Читать книгу Die Eiswolf-Saga / Die Eiswolf-Saga. Teil 2: Irrwege - Holger Weinbach - Страница 13

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Anno 957 – Ingelinheim

Die Reise hatte nahezu zwei Wochen gedauert, doch nun waren sie ihrem Ziel nahe. Im breiten Tal vor sich konnte Brandolf bereits die mächtige Pfalz zu Ingelinheim sehen, wo die von seinem Vater erbetene Audienz bei König Otto stattfinden würde. Ihr Anblick verschlug ihm beinahe den Atem, als er die Ausmaße der Anlage erfasste. Er hatte bereits einiges über die Pfalzen der einstigen Kaiser gehört, doch diese übertraf alles, was er sich je vorgestellt hatte.

Die Anlage war eine Mischung aus repräsentativen Bauwerken und den Wehranlagen einer Burg. Unverkennbar ragten am südlichen Rand die Türme einer neu erbauten Kirche in den Himmel. An ihr wurde immer noch gearbeitet und die Gerüste entlang der Außenwände ragten hoch bis unter die Traufe des Daches. Im östlichen Bereich konnte Brandolf ein weitläufiges, sichelförmiges Gebäude ausmachen, das in seiner Mitte eine überhöhte Halle besaß. Vorgelagerte Türme waren an die Außenmauer des langen, gekrümmten Bauwerks in regelmäßigen Abständen erbaut worden. Sie sahen zwar nicht besonders wehrhaft aus, verliehen dem momentanen Sitz des Königs aber dennoch einen burgähnlichen Charakter. Wo die Anlage nicht durch Gebäude abgegrenzt wurde, schloss eine Mauer mit einem einfachen Tor die Lücken. Diese Mauer war nicht mit Verteidigungsanlagen ausgestattet und sah auch nicht aus, als könnte sie einem feindlichen Ansturm standhalten. Das brauchte sie aber auch nicht, denn die Pfalz war einzig zu Zeiten der Besuche des Herrschers mit Leben gefüllt und diente sonst lediglich der Verwaltung der Ländereien. Ursprünglich war die Anlage nicht mehr als ein großes Gut gewesen, das erst unter dem fränkischen Kaiser Karl seine jetzigen Ausmaße erhalten hatte. Nach dem Zerfall des Reiches wurde die Pfalz von den nachfolgenden Herrschern kaum in Anspruch genommen. König Otto hingegen war an den Gebräuchen der einstigen Kaiser sehr gelegen und suchte immer wieder die Pfalzen auf. Da das Osterfest kurz bevorstand, hatte er sich zu Ingelinheim eingefunden, um in der neuen Kirche das Hauptfest der Christen zu feiern.

Mit dem Herrscher war auch ein großer Tross angereist. Brandolf konnte von der Anhöhe aus einige Menschen im Innenhof sehen, darunter Ritter, Knappen und Adelsleute. Der Großteil des Gefolges hielt sich jedoch außerhalb der Pfalz auf und hauste in Zelten auf den umliegenden Feldern und Weidegründen. Brandolf begriff, dass die große Zahl an Kriegern wie eine hohe, wehrhafte Mauer dem Schutz des Königs diente.

Die kleine Gruppe um Brandolf und seinen Vater, den Edelherrn Gerold, näherte sich von Osten her. Von hier aus waren weite Teile der Rheinebene zu überschauen, ebenso einige Höfe, die der Pfalz zugehörig waren.

Das Frühjahr war außergewöhnlich milde und versprach ein sonniges Osterfest in diesem April.

Im Tal angekommen, folgten die Reiter einem breiten Weg quer durch das Lager. Buntes Treiben herrschte hier und sowohl Krieger wie auch anderes Volk befanden sich darunter. Frauen und Kinder gingen einher, Händler boten an ihren Ständen Waren feil und einige Dirnen wussten mit ihren besonderen Diensten den Recken aufzuwarten. Eine Vielzahl an Rauchsäulen stieg zwischen den Zelten auf, wo die Mahlzeiten für die Anhänger des Königs zubereitet wurden oder die Schmiede ihrer Arbeit nachgingen.

Die Männer im Dienste des Herrschers waren es gewohnt derart zu hausen, denn sie reisten mit König Otto von einer Pfalz zur nächsten, wo sie unterschiedlich lange lagerten. Oftmals reisten ihre Familien mit und so mancher Handwerker tat es ihnen gleich, denn hier hatte er stetige Kundschaft. Flatternde Banner mit Wappen an den Zelten gaben die Namen des jeweiligen Kronvasallen preis. Die adeligen Herren waren hier jedoch nicht anzutreffen. Sie hatten mit ihren Hauptmännern und getreuesten Rittern ein Quartier innerhalb der Anlage gefunden, in der Nähe des Königs, wie es auch die Männer des Edelherrn Gerold erhalten würden.

Nachdem sie das Lager bis zum Tor durchquert hatten, nannten sie dort den Wachen ihre Namen und durften in den Hof einreiten. Sie saßen ab und überließen ihre Pferde einigen Stallburschen. Der große Platz zwischen den hoch aufragenden Gebäuden war weitestgehend leer und niemand hielt die Neuankömmlinge auf. Edelherr Gerold lenkte seine Schritte zur neuen Kirche, um dem Allmächtigen für die sichere Reise zu danken. Brandolf folgte ihm, während sein Blick umherschweifte, die hohen, ansehnlichen Gebäude bestaunend, aber auch jeden einzelnen Mann im Hof beachtend. Die Kirche war mit ihren Türmen zwar das höchste Gebäude der Anlage, aber die Aula regia, die Königshalle, war mit Abstand der eindrucksvollste Bau. Sie erstreckte sich entlang der Westseite der Pfalz und ragte weit über zwei Dutzend Ellen in den Himmel empor.

Brandolf dachte an die einfache, hölzerne Halle auf der Burg seines Vaters, in der Bittsteller oder Boten empfangen und die Tagesgeschäfte besprochen wurden, wo abends alle Bewohner zu einem gemeinsamen Mahl zusammenkamen und in der die meisten von ihnen auch schliefen. Ihre Halle war nicht mehr als ein schäbiger Stall gegen dieses bemerkenswerte Gebäude, das ausschließlich dazu diente, die Macht des Königs zu demonstrieren und um wichtige Beratungen oder Versammlungen abzuhalten. Die Fenster der Halle waren allesamt mit Glas bestückt, das kunstvoll gearbeitet und mit Ornamenten verziert war. Wahrscheinlich würde es im Innern der Königshalle selbst an Wintertagen weder düster noch kalt sein.

Der Edelherr betrat mit seinem Sohn die Kirche. Sie ließen das Treiben der Pfalz draußen, als sich die Tür hinter ihnen schloss. Im Gotteshaus waren sie allein und nur das dumpfe Klopfen der Zimmerleute auf dem Dach war zu vernehmen. Vater und Sohn strebten zum Altar, knieten demütig vor dem Kreuz nieder und begannen zu beten. Brandolf brachte jedoch nicht mehr als eine andächtige Haltung zustande. Seine Gedanken wollten nicht im Gebet verweilen, sondern schweiften stets zum Anlass ihrer Reise ab.

Beinahe ein Jahr war seit dem Angriff der Eiswölfe auf die Burg des Grafen Farold vergangen und noch immer war die Nachfolge des Herrensitzes ungeklärt. Rurik war nach wie vor Sachwalter der Ländereien seines verschollenen Neffen. Doch damit gab sich Rurik nicht zufrieden und strebte den Grafentitel und den vollen Besitz der Ländereien an. Aufgrund Brandolfs Berichts über die schicksalhafte Nacht des Angriffs, hatte Gerold vor einiger Zeit beim König um eine Audienz gebeten. Sie sollte ihm zum Osterfest gewährt werden und Gerold hoffte nun inständig den Herrscher davon überzeugen zu können, dass Rogar, der rechtmäßige Erbe der Grafschaft, noch am Leben sei und deshalb der Grafentitel niemals an Rurik vergeben werden dürfe.

Die Aussicht auf Erfolg war jedoch gering. Gerold war nur ein minderer Adeliger und seine Stimme hatte am Hofe des Königs bei weitem nicht so viel Gewicht wie die des Sachwalters einer Grafschaft. Zudem konnte niemand wissen, welche Machenschaften Rurik zu seinen Gunsten bereits in die Wege geleitet hatte und wie der König zu der Angelegenheit stand.

Plötzlich öffnete sich eine Tür im nördlichen Querschiff und ein Mann betrat die Kirche. Er war groß von Gestalt und trug sein Haupthaar kurz. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein erfreutes Lächeln. Der Mann war in feinem Stoff gekleidet und sein Schwert sowie seine Haltung verrieten, dass er ein Krieger adligen Standes war. Mit sicherem Schritt kam er auf Gerold zu und räusperte sich kurz, um dessen Aufmerksamkeit zu erlangen. Der Edelherr unterbrach sein Gebet und schaute auf. Doch statt den Störenfried zu rügen, erhob er sich freudig.

„Friedrich! Es tut gut, ein vertrautes Gesicht zu sehen.“

Friedrich, selbst Edelherr kleinerer Ländereien in Gerolds unmittelbarer Nachbarschaft, ergriff den entgegengestreckten Unterarm des Freiherrn zum Gruße. Es war unverkennbar, dass ein starkes Band der Freundschaft die beiden Männer vereinte.

