die Verriegelung der Tür zum Wehrgang und öffnete sie einen winzigen Spalt, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Die beiden Burgmänner befanden sich mit ihren Fackeln bereits in der Nähe der Tür. Sie bemerkten nicht, dass sie beobachtet wurden.
Im Inneren des Wachhauses zeigte der Anführer dem Bogenschützen mit ein paar Handzeichen an, wo sich die Männer befanden, und kniete selbst direkt hinter der Tür mit entblößtem Schwert nieder. Der Bogenschütze ging zur gegenüberliegenden Wand und hielt die beiden Pfeile parat, einen davon zum Schuss angelegt. Stumm lauschten sie den näherkommenden, schweren Schritten. Die Wache stoppte vor der Tür.
Die Fremden waren bereit!
Als sich die Tür nach innen bewegte, riss der Auflauernde sie mit aller Kraft auf, dass der erste Wachmann sein Gleichgewicht verlor und in die emporgereckte Klinge stürzte. Mit einem dumpfen Stöhnen sackte er tot auf den Steinboden. Im selben Moment zischten in kurzem Abstand zwei Pfeile durch die Öffnung und trafen den zweiten Wächter in Hals und Brust. Auch er ging, bis auf das leichte Klappern seiner Rüstung und Waffen, nahezu lautlos zu Boden.
Sofort sprangen die Fremden zu den Toten und zerrten sie hastig in das Wachhaus. Danach machte sich der Bogenschütze auf den Weg hinunter zum Haupttor, während der Anführer die Fackeln der Gefallenen ergriff und auf den Wehrgang hinaus trat. Oberhalb des großen Burgtores blieb er stehen, hob beide Fackeln und schwenkte sie genau drei Mal in großen Bögen auf und nieder.
Im selben Augenblick löste sich eine dunkle Reiterschar aus den schwarzen Baumreihen des Waldes und überquerte im Galopp die Wiesen vor der Burg. Es dauerte nicht lange und die ersten Pferde hatten den schmalen Pfad hinauf zur Feste erreicht. Das Burgtor öffnete sich langsam und wurde zu einem großen, schwarzen Maul, das bereit war, dem Verderben Einlass zu gewähren.
Es hatte begonnen!
* * *
Sigrun blickte erneut in die windige Nacht hinaus. Das Unwetter näherte sich. Viel konnte sie draußen nicht erkennen, doch irgendetwas beunruhigte sie. Noch einmal überkam sie ein merkwürdiges, bedrohliches Gefühl, das sie näher an das Fenster treten und ihr Haupt über die Brüstung hinausrecken ließ.
Die Gewitterwolken hatten den Nachthimmel erobert und verbargen den hellen Mond. Das bizarre Wetterleuchten war jetzt nahe und erweckte die Schatten der Nacht zum Leben. Der Donner rollte in schaurigem Rhythmus dazu. In der Dunkelheit der Nacht bemerkte Sigrun ein Licht auf dem fernen Wehrgang am Haupttor. Ein Wachmann rannte mit zwei Fackeln in das Innere des Wachturmes. Diese Eile machte Sigrun stutzig. Ihr Blick schweifte weiter zum Haupttor und mit Verwunderung beobachtete sie, wie sich erst der eine, dann der zweite Flügel des Portals langsam öffnete. Sie verstand nicht, was dort vor sich ging. Doch als sie wenige Augenblicke später eine Reiterschar über die Wiesen vor der Burg preschen sah, begriff sie: Gefahr! Flink rannte sie zurück zum Lager, ließ Rogar darauf nieder und schüttelte Farold.
„Wach auf, schnell! Ein Überfall. Das Tor steht offen!“
Farold öffnete die Augen. Als er die Furcht in Sigruns Gesicht sah, wusste er, dass es sich nicht um einen derben Scherz handelte, um ihn aus dem Schlaf zu reißen. Er setzte sich rasch auf, bereute es allerdings sofort. Doch diesmal ertrug er den hämmernden Schmerz und widerstand dem Verlangen, auf das Lager zurückzusinken. Mit einem Mal begriff er, was vor sich ging.
„Dieser Verräter! Eine List. Nichts weiter als eine hinterhältige List!“
Mit Schwung wollte er dem Bett entsteigen, doch der Wein forderte noch immer seinen Tribut. Farolds Bewegungen waren viel zu unkontrolliert. Statt auf den Füßen landete er auf den Knien. Sigrun half ihm auf.
