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3. Kapitel
ОглавлениеTagebuchaufzeichnungen von Prof. Dr. Rüdiger Kolczyk.
Anhand aufgefundener Fragmente vom Autor rekonstruiert.
Es begann an einem Oktobertag, dessen stereotype Schönheit mich wie immer langweilte: fallende goldbraune Blätter, ein sanft-blauer Himmel, ziehende Wattewölkchen, der würzige Duft modernden Laubes. Seit Millionen Jahren hatte es die Natur nicht für nötig gehalten, ihr Programm zu ändern. Die Erinnerung an unzählige, höchst unnütze Schulaufsätze ließ meinen Unmut noch wachsen: Ist der Herbst die Jahreszeit des Vergehens? Meine Gedanken im herbstlichen Wald. Herbstgedichte, die mir etwas gegeben haben. Gegen meinen Willen fiel mir ein Gedicht von Else Lasker-Schüler ein, das ich irgendwann einmal in den Heften meiner Tochter gefunden hatte. Obwohl mein Gedächtnis für derartige Dinge zu wünschen übrig lässt, hatte ich mir drei, vier Zeilen eingeprägt. „Ich will dir viel viel Liebe sagen – wenn auch schon kühle Winde wehen, in Wirbeln sich um Bäume drehen, um Herzen, die in ihren Wiegen lagen.“
Warum dieses Gedicht, warum diese Aufzeichnungen? Es kommt mir alles lächerlich vor, furchtbar lächerlich. Dieser verdammte Aktivismus! Wir tun nur etwas, wir arbeiten in Wahrheit nur so verbissen, um uns über die Sinnlosigkeit unseres Daseins hinwegzutäuschen, um den Gedanken zu verjagen, dass wir so bedeutungslos sind wie die winzigste Ameise, die wir gerade zertreten haben, dass wir zu sterben haben, ohne eine bleibende Spur zu hinterlassen.
Doch Schreiben entlastet, und darum schreibe ich hier. Ich schreibe, also bin ich.
Milde Resignation eines Arrivierten an einem Herbstmorgen ... Aber damit dürfte ad eins klar geworden sein, dass ich ein durch und durch widersprüchlicher Mensch mit einer beträchtlichen Distanz zu meiner eigenen sozialen Rolle bin und zum andern, dass ich an diesem besagten Oktobermorgen schlechte Laune hatte. Wenigstens auf dem Weg zur Universität. Die gute Reinhild, seit mehr als zwanzig Jahren meine Ehefrau, hatte auf dem Bücherbrett unserer Tochter einen Haufen Aufklärungsschriften gefunden (Die Liebesvereinigung in Wort und Bild, Ekstasen der Liebe, Triebe unter dunkler Haut) und den ganzen Sonntag über studiert. Nun, auch unter der Sahara soll es ja frisches Wasser geben. Kurzum, Reinhild hatte plötzlich ihre Das-haben-wir-endlich-hinter-uns-Philosophie vergessen und abends im Bett von mir Dinge verlangt, zu deren Ausführung mich ihre verblichenen Reize ansonsten höchstens einmal alle vierzehn Tage verleiten konnten. Aber mein Heisch war so schwach geblieben, wie ihres geworden war.
Erst als ich meinen perlgrauen Mercedes 220 SE vor dem lang gestreckten Fakultätsgebäude geparkt hatte und die paar Stufen zu unserem Institut hinaufgestiegen war, fand ich zum inneren Frieden zurück. Fräulein Blau nämlich – unsere frisch aus dem Urlaub zurückgekehrte blonde Sekretärin – saß rauchend auf dem Schreibtisch, und das, was der Anblick ihrer kaum verhüllten Schenkel in mir – oder besser: an mir – auslöste, schwemmte alle geheimen Ängste fort.
„Guten Morgen, mein schönes Kind“, sagte ich und küsste ihr in alter Ballhausmanier die Hand.
„Einen wunderschönen guten Morgen“, erwiderte Beate Blau. Sie legte Wert auf einen neckisch-gebildeten Plauderton, schließlich hatte sie die mittlere Reife. Möglicherweise war sie Nymphomanin, jedenfalls verfügte sie über eine stattliche Schar potenter Freunde und bemühte sich tagtäglich, auch mich zum Mittel ihrer ureigensten Lustmaximierung zu machen, aber es war mir bisher immer gelungen, mich zu beherrschen. Irgendwann hatte man mir eingehämmert, dass man so etwas nicht tut, dass das einfach nicht geht. Ich, ein weltbekannter Wissenschaftler, überall wegen meines unbestechlichen, durchdringenden Verstandes gepriesen, ich fürchtete, im Falle eines Falles von einem Gott verdammt zu werden, an den ich offiziell gar nicht glaubte. Außerdem hatte ich Angst. Angst vor IHM, Angst vor ihr, dass ich ihren hohen Ansprüchen nicht genügen würde, Angst vor Reinhilds Tränen, Angst vor dem Spott meiner hellsichtigen Tochter, Angst vor dem Getuschel der Studenten und vor allem Angst davor, dass es zu einem Skandal kommen könnte, der meiner politischen Karriere zumindest nicht förderlich wäre. Meine Partei schätzte solche Sachen nicht.