„Die Nachricht deiner Ankunft hat mich soeben erreicht. Ich nehme an, dass du nach wie vor an deinem Plan festhältst.“

„Natürlich, sonst wäre ich nicht hier.“

„Gut, denn es haben sich inzwischen Begebenheiten ereignet, die uns Schwierigkeiten bereiten könnten.“

„Was ist geschehen?“

„Rurik ist vor zwei Tagen hier eingetroffen. Unauffällig und ohne großes Gefolge ist er mit ein paar wenigen Reitern erschienen. Seither ist er sehr darum bemüht, König Otto alle nur vorstellbaren Annehmlichkeiten zu bereiten. Er preist sich ihm schon beinahe wie eine Trossdirne an.“

„Friedrich!“, ermahnte Gerold seinen Freund. „Nicht im Hause des Herrn, ich bitte dich!“

Der Krieger zuckte mit den Schultern und warf einen demütigen Blick auf das Kreuz. „Aber es verhält sich so, Gerold. Du wirst es noch selbst erleben. So wie er sich gibt, kann es nur eines bedeuten: Er ist hier, um die Grafschaft für sich zu beanspruchen. Du musst dich auf einen gefährlichen Disput einstellen.“

„Hat er beim König bereits vorgesprochen?“

„Nein, noch nicht. Doch ihm ist es seit seiner Ankunft als Sachwalter seines Neffen und Kronvasall gestattet, bei den Mahlzeiten in Ottos Nähe zu sitzen. Ein außerordentliches Privileg, das eigentlich nur dem Grafen selbst gebührt. Farold war es schließlich, der dem König in der dunkelsten Stunde auf dem Lechfeld zur Seite stand.“

„Rurik weiß um die königliche Gunst für seinen Bruder und er weiß, dass wir hier sind!“, stellte Edelherr Gerold nachdenklich fest.

„Woher sollte er das wissen?“, wollte Friedrich erstaunt wissen.

„Er hat ein Netz an Kundschaftern, dessen bin ich mir sicher. Für ein paar Silbermünzen bekommt er mühelos den einen oder anderen Hinweis. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht erwartet, dass Rurik mich ohne weiteres zum König ziehen lässt. Er lässt sich nicht gerne in den Kelch spucken. Deshalb hatte ich eigentlich auch damit gerechnet, dass er meine Ankunft in der Pfalz verhindern würde.“

„Kann Rurik unseren Plan gefährden? Sollte ihm die Grafschaft zugesprochen werden, so ist es ganz gleich ob Rogar noch am Leben ist oder nicht. Wir suchen schon so lange nach ihm und haben nichts in der Hand. Wer weiß, ob er den vergangenen Winter überlebt hat oder gar von Geächteten gemeuchelt wurde. Otto wird diese Schlüsse selbst ziehen können, er ist kein Narr.“

„Nein, das ist er wahrlich nicht“, pflichtete Gerold seinem Verbündeten bei. „Wir müssen vorsichtig sein, denn der König ist für sein rigoroses Handeln in der Ernennung von Ämtern und Adelstiteln bekannt und gefürchtet. Er übergeht dabei selbst Erbfolgen und Familienordnungen. Maßgebend ist für ihn, was seiner Sache dient und danach müssen auch wir Ausschau halten. Ich kenne meine Position genau, Friedrich. Wir gehen ein Wagnis ein, das will ich gar nicht bestreiten, doch besser dieses heute eingehen als morgen Rurik die Treue schwören zu müssen.“

„Diesbezüglich sind wir einer Meinung! Ich werde die anderen von deinem Kommen unterrichten. Sie stehen hinter dir wie einst hinter Farold. Wir sind zwar nicht so mächtige Herren wie Rurik, doch unsere Zahl ist nicht zu verachten. Sobald ich etwas Neues erfahre, setze ich dich darüber in Kenntnis.“

In der Angelegenheit um Rurik war alles besprochen und Friedrich wandte sich bereits zum Gehen, als Gerold ihn mit einer weiteren Frage aufhielt. „Wie geht es Mildrith und den Kindern?“

Der Krieger schien überrascht zu sein, freute sich jedoch über die Anteilnahme seines Freundes. „Gut, es geht ihnen gut. Mildrith hat die Geburt gut überstanden und der Knabe gedeiht prächtig. Elisabeth wird von Tag zu Tag hübscher und verdreht den Jünglingen die Köpfe. Und Gilbert kann es kaum erwarten, ein Page zu werden.“

„Es ist schön, dass sie wohl auf sind. Bewahre sie gut, sie sind dein größter Reichtum!“

Diese besorgten Worte machten Friedrich stutzig, doch er erwiderte nichts. Er verabschiedete sich von Gerold und Brandolf und verließ die Kirche. Der Edelherr schaute seinem Sohn lange in die Augen. „Zweifelst du an unserem Vorhaben oder an der Loyalität unserer Verbündeten, Brandolf?“

„Nein, Vater. Weshalb sollte ich das?“

„Ich weiß es nicht, es ist nur so ein Gefühl …“ Gerold dachte kurz nach, dann schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder seinem Sohn zu. „Bald werden wir vor dem König stehen und er wird viele Fragen an uns richten. Bestimmt werden sie auch die Ereignisse der Nacht des Überfalls betreffen. Wirst du sie dem König in Ruriks Beisein genauso schildern können wie mir?“

„Es ist die Wahrheit und diese auszusprechen bereitet mir niemals Probleme, selbst in Ruriks Anwesenheit nicht. Er kann mich nicht einschüchtern. Damals vermochte er es nicht und es wird ihm auch in Zukunft nicht gelingen. Mit Gottes Hilfe werden wir vor dem König bestehen und die gerechte Sache wird siegen.“

„So etwas sagt sich im Hause des Herrn leicht. Doch wenn du in der hohen Halle vor deinem König stehst, könntest du es anders sehen. Dort haben nämlich andere Mächte Einfluss auf die Geschicke der Menschen. Je länger wir untätig in dieser Pfalz warten, umso größer kann dieser Einfluss von anderer Seite bei König Otto werden. Ich hoffe und bete, dass wir bald angehört werden.“

Brandolf konnte dem nichts hinzufügen. Er wusste zwar nicht, wie er in der großen Königshalle am Ende bestehen würde, doch er kannte Ruriks Verschlagenheit. Gerold kniete noch einmal vor dem Altar nieder und beendete das unterbrochene Gebet. Danach verließen Vater und Sohn die Saalkirche, um ihr Quartier aufzusuchen und sich auf die bevorstehende Audienz beim König vorzubereiten.

In den folgenden Tagen hatte sich Gerold immer wieder mit seinen Verbündeten getroffen. Alle waren angereist, um sein Ansinnen zu unterstützen. Es waren keine Adeligen von hohem Stande, doch ihre Zahl war nicht gering.

Edelherr Gerold traf sich am häufigsten mit Friedrich, tauschte mit ihm Neuigkeiten aus und besprach das weitere Vorgehen. So sehr sie sich auch bemühten, Informationen über Rurik und dessen Plan zu erhalten, sie konnten leider nichts herausfinden.

Brandolf war bei diesen Treffen immer zugegen und sein Vater fragte ihn stets nach seinen Ansichten. Dabei achtete der Sohn nach dem Rat seines Vaters stets auf die Reaktionen ihrer Freunde statt bloß auf den Inhalt ihrer Worte. Im Gesicht eines Mannes, so hatte ihn Gerold gelehrt, könne man die Wahrheit erkennen, nicht in seinem Gerede. Und er fand, dass ihre Gesichter keinerlei Unsicherheit oder gar Abtrünnigkeit verrieten.

Am dritten Tage allerdings, als sich Friedrich allein mit Gerold und Brandolf in deren Quartier traf, um die letzten Einzelheiten vor der Audienz zu besprechen, wirkte er abwesend. Er antwortete zwar auf die Fragen seines Freundes und stand ihm auch mit Rat zur Seite, doch sein Blick schweifte immer wieder zum Fenster hinaus, in die Weiten der Flussebene. Es schien, als suche er dort nach Antworten. Brandolf wurde misstrauisch, doch Friedrichs Worte wichen nicht von seinen vorherigen ab und so blieb es beim vereinbarten Vorgehen.

Am nächsten Tag war es schließlich soweit. Ein Gefolgsmann des Königs bestellte Gerold und Brandolf zur Audienz. Die beiden Krieger hatten sich schon am frühen Morgen ihre beste Gewandung angelegt und machten sich jetzt hoffnungsvoll auf den Weg zur hohen Halle, die sie nach kurzem Warten betreten durften.

Brandolf war sprachlos, als er durch den langen Saal zur gegenüberliegenden, halbrunden Exedra schritt. Wie bei einer Kirche, befanden sich an den beiden Außenwänden hochgelegene Fenster, die den Raum mit Licht durchfluteten. Obwohl die Sonne bereits für strahlende Helligkeit sorgte, waren zahlreiche Öllampen auf goldglänzenden Messinggestellen entzündet worden. Beeindruckt folgte Brandolf seinem Vater über den breiten Teppich, der bis zu den Stufen der Exedra ausgelegt war.

Die verputzten Wände der Halle waren mit farbenfrohen Malereien versehen, die schlanke Säulen mit Kapitellen und Sockeln sowie einfache Ornamente und Verzierungen darstellten. Viele von ihnen strahlten in prächtigem Purpur. Hoch oben schloss eine hölzerne Decke den Raum ab und verhinderte den Einblick in den Dachstuhl. Sie bestand aus vielen quadratischen Feldern, die mit großer Kunstfertigkeit bunt bemalt worden waren. Noch niemals hatte Brandolf eine solche Pracht und Lichtflut in einem Raum gesehen.