„Du hattest Recht, Sigrun, die ganze Zeit schon. All die Jahre hattest du Recht gehabt und ich war ein blinder Narr!“
„Wovon sprichst du?“
Verwirrung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, doch Farold konnte jetzt nicht die Zeit aufbringen, um ihr seine Erkenntnis zu erläutern. Stattdessen versuchte er, seine Gemahlin zur Flucht zu bewegen. „Schnell, geh‘ und bring‘ euch beide in Sicherheit. Ich werde die Männer alarmieren.“
Sigrun zögerte, denn sie verstand nicht. Als sie trotz seines Drängens nicht gehen wollte, schob er sie sachte von sich. Seine Stimme wurden leise und dadurch noch eindringlicher: „Geht jetzt, schnell! Nehmt die Pferde und versteckt euch im Wald an unserem Platz. Jetzt geh‘ schon, euch bleibt nur noch wenig Zeit.“
Die Beharrlichkeit seiner Worte flößte Sigrun Furcht ein, doch sie vertraute ihrem Gatten. Sofort stand sie vom Lager auf und ergriff die Hand des Jungen, der sich mit fragendem Blick vom Bett erhob. Farold hatte Recht, sie durfte nicht zu lange warten. Sie musste handeln und zwar jetzt.
Mit schnellen Schritten eilte Sigrun zur Tür. Bevor sie entschwand, hielt sie kurz inne und schaute sich nach ihrem Gatten um. Der saß noch immer auf dem Bett und rang mit seinem schmerzenden Kopf. Noch einmal kam Sigrun zu Farold zurück, gab ihm einen innigen, verzweifelten Kuss und wollte wieder zur Kammertür laufen. Doch diesmal hielt Farold sie zurück und zog sie mitsamt des Jungen zu sich auf das Bettgestell.
Für einen unendlich langen Moment trafen sich ihre Blicke, die ganz ohne Worte so viel sagten. Schließlich brach Farold die Starre. Er zog eine goldene Kette von seinem Hals, nahm dann seinen Siegelring vom Finger und fädelte ihn auf die Kette. Anschließend streifte er das Schmuckstück über den Kopf seines Sohnes. Rogar verstand nicht, was dieses Geschenk zu bedeuten hatte. Er schaute überrascht auf die Kette und wunderte sich, dass sie so schwer war.
Sigrun sah ihren Gatten entsetzt an. „Was hat das zu be…?“
Farold unterbrach sie mit einer sanften Berührung. Seine Worte waren ruhig und besonnen. Er wusste genau, was er tat.
„Wir beide sind uns sicher, dass Rogar ihn eines Tages tragen wird.“
„Aber …?“
„Still jetzt! Lauft lieber. Die Zeit drängt. Ich komme schon zurecht, mit Gottes Hilfe.“
Sigrun wusste, dass jetzt keine Zeit für einen langen Disput war. Noch ein flüchtiger Kuss, dann eilte sie mit Rogar auf dem Arm zur Tür. Dort drehte sie sich ein letztes Mal um.
Sie sah, wie Farold auf der Bettkante sitzend versuchte, zuerst seine Kleidung und dann die Rüstung anzulegen. Er hatte sichtlich Schwierigkeiten bei dieser einfachen Aufgabe. Er bemerkte das Zögern seiner Gemahlin und schaute auf. Sigruns Gefühl, dass dies ein Abschied auf ewig sein sollte, wurde immer stärker. Sie blickte ihren geliebten Gatten lange an, als wolle sie sich sein Bild für immer einprägen.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie ihm zu.
„Ich weiß!“
Mehr musste Farold nicht sagen. Erneut sprachen ihre Blicke mehr, als Worte es je vermocht hätten. In diesem Moment schien es niemanden sonst auf der Welt zu geben. Für diesen kurzen Augenblick waren sie eins. Dann entschwand Sigrun durch die Tür.
Flink lief sie mit Rogar die steinernen Stufen der gewundenen Treppe hinunter, bis sie endlich das erste Stockwerk erreichten. Dort befand sich der einzige Übergang zwischen Bergfried und dem Hauptgebäude der Burg, der großen Halle. Sie öffnete die Tür des Turmes und betrat den einfachen hölzernen Steg, der sich ohne Geländer oder Halt etwa drei Mann hoch über dem Burghof befand.
Sie war auf diesem Steg schon unzählige Male gegangen, bei Tag und Nacht, bei Sonnenschein, Regen und Schneefall. Selbst mit Rogar auf ihrem Arm war sie stets sicher auf der schmalen Brücke gewesen. Doch noch niemals zuvor war sie dabei in solcher Eile gewesen, noch nie hatte sie ihn mit Furcht überqueren müssen.
Im Falle der größten Bedrängnis konnte der Steg mit wenigen Handgriffen abgebrochen und die kleine Tür des Turmes verriegelt werden. Auf diese Weise konnte der Bergfried zu einer eigenen, schwer einzunehmenden Festung innerhalb der Burg werden. Doch nur dann, wenn sich eine starke Besatzung darin befand, die ihn auch zu verteidigen wusste. Das war heute Nacht allerdings nicht der Fall, denn mit einem Angriff hatte man in der herrschenden Friedenszeit nicht gerechnet. Ein Teil von Farolds Kriegern weilte bei König Otto, der nach dem Feldzug gegen die ungarischen Horden im vergangenen Jahr noch immer ihre Unterstützung benötigte.