Mögen die folgenden Zeilen, und nicht nur sie, auch ein wenig unter meinem Niveau liegen, so muss ich die Szene mit Beate Blau dennoch wahrheitsgetreu wiedergeben, denn einmal bin ich als empirischer Soziologe dem sorgfältigen Festhalten aller handlungsrelevanten Faktoren verpflichtet, und zum andern hat sie für das grundsätzliche Verständnis meiner Verhaltensweisen einige wichtige Funktionen. Vielleicht, so scheint es mir manchmal, steckt in mir auch ein Romancier, der das Epische liebt. Somit ist es im Hinblick auf meine Aufzeichnungen nicht weiter verwunderlich, wenn Analysen und Reflexionen immer wieder von der bloßen Deskription des Erlebten unterbrochen werden. Das kann natürlich nicht ohne Stilbrüche abgehen, zu denen es vor allem immer dann zu kommen scheint, wenn es mir beim Niederschreiben meiner Gedanken misslingt, meine Emotionen ganz zu kontrollieren. Wahrscheinlich spielt meine Eitelkeit dabei mit; ich merke schon jetzt, wie sehr mich diese Umstände fortwährend frustrieren und wie schwer die angestrebte Katharsis zu erreichen sein wird.
Nach dieser notwendig gewordenen Anmerkung kann ich nun reineren Gewissens zur Universität und zu Beate Blau zurückkehren.
„Nun, haben Sie ein schönes Wochenende verlebt?“, fragte ich betont distanziert, als hätte ich die picklige Schulfreundin meiner Tochter vor mir.
„Ja, danke ... Gestern war ich tanzen im Palais am Funkturm. Da hab ich ’nen Steuerprüfer kennen gelernt, Diplom-Kaufmann mit ’nem roten Alfa Romeo, wissen Sie, was der mir nach zwei Tänzen vorgeschlagen hat?
„Nein, woher ...“ Ich merkte, wie ich rot wurde. „Ist die Post schon da?“, fragte ich schnell.
Sie warf mir einen resignierenden Blick zu, ließ sich vom Schreibtisch herabgleiten, strich sich Loreley-Haar und Boutique-Kleidung glatt und drückte mir einen gefüllten Aktendeckel in die feucht gewordene Hand. Ich verschwand dankend in meinem Zimmer.
Picassos Frau mit Haarnetz schaute mir schwarz-grün vom Fünf-Mark-Hertie-Druck entgegen. Am liebsten hätte ich ihr den jadegrünen Stein ins Gesicht geworfen, den ich mir im vergangenen Jahr aus Rhodos mitgebracht hatte. Ich empfand eine furchtbare Wut gegen etwas, das sich nicht fassen, nicht denken ließ. Es ist natürlich Unsinn, zu behaupten, ich hätte geahnt, was an diesem Tag auf mich zukommen würde.
Ich öffnete das Fenster, blickte einige Sekunden lang auf den mit Schieferplatten belegten Weg hinunter, der sich von der Mensa zum Henry-Ford-Bau schlängelte, musterte die vorüberziehenden Studierenden, vor allem die weiblichen, und genoss es, dieses prestige- und geldlose Stadium hinter mir zu haben. Obwohl ich mich dagegen wehrte, spürte ich wie immer den Widerwillen gegen diesen disziplinlosen Haufen, der mir alles nehmen wollte, was ich mir mühsam aufgebaut hatte, der meine Thesen und Theorien höhnisch kritisierte und verwarf, der alles besser wusste. Und dabei hatte ich ihnen selbst die Munition geliefert und oftmals mit ihnen hinter den Barrikaden gelegen. Das war es ja, was mich so entnervte: mit dem Verstand war ich auf ihrer Seite, doch meine Gefühle ihnen gegenüber waren voller Abscheu und Aggression. Der Geist, den mir mein Vater, der Oberst Robert W. Kolczyk, jahrelang eingeimpft hatte, ließ sich so leicht nicht abtöten.
Ich schreibe das vor allem, um mir selbst über manche Motive meines Handelns klar zu werden. Vielleicht gibt es auch Tiefenpsychologen und andere kluge Leute, die diese Aufzeichnungen einmal analysieren und meiner Frau, meiner Tochter und meinen Freunden klarmachen, wer ich war und warum ich so war. Ich hasse philosophisches Geschwafel, dem ich oft nicht entgehen kann, aber in meinen privaten Aufzeichnungen nehme ich mir das Recht, so zu schreiben, wie ich meiner Herkunft nach empfinde.