Nahe dem Eingang hatte sich eine kleine Zuhörerschaft eingefunden. Die meisten von ihnen waren Krieger oder Adelige, die nach der Gunst des Königs strebten. Brandolf entdeckte ihre Verbündeten unter ihnen. Ansonsten befanden sich im Saal nur noch einige Männer in der Nähe der Exedra, die entweder das größte Vertrauen des Königs genossen oder mit dem vorzutragenden Fall etwas zu schaffen hatten.

Einen dieser Männer erkannte Brandolf sofort. Es war Rurik, der unmittelbar vor der um drei Stufen erhöhten Exedra stand. Ganz oben befand sich nur ein Mann, der auf einem kunstvollen Sitz aus dunklem, geschliffenem Stein mit polierten Messingverzierungen saß. Es war König Otto, der von oben beobachtete, wie Gerold und Brandolf auf ihn zu kamen. Obwohl der Herrscher graues, schulterlanges Haar trug und bereits über vierzig Jahre zählte, wirkte er alles andere als alt. Im Gegenteil, seine Augen strahlten Jugend und Tatendrang aus, als würde er lieber heute denn morgen handeln, ganz gleich in welcher Angelegenheit. Ein einfacher, schmaler Goldreif zierte sein Haupt und ein dicker, purpurner Mantel umhüllte ihn. An seiner Seite trug er ein langes, breites Schwert zum Zeichen seiner Macht.

Als Gerold und Brandolf die Stufen erreichten, knieten sie nieder und warteten auf ein Wort ihres Herrn. König Otto ließ sie eine Weile warten, als wolle er zunächst abschätzen, wie er mit ihnen umzugehen hätte. Brandolf war angespannt, wie wahrscheinlich alle im Saal. Schließlich erhob sich die Stimme des Herrschers, laut und deutlich: „Seid willkommen, Edelherr Gerold, und auch Ihr, Brandolf. Seit drei Tagen genießt Ihr bereits meine Gastfreundschaft und habt geduldig auf meinen Ruf gewartet. Lange genug für solch getreue Männer. Erhebt Euch und tragt jetzt vor, was Eure Herzen belastet.“

Die Angesprochenen erhoben sich und Gerold begann seine Bitte darzulegen: „Mein König, wir ersuchen Euch wegen der Belange des verstorbenen Grafen Farold. Es ist Euch wohl bekannt, dass im Augenblick der hier anwesende Rurik als Sachwalter die Geschicke der Grafschaft lenkt. Bisher noch im Namen des einzigen Erbfolgers, Farolds Sohn Rogar. Da der Knabe allerdings seit dem Überfall auf die Burg verschollen ist, strebt Rurik selbst den Grafentitel an.“ Ein kurzer Blick auf Rurik zeigte Gerold, dass er aufmerksam zuhörte. „Einige treue Vasallen des verstorbenen Grafen sind allerdings der Meinung, dass Rogar noch am Leben ist und er als rechtmäßiger Erbe den Sitz des Grafen einnehmen sollte, sobald er die Schwertleite erhalten hat. So sieht es die Familienfolge seit jeher vor.“

König Otto erhob sich und kam langsam auf die Männer vor der breiten Treppe zu, blieb jedoch auf dem Podest stehen und schaute auf sie herab. „Es scheint mir, als habe ich diesen Vortrag schon einmal gehört, allerdings mit umgekehrten Positionen und Ansichten. Rurik hat sein Anliegen bereits vorgetragen. Doch da ich Euch schon vorher eine Audienz gewährt hatte, wollte ich beiden Parteien die Gelegenheit geben, sich als die mit dem berechtigten Anspruch hervorzuheben. Sprecht frei, wie es Euch beliebt, solange es diese Belange betrifft.“

Rurik ergriff mit bedrohlich polternder Stimme das Wort. „Beweist, dass der Junge noch am Leben ist, sofern Ihr es könnt, Gerold.“

„Beweist Ihr doch, dass er tot ist.“

„Ich danke Euch, dass Ihr danach fragt“, entgegnete Rurik.

Er machte eine Handbewegung, woraufhin ein Mann die Halle verließ. „Diesen Beweis erbringe ich nur allzu gerne.“

Es dauerte nicht lange und der zuvor entschwundene Mann kehrte mit vier weiteren zurück. In ihrer Mitte trugen sie eine Art großen, ledernen Sack, den sie vor dem Podest niederlegten. „Hierin befindet sich der Leichnam des Jungen, den Ihr zu finden hofft. Er bietet keinen schönen Anblick, doch der Tod hat nun mal kein liebreizendes Gesicht.“

Rurik öffnete den Sack eigenhändig, indem er das Leder auf beiden Seiten zurückschlug. Ein unbeschreiblicher Gestank entstieg der Hülle und Fliegen erhoben sich, als der Sachwalter den bis zur Unkenntlichkeit entstellten Leichnam eines Knaben präsentierte. Brandolf drohte, sich an Ort und Stelle zu übergeben, so unbeschreiblich war dieser Anblick. Er hatte schon viel Leid und den Tod auf Schlachtfeldern gesehen, doch die sterblichen Überreste dieses Kindes waren etwas anderes. Den meisten im Saal schien es ähnlich zu ergehen. Ihre anfängliche Neugier verflog und die Männer wandten ihre Blicke zur Seite. Hände wurden vor Nase und Mund gehalten.

König Otto hingegen blieb ungerührt und betrachtete den geschundenen Körper. Es sah aus, als sei der Knabe von einem Pferd überrannt worden. Der Schädel war zermalmt, das Gesicht unkenntlich und die Gliedmaßen mehrfach gebrochen und gequetscht. Die Augenhöhlen waren leer, als hätten sich Krähen bereits an ihrem Inhalt gelabt. Maden krochen über das verwesende Fleisch, versahen den toten Leib auf abstoßende Weise mit neuem Leben.

Nach langem Schweigen ergriff der Herrscher schließlich das Wort. „Rurik, lasst den Leichnam fortschaffen und verhelft ihm zu einem ordentlichen, christlichen Begräbnis.“

Der Sachwalter wies seine Männer an, den Leichnam aus der Halle zu tragen und Brandolf schien es, als würde sich ein dunkler Schatten hinwegheben.

Gerold nutzte die Gelegenheit und stellte sogleich die Identität der Leiche in Frage: „Dieser Leichnam ist kein Beweis, Rurik! Der Knabe war nicht zu erkennen. Wer kann uns mit Sicherheit sagen, dass dies tatsächlich Rogars Leichnam war? Sollen der König und ich uns einzig auf Eure ehrbare Aussage verlassen?“

Rurik wurde sichtlich wütend über diese Zweifel, er beherrschte sich jedoch und antwortete verhalten: „Wollt Ihr damit etwa andeuten, ich würde den König und Euch absichtlich täuschen? Man hat mir beteuert, dass dies der Leichnam Rogars sei!“

„Von Absicht war keine Rede“, versuchte der Herrscher die hitzigen Gemüter zu beruhigen. „Doch ich muss dem Edelherr Gerold zustimmen: Der Leichnam könnte der eines jeden Knaben sein. Habt Ihr denn keinen anderen Beweis? Es heißt, dass Farolds Siegelring ebenfalls verschwunden sei. Möglicherweise trug Rogar ihn bei sich. Könnt Ihr ihn vorweisen, Rurik?“

Natürlich konnte Rurik das nicht. Er versuchte seinen Anspruch auf den Titel anders zu rechtfertigen: „Ist es denn nicht genug, dass durch diesen Überfall in jener Nacht das Gefüge der Grafschaft zerstört wurde? Wäre ich nicht sofort bereit gewesen, die Verwaltung zu übernehmen, wären die Erträge des vergangenen Jahres deutlich geringer ausgefallen. Ich war in jener Nacht zugegen, um die Burg zu befreien. Daher beanspruche ich den Titel des Grafen, statt nur den Sitz auf der Greifburg für einen toten Jungen frei zu halten, mochte er den Siegelring bei sich getragen haben oder nicht.“

Als Rurik schwieg, sah Brandolf eine Gelegenheit, seine Sicht der Geschehnisse zu schildern. Er sprach besonnen und seine Stimme war nicht laut. Dennoch war sie selbst in den entlegenen Winkeln der Halle zu vernehmen. „Rurik, Ihr wart nicht der einzige Krieger in dieser fürchterlichen Nacht.“ Der König wandte sich nach diesem knappen Satz Gerolds Sohn zu: „Ich habe von Eurer Tat gehört, junger Brandolf. Ihr sollt ehrenhaft gekämpft und damit Euren Beitrag zur Befreiung der Burg geleistet haben. Was wisst Ihr über diese Nacht zu berichten?“

Brandolf war auf die Worte des Königs gefasst gewesen. Sein Vater hatte ihn beinahe jeden Tag darauf vorbereitet. Es fiel ihm überraschend leicht, dem Herrscher Rede und Antwort zu stehen. Die Herausforderung lag vielmehr in Rurik, der ein falsches Spiel mit ihnen und dem König trieb. Mit einem Mal wurde dem jungen Krieger bewusst, wen er sich mit seiner Aussage zum Feind machen würde. Dennoch musste er sprechen, denn er hatte dem Grafen Farold einen Eid geleistet, dem er gerecht werden wollte.