Als Sigrun das Ende des Steges erreichte, schaute sie zum Tor und sah mit Schrecken die ersten Feinde zu Pferd in den Hof eindringen. Ohne jegliche Gegenwehr nahmen sie den inneren Burghof ein. Rasch öffnete Sigrun die Verriegelung der Tür zur großen Halle und verschwand im Dunkel des Saales. Über eine steile Treppe gelangte sie nach unten. Dort, wo abends alle Burgbewohner versammelt eine Mahlzeit zu sich nahmen, Beratungen und Zusammenkünfte abgehalten wurden und des Nachts der Großteil der Mägde, Knechte und Waffengetreuen zu schlafen pflegte, herrschte jetzt Stille, die lediglich von vereinzeltem Schnarchen unterbrochen wurde.
All diese Menschen würden dem Angriff hilflos ausgesetzt sein, sollten sie keine Warnung erhalten, dachte Sigrun. Die Gräfin konnte sie nicht einfach so zurücklassen. Schnell fand Sigrun eine Magd, die sie schon viele Jahre kannte, ließ Rogar zu Boden und weckte sie. Die schlaftrunkene Frau erkannte ihre Herrin nicht sofort und blickte verstört auf. Als sie jedoch die Sorge im Gesicht der Gräfin bemerkte, war sie hellwach. Besonnen erklärte Sigrun ihr die Lage. Die Magd schlug erschrocken die Hände vor den Mund, Sigrun ließ ihr jedoch keine Zeit für Verzweiflung und fuhr fort:
„Die Angreifer sind bereits im Hof. Leistet keine Gegenwehr! Verhaltet euch ruhig. Nur dann wird man euch verschonen. Macht nichts Unüberlegtes und schützt die Kinder! Gebt den Eindringlingen alles, wonach sie verlangen, sonst bezahlt ihr womöglich mit eurem Leben.“
Mehr gab es nicht zu sagen. Sigrun vergewisserte sich, dass die Magd sie auch verstanden hatte. Sofort schritt die alte Frau zur Tat und weckte ihre Nachbarin. Sigrun wusste, dass sie für diese Aufgabe niemand Besseren hätte auswählen können. Mit dieser Gewissheit raffte sie sich wieder auf, um sich und ihren Jungen endlich in Sicherheit zu bringen.
Am gegenüberliegenden Ende der Halle trat sie mit Rogar an der Hand durch eine kleine Tür, die auf den Burghof führte. Die Eindringlinge erstürmten bereits die Gebäude und vereinzelt hörte man schnell verstummende Schreie. Sigrun wusste, dass sie vorsichtig und flink zugleich sein musste. Sie durfte nicht lange im Schatten des Hauptgebäudes auf einen geeigneten Augenblick warten. Geschwind huschte sie mit ihrem Jungen über einen Teil der freien Hoffläche und verschwand im abgelegenen Kochhaus. Hastig durchquerten die beiden den kleinen Bau. Im Vorbeigehen griff Sigrun nach einem Laib Brot und stopfte ihn Rogar in den Hemdausschnitt. Dann hatten sie schon die nächste Tür erreicht und es galt noch einmal auf den unsicheren Hof hinauszugehen. Vorsichtig öffnete Sigrun die Tür einen Spalt und spähte hinaus.
Die Stallungen der Herrschaft waren ihr nächstes Ziel, doch sie lagen aufgrund der Brandgefahr des Kochhauses recht weit entfernt. Ohne zu zögern rannte sie zu dem großen Gebäude hinüber, so schnell es ihr mit Rogar möglich war. Wenige Augenblicke später schlüpfte sie unversehrt durch das Tor in das Dunkel zu den Pferden und hoffte, dass niemand sie bemerkt hatte.
Die Tiere waren nervös. Ihnen war die Unruhe in der Burg nicht entgangen und sie witterten den Tod, der mit dem Angriff Einzug gehalten hatte. Sigrun lief zu ihrer grauen Stute. Das Pferd war ein sanftes und ruhiges Tier, das selbst bei dem herrschenden Chaos die Nerven behielt. Mit besänftigenden Worten führte Sigrun das Pferd zu dem Holzgestell, auf dem sich ihr Sattel befand. Rogar blieb ruhig stehen und schaute seiner Mutter zu. Dabei umklammerte er den Laib Brot unter seinem Hemd, als gäbe er ihm einen sicheren Halt. In seinen Augen konnte Sigrun seine innere Unruhe und Fragen erkennen, die ihn quälten, doch er ließ nichts davon nach außen dringen, kein einziges Wort. ‚Wie sein Vater, dachte sie liebevoll und ein gewisser Stolz erfüllte sie. Dann ergriff sie den Sattel, zog ihn vom Gestell und legte ihn auf den Rücken der Stute.