Brandolf berichtete dem König: Er schilderte den Überfall und seine Eindrücke, beschrieb Sigruns und Farolds Tod und deren Umstände. All das hatte Rurik schon einmal vernommen und es schien ihn zu langweilen. Doch dann berichtete Brandolf, wie er den jungen Rogar in dieser Nacht aus dem Tor hatte reiten sehen, nachdem ihm seine Mutter zur Flucht verholfen und sich für ihn geopfert hatte. Er war sich sicher, dass Rogar in dieser Nacht nicht ums Leben gekommen war. Als Rurik das vernahm, weiteten sich seine Augen zusehends. Sein Kopf wurde hochrot und es kostete ihn all seine Kraft, sich vor dem König zu beherrschen.

Nachdem Brandolf seinen Bericht beendet hatte, richtete der Herrscher sein Wort an den Sachwalter. „Brandolf behauptet also gesehen zu haben, wie der Knabe auf dem Pferd seiner Mutter den Barbaren entkommen ist, Rurik. Könnte es sich so zugetragen haben oder wurde das Ross der Gräfin in den Stallungen vorgefunden? Euren Registern nach zu urteilen ist keines der Rösser in jener Nacht zu Schaden gekommen.“

Mit Mühe versuchte Rurik im Zorn seine Stimme gedämpft zu halten. „Nein, mein König, wir haben es nicht vorgefunden.“

König Otto fuhr fort: „Tot offensichtlich auch nicht. Scheinbar führt Ihr Eure Register lückenhaft, Rurik! Das fehlende Pferd wäre zumindest ein klares Indiz dafür, dass der Junge entkommen sein könnte und durch die Lande irrt. Wie seht Ihr das, Rurik?“

„Das ist durchaus möglich, mein Herr“, antwortete der Sachwalter gesenkten Hauptes und mit leiser Stimme. „Doch es ist genauso möglich, dass er in den Wäldern zu Tode gekommen ist. Heute wurde Euch der Leichnam eines Knaben im besten Glauben vorgelegt, es handele sich dabei um den gesuchten Rogar.“

Nachdenklich machte der Herrscher ein paar Schritte auf seinen prunkvollen Sitz zu, wandte sich dann aber wieder an die drei Männer.

„Mir wurden heute zwei Möglichkeiten über Rogars Schicksal vorgetragen. Tatsächlich könnten beide die Wahrheit enthalten, doch es ist schwer zu sagen, welche Geschichte die zutreffende ist. Was ist zu tun? Gerold, Ihr habt Unterstützer Eures Antrages erwähnt. Würden sie in Eurem Sinne sprechen, notfalls die vermeintliche Wahrheit mit dem Schwert und in Gottes Namen verteidigen?“

„Ich bin mir sicher, dass sie es tun würden, Herr“, antwortete der Angesprochene ohne zu zögern.

„So lasst sie hervortreten und selbst sprechen.“

Der Edelherr wandte sich um und rief sie: Friedrich, Egbert, Markolf, Asmund und noch einige weitere Herren niederen Adels. Sie alle hatten einst unter Farolds Banner auf dem Lechfeld gegen die Ungarn gekämpft und waren ihm treu ergeben geblieben.

Brandolf beobachtete die Männer genau, als sie auf die Exedra zukamen. Er versuchte Friedrich in die Augen zu blicken, doch der hielt sein Haupt demütig zu Boden gerichtet. Es schien, als würde es vor allem Friedrich nicht behagen, vor den König treten zu müssen. Seine Schritte waren zögerlich, beinahe ängstlich, obwohl er all die Tage so selbstsicher gewesen war. Die anderen Krieger hielten sich hinter ihm, als sei er ihr Schild und könne Ruriks Zorn von ihnen abwenden.

In respektvollem Abstand blieben die Männer stehen und warteten auf ein Wort ihres Königs, der sie sogleich ansprach: „Wie ich sehe, hat der Edelherr Gerold einige von Graf Farolds ehemaligen Kameraden vereint. Ich erkenne manches Gesicht wieder. Ihr alle habt in der Schlacht gegen die ungarische Horde ehrenvoll gekämpft. Zusammen waren wir siegreich und der Ruhm gebührt auch Euch. Daher sei Euch gestattet, in diesem Disput das Wort zu ergreifen.“ Er sah Friedrich als den Wortführer an. „Wie lautet Euer Name, Ritter?“

„Friedrich, mein Herr.“

„Friedrich, verhält es sich so, wie Brandolf, der Sohn des Edelherrn Gerold, es geschildert hat? Seid Ihr der gleichen Überzeugung und wähnt Rogar noch am Leben?“

Es schien dem Krieger schwer zu fallen, dem König in die Augen zu blicken und frei zu sprechen. Er scharrte aufgeregt mit den Füßen und sah immer wieder zu Boden. In diesem Augenblick begann Brandolf zu ahnen, dass etwas nicht stimmte. Er schaute zu Rurik und bemerkte dessen zufriedenes Lächeln. Da begriff Brandolf, weshalb sich Friedrich bei ihrem letzten Treffen so merkwürdig benommen hatte. Seine Worte, die er jetzt sprach, bekräftigten diese Vermutung:

„Mein Herr, verzeiht mir, doch ich kann dem Edelherrn keine Unterstützung zusagen.“

Entsetzt starrte Gerold seinen Freund mit offenem Mund an.

„Friedrich, was ist …?“

Der König unterbrach Gerold und wollte Gewissheit: „Friedrich, könnt Ihr Eure Aussage wiederholen?“

„Ja, mein Herr. Ich kann dem Edelherrn Gerold in seinem Anliegen, Rogar zur Grafschaft zu verhelfen, keine Unterstützung mehr zusagen. Ich spreche nicht nur für mich, sondern für alle, die sich in dieser Sache Herrn Gerold vor etwa einem Jahr verschrieben hatten. Nur der Allmächtige weiß, wie es um Rogar steht. Ich kann ein solch zweifelhaftes Gesuch nicht mit reinem Gewissen und nicht im Namen des Herrn unterstützen. Sollte Rogar noch am Leben sein, so wird der Schöpfer schon für ihn sorgen. Das ist unsere Anschauung.“

Für einen Augenblick hob sich Friedrichs Blick und wechselte von Gerold zu Brandolf. Es schien, als bitte er beide um Verzeihung, doch nichts konnte diesen Verrat entschuldigen. König Otto verstand ebenso schnell wie Brandolf. „Ist das Euer letztes Wort?“

„Ja, mein Herr.“

„So verlasst meine Halle …“, befahl der König und blickte streng zu Rurik, „… bevor Euch noch etwas anderes einfällt, was Ihr bekunden wollt.“

Die kleine Schar um Friedrich zog sich beschämt zurück und verließ die hohe Halle. Alle Blicke folgten dem Auszug, einzig Rurik beachtete ihn kaum. Der schien von dem Sinneswandel der einstigen Verbündeten wenig überrascht zu sein. Der Herrscher widmete sich sogleich dem Sachwalter der strittigen Grafschaft. „Habt Ihr ebenfalls irgendwelche Fürsprecher vorzuweisen, Rurik?“

„Nein, mein König. Mein bisheriges Handeln und die Zusicherung der absoluten Treue meinem Gebieter gegenüber sollten Fürsprache genug sein.“

König Otto nahm diese Worte mit einem Nicken zur Kenntnis. Er überlegte noch einen kurzen Augenblick, dann verkündete er seinen Beschluss: „Es ist keinesfalls einfach, in diesem Fall die richtige Entscheidung zu treffen. Daher werdeich nach den Bedürfnissen des Reiches urteilen und verfüge, dass Rurik bis auf weiteres Sachwalter der Grafschaft bleibt. Zu ungewiss ist das Schicksal des Knaben Rogar und die Grafschaft darf nicht in dieser Ungewissheit belassen werden. Sie benötigt einen Führer, der als getreuer Kronvasall seinem König dient. Daher verfüge ich weiter, dass der Herr Rurik die Grafschaft endgültig erhält, sollte der Knabe Rogar nicht binnen Jahr und Tag gefunden werden. Wird er jedoch bis dahin gefunden, so soll Rurik Verweser der Ländereien bleiben, bis Rogar die Schwertleite erhält. Dies ist meine Entscheidung!“

Für den Herrscher war der Streitfall abgehandelt. Er wandte sich von den drei Männern am Fuße der Treppe ab, womit sie entlassen waren. Rurik, der nach Friedrichs Verrat geglaubt hatte, den Sieg in Händen zu halten, sah sich mit einem Schlag seines Triumphes beraubt. Die anfängliche Zufriedenheit war aus seinem Gesicht gewichen. Es hatte sich für ihn nichts geändert. Gerold war zwar mit seinem Anliegen gescheitert, doch er selbst ebenso. Frühestens in einem Jahr und einem Tag würde der König ihm den Grafentitel verleihen, sollte sich bis dahin nichts anderes ergeben. Doch das war bei weitem noch nicht sicher, so erpicht wie Gerold darauf war, Rurik zu Fall zu bringen.

Wenn sich etwas geändert hatte, dann für Brandolf. Dem war klar geworden, dass er von nun an noch stärker unter Ruriks Beobachtung stehen würde. Sein Vater und er durften sich in Zukunft keine Fehler erlauben, sonst wären sie ihres Lebens nicht mehr sicher. Misstrauisch blickte er Rurik in die Augen und sah darin nur Hass und Verachtung.

Erneut beschloss Brandolf alles Erdenkliche zu unternehmen, um Rogar zu finden. Rurik durfte unter keinen Umständen Herr der Ländereien und sein Dienstherr werden. Die Zeit, die ihm dafür blieb, war jedoch knapp bemessen. Er hatte im vergangenen Jahr nichts erreichen können, wie sollte er es im verbleibenden bewerkstelligen, den Jungen zu finden?

Brandolf verließ mit seinem Vater die Halle. Im Säulengang des Quartiergebäudes stießen sie auf Friedrich, der dort auf sie wartete. Gerold sah ihn kurz mit strafendem Blick an, wandte sich wieder ab und ließ den Verräter stehen. Der folgte ihm und versuchte seinen Sinneswandel zu erklären.

„Gerold, versteh doch … Rurik bedroht Mildrith und die Kinder … ich hatte keine Wahl!“

„Dann gehe und sorge dich um sie, doch trete mir nicht mehr unter die Augen!“

Mit diesen Worten betrat Gerold seine Räumlichkeiten und ließ den einstigen Freund vor verschlossener Tür stehen.

Brandolf konnte die tiefe Enttäuschung seines Vaters erkennen. Die hängenden Schultern des Edelherrn und die Hoffnungslosigkeit in seinem Gesicht sprachen Bände.

Ohne zu zögern begann Gerold die Abreise vorzubereiten. Wenn möglich, wollte er noch heute die Pfalz verlassen. Allein um Rurik zu entkommen, der sicherlich auf Rache sann, war es nötig, einen großen Vorsprung zu haben. Nur kurze Zeit später wurden die Pferde von Stallburschen auf den Hof geführt, gesattelt und waren zum Aufbruch bereit. Gerolds Männer befestigten noch die letzten Habseligkeiten auf dem Lasttier und wollten gerade aufsitzen, als ein Bote des Königs auf Gerold zukam. Er flüsterte dem Edelherrn etwas ins Ohr und schritt wieder davon. Einen Augenblick hielt Gerold nachdenklich inne, dann gab er Brandolf ein Zeichen: „Komm mit mir.“

Verwundert ließ der Sohn sein Pferd stehen und folgte dem Vater über den Innenhof und am Brunnen vorbei bis zur alten Kapelle der Pfalz. Dort verließen sie den großen Hof durch eine Tür in einer mannshohen Mauer, die einen zweiten, kleineren Innenhof abtrennte.

Als Brandolf durch den Türbogen trat, schien es ihm, als betrete er eine andere Welt. Während der erste Hof nur eine große, staubige Kiesfläche war, stand er jetzt unter den großen Bäumen eines Haines. In der Mitte des Hains weitete sich der Weg, auf dem sie voranschritten, zu einem rechteckigen Platz. In dessen Mitte sprudelte aus einem Quellstein klares Wasser, das sich in ein flaches, mit Mosaiksteinen verziertes Becken im Erdreich ergoss.

Dieser Innenhof wurde von mehreren Bauten eingerahmt. Im Osten wurde er durch den weitläufigen, sichelförmigen Bau gefasst, den Brandolf bereits bei seiner Ankunft vor einigen Tagen aus der Ferne hatte erkennen können. Zum Hof hin war diesem Gebäude ein überdachter Säulengang vorgelagert, auf den Gerold zustrebte. In seinem Schatten angelangt, bemerkte Brandolf mehrere Männer. Instinktiv glitt seine Schwerthand zum Knauf seiner Waffe, als er mit Erstaunen erkannte, dass einer der Männer König Otto selbst war.

Der Edelherr und sein Sohn blieben stehen und warteten geduldig, bis sich der König ihnen zuwandte. „Gerold, bevor Ihr mich verlasst, wünsche ich noch ein offenes Wort mit Euch zu führen.“

„Mein König, wie können wir Euch dienlich sein?“

„Wie gutgläubig seid Ihr eigentlich, dass Ihr Rurik derart unterschätzt? Er scheint Euch einige Schritte voraus zu sein, denn selbst Eure vermeintlichen Verbündeten haben sich gegen Euch gewandt. Es hatte nicht den Anschein, als hätten sie es freiwillig getan.“

„Nein, das haben sie nicht. Rurik bedroht ihre Familien, doch es dürfte schwer sein, dies zu beweisen.“

„Rurik scheut keine Mittel, um zu erreichen was er begehrt.“

Gerold nickte nüchtern. „Mein Sohn hegt die Vermutung, dass Rurik hinter dem Angriff auf Farolds Burg steckt.“

„Diese Vermutung ist mir schon einmal zu Ohren gekommen, doch hierfür gibt es noch weniger Beweise als für das Leben eines Jungen, den Ihr zum Grafen erheben wollt. Ist Euch eigentlich klar, dass Ihr beinahe das Gegenteil erreicht hättet? Hätte Rurik diese Torheit mit der Knabenleiche nicht begangen, so wäre ich geneigt gewesen, ihm die Grafschaft schon heute zu übertragen.“

„Er wäre kein gerechter Herr für die Ländereien und das Volk, wie es mein König wünscht.“

„Nicht jeder Mann im Reich handelt nach meinem Wunsch. Doch Rurik ist einflussreich und hat mächtige Verbündete. Er besitzt ausreichende Mittel, um viele Männer wehrfähig bereit zu stellen. Das erwartet ein König von seinem Vasallen. Insofern spricht nichts dagegen, Rurik nach Ablauf der gesetzten Frist zum Grafen zu ernennen.“

„Weshalb habt Ihr es dann nicht schon heute getan, mein Herr? Einzig wegen der Knabenleiche?“

Der König schwieg nachdenklich und schritt langsam den Säulengang entlang. Die Männer folgten ihm und warteten, bis er antwortete: „Farold war mir ein getreuer Vasall und ein ehrenvoller Ritter. Er und seine Männer haben unter Konrad dem Roten erfolgreich die Ungarn zurückgedrängt und geschlagen, obwohl sie bereits in die Nähe meines Haufens gekommen waren. Zeitweise kämpfte ich mit Farold Seite an Seite. Ich weiß, was ich ihm zu verdanken habe. Die Heilige Lanze wäre beinahe verloren gewesen, hätte er sie nicht im letzten Augenblick gerettet. Gerold, Ihr wart auch dabei. Ihr wisst, wovon ich spreche. Diese Verbundenheit ist es, weshalb ich Rogar den Titel seines getreuen Vaters vermachen möchte, sollte er tatsächlich noch am Leben sein. Doch viel Zeit bleibt Euch jetzt nicht mehr, ihn zu finden.“

„Was können wir Eurer Ansicht nach tun, mein König?“

Otto schwieg eine Weile. Zu dritt schritten sie unter dem Säulengang weiter, das kleine Gefolge des Königs in einigem Abstand hinter ihnen. Schließlich sprach der Herrscher erneut. „Sollte Eure Vermutung wahr sein und Rurik tatsächlich hinter dem Überfall auf die Burg stecken, so hat er sich des schlimmsten Vergehens schuldig gemacht. Er hätte einen Brudermord wie Kain begangen, was nicht ungestraft bleiben dürfte. Dieses Verbrechen könnte Rurik einholen und selbst als Graf noch stürzen, ganz gleich wie viel Zeit vergangen, und ob Farolds Sohn noch am Leben ist. Doch solange Ihr Eure Vermutung nicht beweisen könnt, wird Rurik die Grafschaft führen. Wenn Ihr allerdings die Anklage eines Tages beweisen könnt, solltet Ihr Euch überlegen, wer den Titel erhalten soll, falls Rogar bis dahin nicht aufgefunden wird.“

Gerold begriff sogleich, worauf der Herrscher hinaus wollte. „Es liegt nicht in meinem Bestreben, die Grafschaft für mich zu erlangen, mein König. Brandolf schwor Farold, sich um seinen Sohn und seine Belange zu kümmern. Nichts anderes liegt in unserer Absicht.“

„Ich schenke Euch gerne Glauben, Gerold. Dennoch ist nicht sicher, ob Rogar gefunden wird, um Rurik von seinem Platz zu verdrängen. Das würde dem Jungen nach Ablauf der Frist nur dann gelingen, wenn der Brudermord nachgewiesen werden könnte. Denn einen verliehenen Titel kann ich Rurik nicht ohne weiteres wieder entziehen. Vor allem nicht, wenn er mir bis dahin gute Dienste erbracht hat. Gerold, geht nicht immer von einem lebenden Rogar aus, sondern zieht auch die Möglichkeit in Betracht, dass er tot sein könnte. Was gedenkt Ihr in diesem Falle zu tun?“

„Ich weiß es nicht. Wem würdet Ihr die Grafschaft übertragen, wenn wir Ruriks Schuld nachweisen könnten, Rogar jedoch verschollen bliebe, mein König?“

„Einzig einem Getreuen, der sich als würdig erwiesen hat. Da Ihr und Euer Sohn Euch dieser Angelegenheit angenommen habt, wäret Ihr ein ehrbarer Anwärter auf den Titel. Doch vorher müsst Ihr mir beweisen, dass Ihr zu solchen Taten schreiten könnt wie Rurik.“

„Ich verstehe Euch nicht ganz, mein Herr.“

„Bietet mir das, was ich von Rurik als Vasall sicher bekomme und stellt Euch ihm damit gleich. Ich benötige vielleicht schon bald viele Männer. Versöhnt Euch mit Euren Verbündeten und sorgt dafür, dass sie Euch nicht noch einmal so schändlich verraten wie heute. Schart sie hinter Euch und wartet mit den Männern auf, wenn ich nach Euch rufe.“

Gerold war verblüfft, denn der Herrscher deutete unmissverständlich einen geplanten Feldzug an.