Noch bevor Sigrun die ledernen Riemen schnüren konnte, wurde eine Nebentür des Stalles mit Wucht aufgestoßen. Zwei grobschlächtige Männer mit blutigen Schwertern betraten den Stall. In ihren Augen glühten der Irrsinn des Kampfes und der Rausch des Tötens.
Sigrun erkannte sofort die Unberechenbarkeit dieser Männer. Schnell warf sie den hölzernen Sattel zu Boden, ergriff Rogar mit beiden Händen und hob ihn auf den Rücken des Pferdes. Im Gesicht des Jungen zeichnete sich jetzt offene Furcht ab. Sigrun blickte in die Augen ihres Kindes. Tränen bahnten sich auf beiden Gesichtern ihren Weg, als sie begriffen, was jetzt geschehen musste. Rogar versuchte das Unvermeidliche mit einem Kopfschütteln zu verneinen, doch Sigrun wusste keinen anderen Ausweg. Sie löste ihren Umhang mit einer Hand, während sie mit der anderen ihren Jungen auf dem Pferd hielt. Das schwere Leinen warf sie um Rogar und hüllte ihn darin ein.
Die beiden Barbaren stießen plötzlich ein wildes Gebrüll aus, als sie Mutter und Sohn entdeckten. Jetzt blieb keine Zeit mehr. Sigrun führte das Pferd an der Mähne die letzten Schritte durch das Tor des Stalles. Das dumpfe Stampfen der herbeieilenden Stiefel dröhnte in ihren Ohren, doch sie versuchte es zu verdrängen. Sie dachte nur noch an Rogar und Farold, die Männer ihrer Liebe. Noch einmal nahm Sigrun die Hand ihres Kindes fest in die ihre, drückte und küsste sie.
Der Junge wollte immer noch nicht glauben, was soeben geschah. Seine fragende Stimme klang tränenerstickt. „Mutter …?“
„In den Wald, hörst du? Verstecke dich dort!“ Sigrun hatte Mühe zu sprechen und ihrer Kehle entkam nicht viel mehr als ein Flüstern.
„Mutter …!“
„Schnell, bring dich in Sicherheit.“
Auf dem Burghof herrschte Chaos. Herrenlose Pferde liefen umher, wild aussehende Männer verschafften sich Zutritt zu Gebäuden oder waren auf der Suche nach einem Kampf. Rogar versuchte, vom Rücken der Stute zu steigen, doch die starke Hand seiner Mutter hielt ihn oben. Erst als sein Widerstand größer wurde, schrie sie in Verzweiflung ihren Jungen an. „ROGAR, bleib oben und halte dich fest!“
Rogar erstarrte augenblicklich und seine Mutter sprach mit normaler Stimme weiter.
„Fürchte dich nicht, mein Junge. Ich werde immer bei dir sein. Meine und deines Vaters Liebe werden dich stets begleiten, ganz gleich wo du sein magst.“
Mehr Zeit blieb ihnen nicht. Mit einem Schlag auf die Flanke des Tieres versetzte Sigrun das Pferd so abrupt in Bewegung, dass Rogar sich nur mit Mühe festhalten konnte. Das Tier preschte in vollem Galopp über den Hof, bahnte sich seinen Weg wie ein Pfeil durch das Getümmel. Mit ausgestrecktem Arm versuchte Rogar noch einmal, nach seiner Mutter zu greifen, doch es war zu spät. Es gab kein Zurück mehr.
„MUTTER …!“
Die Stallungen im Rücken sah Sigrun ihrem Sohn nach und obwohl sie wusste, dass es kein Zurück mehr gab, streckte auch sie die Hand nach ihm aus. Sie behielt Rogar so lange im Auge, bis er das Haupttor passiert hatte. Dann erst kehrte Ruhe in ihr ein.
Sigrun bewahrte das Bild ihres entschwindenden Sohnes im Herzen und schloss die Augen. Die polternden Stiefel der Barbaren waren jetzt unmittelbar hinter ihr und sie glaubte, den faulen Atem des Verderbens bereits riechen zu können.
Wie durch einen Nebel vernahm sie noch den lauten Aufschrei eines Mannes, der das nahende Unheil mit einem lauten „NEEEIIIN…!“ zu stoppen versuchte. Doch es half ihr nicht. Die Welt um sie herum zerriss mit einem Mal.
Ein kurzer, schneidender Schmerz in ihrer Brust war alles, was sie noch verspürte. Sie war schon nicht mehr von dieser Welt, als ihr Körper auf den harten, trockenen Erdboden sank, der ihr Blut gierig aufsog.