„Mein König, ich bitte um Verzeihung, doch es wird mir niemals gelingen, die gleichen Mittel oder Mannzahl wie Rurik bereitzustellen. Mein Einfluss ist zu gering, als dass ich das bewirken könnte.“

„Ich weiß“, beruhigte der König den besorgten Edelherrn. „Doch wenn Ihr Männer bereit haltet, die mit Herz und Seele für ihren König kämpfen wollen, so kann ein Mann mehr ausrichten als ein Dutzend von Ruriks bezahlten Söldnern. Bemüht Euch um Verbündete, sucht ihr Vertrauen und begeistert sie für eine gerechte Sache, dann könnt Ihr Rurik ebenbürtig ins Auge blicken und die Grafschaft nach seinem Fall übernehmen.“

Damit hatte der König alles gesagt. Ohne weitere Worte ließ er Gerold und Brandolf in dem grünen Hof zurück. Vater und Sohn schauten einander an. Schließlich begriffen sie, welche Möglichkeiten ihnen der Herrscher soeben offenbart hatte.

„Brandolf, bist du bereit für diese Sache zu sterben?“

„Ich habe einen Eid geleistet, Vater! Natürlich bin ich bereit, mein Leben dafür zu geben.“

„Tue es dennoch nicht leichtfertig, mein Junge“, murmelte Gerold nachdenklich. Dann sprach er wieder klarer: „Ich weiß, dass du ein mutiger Ritter bist, doch du bist manchmal noch etwas ungestüm. Sei vorsichtig bei deinen Bemühungen, Rogar zu finden. Du darfst nicht vergessen, dass wir auch noch Ländereien zu versorgen haben. Das Volk darf wegen unseres Vorhabens keinen Nachteil erleiden. Wenn wir das Vertrauen der Leute verlieren, verlieren wir unsere treuesten Verbündeten. Auf sie sind wir angewiesen, wenn wir Rogar jemals finden wollen. Zudem hat der König Recht. Wir müssen auch damit rechnen, Rogar niemals zu finden. Deshalb sollten wir auch nach Hinweisen suchen, die Ruriks Verbrechen nachweisen können.“

Brandolf stutzte. „Strebst du die Grafschaft für dich an?“

„Nein, mein Sohn, nicht für mich. Dafür bin ich zu alt. Ich bin zufrieden mit den Ländereien und dem Stand, den mir Gott zugeteilt hat. Ich strebe lediglich an, dem Volk Rurik zu ersparen. Unter seinem Joch werden die Menschen leiden, dessen bin ich mir sicher.“

Brandolf verstand nur zu gut und ihm wurde klar, dass die Suche nach Rogar länger als ein Jahr andauern könnte, sollte sie überhaupt erfolgreich sein. Zudem gab es noch weitere Umstände zu beachten, um dem Eid gerecht zu werden. Brandolfs Bürde schien noch schwerer geworden zu sein. Doch es stimmte ihn zuversichtlich, dass König Otto ihnen eine Aussicht auf Erfolg gegeben hatte. Festen Schrittes machte er sich mit seinem Vater auf, um die Heimreise anzutreten und um die ersten Bündnisse zum Erfolg ihres Vorhabens zu schließen.

* * *

Der dunkel gekleidete Mann wartete geduldig im Schatten des Raumes. Trotz des warmen Frühjahres machte er keine Anstalten, sich des dicken Umhangs zu entledigen, unter dem er die Ordenstracht der Benediktiner trug. Die starken Mauern der Festung hielten noch immer die Kälte des Winters in den Räumen gefangen.

Die kleine Kammer, in der sich der Mann befand, war karg ausgestattet. An einer Wand stand ein einfacher Tisch mit zwei Schemeln. In der gegenüberliegenden Mauer befand sich ein kleines, glasloses Fenster, welches einen Blick in den tiefer gelegenen Burghof ermöglichte und doch nur wenig Licht in den Raum dringen ließ. Die Wände bestanden aus glatten, dunkelgrauen Steinblöcken, deren Kanten exakt bemessen und handwerklich erstklassig geschlagen worden waren, sodass nur schmale Fugen sie voneinander trennten.

Wenn auch etwas angespannt, so stellte der Benediktiner zumindest befriedigt fest, dass das Treffen bisher wie vereinbart verlaufen war. Er hatte auch nichts anderes erwartet, denn die heutige Zusammenkunft war nicht die erste dieser Art. Wie schon einige Male zuvor hatte ein Vertrauter am vereinbarten Treffpunkt beim Waldrand auf ihn gewartet und ohne viele Worte hierher geführt.

Obwohl der Gottesmann sich unter der Kapuze nicht zu erkennen gegeben hatte, war ihm ohne Fragen Einlass in die Feste gewährt worden. Niemand versuchte seine Identität zu ergründen oder hinter das Dunkel der Kapuze zu blicken. Das Pferd des Klerikers wurde auf dem Burghof wortlos entgegengenommen und verpflegt, jedoch nicht abgesattelt. Konspirativ könnte man dieses Verhalten bezeichnen, und genau das war es auch. Der Mönch hoffte, dass derjenige, gegen den diese Verschwörung gerichtet war, nicht die leiseste Ahnung davon hatte.

Unruhig begann der Benediktiner in der kleinen Kammer auf und ab zu gehen. Er versprach sich einiges von dem bevorstehenden Gespräch, wenn man ihn auch lange warten ließ. Immerhin war er nicht vergessen worden, denn ein Krug mit Wein war zu seiner Erfrischung gebracht worden. Das war eine Geste, die der Mönch durchaus zu schätzen wusste. Gerne hätte er jetzt einen Schluck zu sich genommen, doch er ließ den Rebensaft unberührt. Vor einem wichtigen Treffen Wein zu trinken kam für ihn nicht in Frage. Vielleicht würde er sich danach einen Schluck gönnen, doch das hing vom Ausgang der Unterredung ab.

Während des endlos scheinenden Wartens blieb der Mönch oft am schmalen Fenster stehen und beobachtete aus der schützenden Dunkelheit des Raumes das Treiben im Burghof. Oberflächlich betrachtet glich es einem heillosen Durcheinander, über dem der beißende Gestank nach Schweiß, Getier und Kot hing. Selbst hier oben roch es noch so stark, als stünde man dort inmitten des Gedränges von Mensch und Tier. Wer das Treiben jedoch genauer beobachtete, erkannte, dass jeder einer bestimmten Aufgabe nachging. Jeder Einzelne war in diesem Durcheinander ebenso auf ein Ziel ausgerichtet wie es auch ihr heimlicher Beobachter war. Wie jene dort unten musste auch der Mönch hier oben bisher so manchen Umweg durch Unrat und Gestank in Kauf nehmen, um seine Ziele zu erreichen.

Der verhüllte Kleriker fragte sich, ob sein eigenes Treiben ebenso chaotisch wirken mochte wie das auf dem Hof. Doch es war ihm letztendlich gleich, denn im Vergleich zu den Menschen dort unten gab es bei seiner Aufgabe einen wichtigen Unterschied: Seine Bestrebungen waren ihm nicht von irgendeinem Herrn aufgetragen worden, sondern dienten seinem selbst gesteckten Ziel. Und nach jahrelangen Mühen war er endlich nahe daran, dieses Ziel zu erreichen und den Lohn für all die Risiken einzustreichen. Zumindest erhoffte er sich das von der bevorstehenden Unterredung.

Der Mann stand immer noch regungslos am Fenster und blickte in den Hof hinab, als sich die Tür der Kammer öffnete und Rurik eintrat. Er war allein gekommen, wie vereinbart, und seine Erscheinung war imposant wie immer.

Erst jetzt, als sich der Mönch umdrehte und aus dem Dunkel trat, nahm er die Kapuze ab und gab sich zu erkennen. Pechschwarzes Haar umgab die Tonsur, und sein Gesicht war frisch rasiert. Sein Auftreten wirkte gepflegt und nobel. Rurik hatte mit diesem Mönch im vergangenen Jahr viel zu tun gehabt und ergriff kurz angebunden das Wort, ohne den Besucher anzusehen. „Seid willkommen in meiner Feste, Prior Walram. Wein?“

Der Mönch hielt nicht viel von Floskeln und so fiel auch seine Antwort knapp aus: „Danke, nein!“

„Was wollt Ihr hier?“, fuhr der Sachwalter der Grafschaft kühl fort, während er sich gelassen einen der tönernen Becher nahm und sich reichlich Wein eingoss.

„Ich komme wegen unserer Vereinbarung.“

„Was genau meint Ihr damit?“

„Wenn Ihr Euch erinnert, betraf ein Teil unserer Vereinbarung für Euch die Erlangung der Grafschaft. Dieses Ziel ist vor nahezu einem Jahr erreicht worden, maßgeblich durch meinen Einfluss. Es liegt nun in Eurer Pflicht, den zweiten Teil der Vereinbarung, der mich betrifft, in die Tat umzusetzen.“

Noch immer gelassen stellte Rurik die Weinkaraffe beiseite und leerte den Becher in einem Zug. Erst dann antwortete er dem Prior, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. „Außer dem König ruft mich keiner in die Pflicht, schon gar nicht Ihr. Habt Ihr mich verstanden?“

Rurik wartete, bis der Mönch leicht mit dem Kopf nickte. Erst dann fuhr er ruhig fort. „Ihr glaubt also, dass Ihr Euren Teil der Vereinbarung eingehalten habt und dass gewisse Ziele erreicht worden sind …?“ Wieder wartete Rurik auf ein Nicken, ehe er fortfuhr. „Es wird Euch gewiss überraschen zu erfahren, dass dem nicht so ist!“

„Wie …? Was …? “, stotterte Walram mit großen, ungläubigen Augen.

„Seht Ihr“, kommentierte Rurik leicht amüsiert, „ich wusste, es würde Euch überraschen!“

„Wie könnt Ihr so etwas behaupten?“

„Wenn Ihr Euch wiederum erinnert“, zitierte Rurik den Gottesmann etwas spöttisch, „so gab es ein klar formuliertes Ziel. Könnt Ihr es wiedergeben? Nur um sicher zu gehen, dass wir nicht von unterschiedlichen Vereinbarungen sprechen.“

In Walrams Augen funkelte Zorn, doch er beherrschte sich. „Natürlich kann ich das: Ziel war es, Euch zur Grafschaft zu verhelfen. Hierfür habe ich all meinen Einfluss geltend gemacht und entsprechende Abkommen bei Fürsten getroffen, ohne deren Hilfe Ihr niemals die Mittel für dieses Unterfangen gehabt hättet. Ich habe dabei viel gewagt. Wenn man sich umschaut und bedenkt wo diese Unterredung heute stattfindet, besteht wohl kein Zweifel, dass das Ziel erreicht worden ist. Damit ist es an Euch, Euer Versprechen einzulösen.“

Ruriks Tonfall blieb kühl: „Eure erste Feststellung war richtig, die zweite leider falsch. Ziel war es, die Grafschaft für mich zu erlangen. Die Annahme, dass dies bereits erfolgt sei, nur weil ich Herr einer Burg bin und den Platz meines Bruders in der großen Halle eingenommen habe, ist jedoch ein fataler Irrtum.“

Die Worte des Sachwalters hallten in der kleinen Kammer nach. Ein Schlucken des Mönches machte deutlich, dass er verunsichert war. Rurik sprach weiter: „Die Grafschaft wird erst dann mein sein, wenn man mir auch offiziell den Grafentitel verliehen hat. Euch dürfte nicht entgangen sein, dass dies auch beim vergangenen Osterfest nicht erfolgt ist. Oder kennt Ihr etwa einen Erlass des Königs, der mir entgangen sein sollte?“

Walram wusste von Ruriks Scheitern vor König Otto, versuchte die Tatsache aber zu mildern: „Das ist doch nur noch eine Frage der Zeit und zudem reine Formsache! Ihr seid unweigerlich Regent dieser Lande oder wollt Ihr das bestreiten? Binnen Jahr und Tag lautete der Beschluss des Königs, wenn ich mich nicht täusche.“

Rurik sah es offensichtlich anders. Walrams Worte brachten ihn aus der Fassung und er donnerte den tönernen Becher mit einem lauten Knall auf den Tisch, der unter der Wucht zusammenzubrechen drohte. Er machte zwei große Schritte auf den Mönch zu, der versuchte zurückzuweichen, jedoch bereits mit dem Rücken an der Wand stand. Ruriks säuerlicher, nach Wein stinkender Atem schlug ihm ins Gesicht.

„So, reine Formsache nennt Ihr das? Warum ist dann diese Formsache noch nicht erledigt, wenn sie so nebensächlich ist? Weshalb muss ich noch ein weiteres Jahr warten, in der ungewissen Hoffnung, dass Rogar nicht gefunden wird?“

Schweigen.

Walram wusste darauf keine Antwort. Schließlich trat der Sachwalter einen Schritt zurück und gab dem Mönch etwas Raum. Rurik goss sich ein zweites Mal Wein ein und leerte den Becher, bevor er wieder sprach.

„Ich will Euren Gedanken etwas auf die Sprünge helfen, weshalb ich den Titel noch nicht besitze. Mein Bruder war schlichtweg zu beliebt. Wahrscheinlich fühlt sich König Otto, dieser elende Liudolfinger, noch immer wegen Farolds Hilfe auf dem Lechfeld verpflichtet. Sicherlich wäre meine Ernennung zum Grafen nur ein Akt weniger Worte auf etwas Pergament, wie Ihr jetzt wahrscheinlich denkt. Doch diese Worte können noch nicht niedergeschrieben werden. Dieser Edelherr Gerold und sein Sohn Brandolf haben für Rogars Anspruch vor dem König zu Ingelinheim Partei ergriffen. Daher bleibe ich zunächst nur der Verwalter der Ländereien, bis in einem Jahr neu darüber befunden wird!“

Ruriks Unzufriedenheit war unverkennbar. Daher wählte Walram seine Worte sorgfältig.

„Ein Jahr ist keine lange Zeit …“

„Ich habe lange genug gewartet“, fuhr der Krieger den Prior an. „Ein Jahr ist lange genug, um Rogar zu finden und gegen mich zu stellen.“

„Kann man den Jungen nicht einfach für tot erklären? Er könnte im Wald von Wölfen gefressen worden oder einfach nur verhungert sein. Es dürfte für Euch doch nicht allzu schwer sein, eine Kindsleiche zu beschaffen und sie vor dem König als Rogars Leichnam auszugeben.“

„Glaubt Ihr, ich hätte das nicht bereits versucht? Allerdings ist der König kein Narr. Er hat die Echtheit der bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Leiche angezweifelt. Eine zweite falsche Leiche vorzulegen, würde König Ottos Vertrauen in mich schwer erschüttern und man könnte mir vorwerfen, ihn absichtlich täuschen zu wollen. Von solchen Gedanken ist es dann nicht mehr weit bis zu dem Verdacht, ich könnte mit dem Tod meines Bruders selbst etwas zu schaffen haben.“

Rurik machte eine kleine Pause, sprach dann aber überzeugt weiter. „Das Einzige, was uns jetzt noch helfen kann, ist die echte Leiche des Jungen. Rogar muss gefunden und, falls am Leben, getötet werden. Sein Leichnam sollte möglichst unversehrt sein und nach einem Unfall aussehen, damit keine Zweifel aufkommen können. In dieser Sache darf kein Fehler unterlaufen, sonst steht es schlecht um meine Glaubwürdigkeit und den Titel. Daher verbiete ich Euch weitere unsinnige Vorschläge zu äußern!“

Walram atmete tief ein und richtete sich auf. „Ich habe Euch schon mehrfach berichtet, dass Rogar in unserer Abtei weilt. Er ist unter falschem Namen als Novize aufgenommen worden. Sein Verschwinden würde kaum Aufsehen erregen.“

Der Burgherr blickte den Mönch streng an. „Ich hatte doch eben gesagt, dass ich Fakten benötige. Was diesen Novizen angeht, so hegt Ihr doch lediglich die Vermutung, es könne sich um Rogar handeln. Ihr habt keinerlei Beweise. Keine Sorge, ich bin Euren Hinweisen durchaus nachgegangen. Doch weder ich noch mein Weib oder das Gesinde haben den besagten Novizen bei unserem Besuch im Kloster als Rogar erkannt.“

Mit einem Mal geriet Rurik ins Grübeln, und als bekäme er plötzlich eine Einsicht, fuhr er fort: „Vielleicht liegt das Schweigen des Gesindes auch daran, dass es meinem Bruder noch immer treu ergeben ist. Sie würden Rogar niemals verraten und ich kann nichts daran ändern.“

Das war eine bittere Erkenntnis für Rurik: Die Burgbewohner trauerten noch immer um ihren alten Herrn, statt ihm, dem neuen Herrn, von ganzem Herzen zu folgen. Erbost darüber machte er Walram seinen Standpunkt noch einmal klar:

„Ich benötige Beweise, bevor ich handeln kann. Oder glaubt Ihr etwa, ich könnte ohne weiteres einen Novizen aus einer Abtei verschwinden lassen? Ihr scheint dabei eines zu vergessen: Falls es sich bei dem Knaben tatsächlich um Rogar handelt, so würde es mich wundern, wenn Euer ehrwürdiger Abt nicht darüber Bescheid wüsste. Es ist sogar damit zu rechnen, dass er ein besonderes Augenmerk auf den Jungen hat. Das dürfte die Sache weiter erschweren. Sollte ich auch nur im Entferntesten mit dem Tod eines Novizen in Verbindung gebracht werden, wird sich König Otto gegen mich wenden.“

Walram schluckte schwer, versuchte dennoch vorsichtig Rurik erneut zum Handeln zu ermutigen. „Könnt Ihr Euch denn nicht im Entferntesten an Euren Neffen erinnern? Fällt Euch oder Eurem Weib denn kein einziges Merkmal ein, um den Novizen als Rogar zu erkennen?“

„Wenn Ihr glaubt, dass ich all die Jahre nicht Besseres zu tun hatte, als mir das Gesicht eines Bastards einzuprägen, so habt Ihr Euch getäuscht. Was ist mit Eurer eigenen Erinnerung? Ihr selbst habt meinen Bruder mehrfach gesehen, wenn schon nicht seinen Sohn. Findet Ihr eine Ähnlichkeit im Gesicht des Novizen? Selbst wenn, so macht ihn das noch lange nicht zum Erben! Ähnlichkeit ist kein Beweis. Ein Beweis wäre der verschwundene Siegelring. Könnt Ihr ihn vorweisen? Wohl kaum, sonst hättet Ihr es längst getan. Verschwendet meine Zeit also nicht mit Spekulationen! Es gibt nur diesen einen Beweis: Den Jungen mitsamt dem verschwundenen Siegelring.“

Rurik wurde nachdenklich, dann fuhr er fort: „Wenn ich es mir recht überlege, bedarf es nur des Siegelringes. Hielte man ihn in Händen, würde man eine jede Knabenleiche als Rogar ausgeben können. Dann wäre dieser Novize ohne Bedeutung, selbst wenn er Rogar sein sollte und am Leben bliebe.“

Diese Gedanken schienen Rurik zu erheitern. Er lachte kurz und laut auf, verstummte allerdings schnell wieder. Was brachte ihm diese Idee, wenn die Umsetzung nicht möglich war? Nicht das Geringste!

Wieder herrschte Stille in der kleinen Kammer. Nur vom Burghof drang Lärm von Mensch und Tier durch das schmale Fenster. Es war eine merkwürdige Mischung aus Sprache, Geräuschen und Schreien, die sich anhörte, als würde man sich dort unten über die Ränke der beiden Männer belustigen. Walram ließ sich dadurch nicht beirren und dachte weiter fieberhaft nach, fand allerdings keinen Weg aus der Misere.

„Es mag sich für Euch nur wie eine Vermutung anhören“, begann der Mönch noch einmal vorsichtig „doch ich bin fest davon überzeugt, dass sich beide, der Junge und der Siegelring, in unserer Abtei befinden.“

„Dann besorgt mir den Ring, wenn Ihr Euch so sicher seid. Schließlich habe ich bereits einen weiteren Teil unserer Abmachung erfüllt, im Gegensatz zu Euch.“

Walram schaute überrascht und Rurik fuhr fort: „Ja, Ihr habt richtig vernommen. Oder habt Ihr tatsächlich geglaubt, Drogos Unterbringung in Eurem Kloster sei mir tatsächlich so viel wert, wie Eure Abtei im Gegenzug erhalten hat? Ihr dürft mich nicht mit meinem Weib verwechseln. Drogos Erziehung hätte ich auch mit weitaus geringerem Aufwand erreichen können.“

„Und was ist mit meinem Anteil?“, spuckte Walram schließlich aus.

Das war es, um was es ihm eigentlich ging.

„Was wollt Ihr noch? Wir haben eine klare Vereinbarung! Darin ist geregelt, wann Ihr das erhaltet, was Ihr begehrt. Das erfolgt jedoch erst, wenn man mir den Grafentitel verliehen hat. Dann, und nur dann, bin ich gewillt und in der Lage, meinen Einfluss geltend zu machen, um Euch zum Amt des Abtes zu verhelfen. Doch überschreitet Eure Grenzen nicht! Ich habe bereits viel für Drogos Aufnahme an das Kloster abgetreten, was man sicherlich zu Euren Gunsten anrechnen wird. Fordert nicht noch mehr, denn es könnte als Unverschämtheit ausgelegt werden.“

Auf diese scharfen Worte seines Gegenübers war Walram nicht vorbereitet. Er musste zugeben, dass Ruriks Argumente schlagend waren und er an dessen Stelle auch nicht anders handeln würde. Walram wollte keinen weiteren Fehler begehen und wurde wieder vorsichtiger, denn jedes weitere Verhandeln könnte schnell zu einem lebensbedrohlichen Wagnis werden. Der Mönch war hilflos und sein letzter Versuch klang entsprechend.

„Dann helft mir auf irgendeine Weise, den Siegelring zu finden!“

„Und wie soll ich das anstellen, Prior?“, fragte Rurik leicht resigniert und sarkastisch. „Das Kloster ist Euer Revier, nicht meines. Erwartet Ihr etwa, dass ich es einnehme? Glaubt Ihr, Euer Abt würde einfach zusehen, wenn wir vor seinen Augen die Abtei bis in die kleinsten Winkel durchsuchten. Unterschätzt diesen Mann nicht. Wenn er tatsächlich Beweise für die Identität dieses Novizen zurückhält, so hat er sie längst vor neugierigen Augen gut verborgen. Sie zu finden ist allein Eure Sache!“

„Wie soll das gehen?“ Walram klang verzweifelt.

„Fragt doch den allmächtigen Herrn, dem Ihr dient. Ich sorge mich um das Wohl meiner Burg. Ebenso sollte Euer Herr es mit der Abtei halten. Oder fehlt Euch etwa das Vertrauen in seine Macht?“

Der Spott in Ruriks Worten war unverkennbar und er fuhr ebenso sarkastisch fort: „An dieser Aufgabe könnt Ihr beweisen, dass Ihr dem Amte eines Abtes gewachsen seid und Euch bei Euren Mitbrüdern durchsetzen könnt. Bringt sie dazu, Euch den Beweis zu liefern. Wenn Euch das nicht gelingt, wäre es ohnehin ein Fehler, Euch zum Abt zu erheben! Beweist Euch also und zeigt Euch würdig, dann sehen wir weiter! Je früher der König mich zum Grafen ernennt, umso früher könnt Ihr Euch Abt nennen. Sollte ich jedoch unnötig lange darauf warten müssen, so rückt auch Euer Ziel immer ferner.“

Rurik blickte Walram tief in die Augen, um sicher zu gehen, dass seine letzten Worte ihre Wirkung nicht verfehlt hatten. Die Unsicherheit des Mönches war deutlich zu sehen. Rurik trat zurück und schien zufrieden, machte schließlich kehrt, um den Raum zu verlassen. Als er die Tür öffnete, raunte er Walram noch ein paar letzte Worte zu. „Besorgt mir das Notwendige und Eurem Ziel wird nichts mehr im Wege stehen. Andernfalls kann ich nichts für Euch tun. Bis diese Angelegenheit erledigt ist, bedarf es keiner weiteren Treffen mehr.“

Rurik erwartete keine Antwort und ließ Walram in der kleinen, plötzlich eiskalten Kammer allein. Trotz seiner dicken Gewandung lief dem Mönch ein Schauer über den Rücken.

Die Besprechung war denkbar schlecht verlaufen und Walram fluchte leise vor sich hin. Es war ihm gleich, wie gotteslästerlich er in diesem Augenblick war. Seine Taten spotteten ohnehin allen christlichen Geboten. Erneut fluchte er auf die dunkelste Art, die ihm in den Sinn kam. Wütend griff er nach dem unberührten Becher auf dem Tisch und schenkte sich voll ein. Schnell leerte er ihn und füllte ihn ein zweites Mal. Kurz bevor der Becher erneut seine Lippen berührte, verharrte seine Hand, als sei sie erstarrt. Walram schloss die Augen. Sein Atem ging schnell und Zorn stieg in ihm auf. Sein Griff um den Becher wurde immer fester, bis seine Knöchel weiß hervortraten und die Hand immer stärker zu zittern begann.

Wofür all die Mühe, der Aufwand und das Risiko?

In diesem Augenblick schien es ihm, als habe er Rurik zu seiner jetzigen Position und Macht nur deshalb verholfen, damit dieser ihn mit Hohn verspotten konnte. Als wäre das noch nicht genug der Demütigung, musste Walram jetzt auch noch über die Erziehung von Ruriks missratenem Sohn wachen. Er ging als Betrogener aus dieser Vereinbarung hervor, denn alle Versprechungen und Entlohnungen lösten sich vor seinen Augen in nichts auf.

Mit einem Mal begriff Walram, dass er seinen Zielen ferner war denn je. Er war machtlos dagegen! Mit einem wütenden Schrei aus tiefstem Herzen warf er den vollen Becher an die gegenüberliegende Wand, dass er mit einem lauten Knall zerbarst.

Mit beiden Händen musste sich Walram an dem kleinen Tisch festhalten. Mit geschlossenen Augen blieb er so stehen, bis sich sein Atem wieder beruhigt hatte und er einigermaßen klar denken konnte. An all seinen Problemen war nur dieser verfluchte Junge schuld. Rogar, wie er diesen Namen hasste! Oder Faolán, es war ihm ganz gleich! Dieser Junge personifizierte seine Niederlage. Ebenso Degenar, samt seinem Busenfreund Ivo. Wie er sie abgrundtief hasste, alle drei! Allein beim Gedanken an sie schürzte sich Walrams Oberlippe und er entblößte seine Zähne wie ein angriffslustiger Wolf.

Es musste etwas geschehen! Entschlossen ballte Walram seine Hände, öffnete die Augen und richtete sich bestimmt auf. Ja, er musste handeln, auch wenn sein Handeln länger dauern würde, als ihm lieb war! Er musste eine Lösung finden, ganz gleich welcher Art, und sie in die Tat umsetzen. Doch zunächst musste er ins Kloster zurückzukehren. In das Kloster, das er schon bald als das seine bezeichnen könnte, sobald man ihn zum Abt gemacht hatte.

Abt Walram – das klang versöhnlich in seinen Ohren. Mit neuem Elan verließder Prior die kleine, kalte Kammer.

Die Eiswolf-Saga / Die Eiswolf-Saga. Teil 2: Irrwege

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