Zuerst las ich mir die diversen Flugblätter durch, die mir die blaue Beate, wie man sie privat – mitunter recht treffend – nennt, liebenswürdigerweise zusammengetragen hatte. Ich verfluchte diesen und jenen und wandte mich dann den Vorschlägen zu, die von studentischer Seite zur Reform unseres Instituts erarbeitet worden waren. Doch schon kurz darauf klopfte Beatchen, stieß die glatte graue Tür auf und schleppte ein ziemlich schweres Paket herein.
„Die Belegexemplare vom Verlag ...!“, schnaufte sie.
Ich ging ihr schnell entgegen und nahm ihr den Packen aus der Hand. Mein neues Buch, endlich! Gemeinsam wickelten wir das erste Exemplar aus. Ich war so aufgeregt wie Weihnachten 1933, als mir meine Eltern die erste elektrische Eisenbahn geschenkt hatten. Der letzte Bogen glitt auf den Fußboden hinunter, ich hielt das Buch mit ausgestreckten Armen. Es muss so ausgesehen haben, als würde ich meinen erstgeborenen Sohn in Empfang nehmen.
Rüdiger Kolczyk
Thesen über den Zerfall sozialer Systeme
Ein schmucker orangefarbener Umschlag, schwarze Lettern. Ich freute mich unbändig. In diesem Buch steckten drei Jahre harter Arbeit. Alles sprach dafür, dass es ein soziologischer Bestseller werden würde. Ich sah sie alle, Scharen von Professoren und Studenten in allen Ländern der Erde, wie sie meine Thesen diskutierten, wie sie mich zu verstehen suchten.
Kolczyk, Kolczyk, Kolczyk! Auf den nächsten Weltkongressen für Soziologie würden sie meinen Namen flüstern, mir nachblicken, das Gespräch mit mir suchen. Mehr noch als bisher. All die Götter unserer Wissenschaft, angefangen bei Talcott Parsons. Ein Ruf, ein attraktiver Lehrstuhl war mir sicher. Ich war süchtig, süchtig danach, groß und außergewöhnlich zu sein und die Welt zu verändern. Das klingt alles so banal, so stümperhaft formuliert, aber ich schreibe ja kein Buch, um der Prophet für die Millionen Suchender zu werden, sondern kritzle ein paar Hundert schäbiger Blätter voll, um für mich selber Bilanz zu ziehen.
Kurzum, in dem Augenblick, wo ich dieses Buch aus dem Packpapier schälte, war ich glücklich. Vergangenheit und Zukunft waren voll nie gekannter Harmonie. Die Weichen waren gestellt, wie man so schön zu sagen pflegt. Mit dieser Veröffentlichung musste ich in die erste Reihe der Kronprinzen rücken, musste ich schlechthin die Zukunft meiner Partei werden. Endlich haben wir einen Politiker entdeckt, der uns einen klaren und hoffnungsvollen Weg in das einundzwanzigste Jahrhundert weisen kann! Ich war sicher, dass Bonn mich schon erwartete. Ein Intellektueller mit Charme, mit Popularität, mit Charisma, mit einem ausgeprägten Sinn für Stabilität und Integration und dennoch voll neuer Ideen – das war garantiert die richtige Mischung. Und Freunde hatte ich genug.
Ich ließ Beatchen eine kleine Flasche Sekt aufmachen, sie konnte es so gut, trank mit ihr zwei Gläser und küsste sie dann. Sie ließ mich wieder jung werden, ließ mich jubeln, und beinahe war mein Triumph so total wie damals 1939, als ich meinen ersten Hundert-Meter-Lauf gewonnen hatte und zum Helden der Schule avanciert war.
Immer wieder frage ich mich, welchen Sinn es denn hat, dies alles niederzuschreiben. Wen interessiert es schon? In jeder Sekunde vollenden sich auf diesem Planeten Millionen von Schicksalen – wenn man die alle registrieren wollte! Aber ich schreibe weiter, schreibe, ohne es vielleicht zu wollen, gehorche unbekannten Mechanismen.
Doch zurück zu diesem Oktobertag, an dem sich das erfüllen sollte, was offenbar schon lange in meinem Leben beschlossen lag.
Ich musste mich von Beatchen lösen, musste ihren warmen Körper zurückstoßen, musste die Nirwana Wolke aus kostbaren Hölzern, Chypre, Jasmin und Rosen verlassen, weil es klopfte.
Das ist alles so kitschig, ja, aber soll ich die Wirklichkeit nur deswegen verfälschen, weil sie kitschig ist? Soll ich mich nur deswegen belügen, weil die Wahrheit einer Lüge gleicht? Nein.
In der Tür stand ein untersetzter, aber keineswegs bulliger oder dicklicher junger Mann, den ich im ersten Augenblick recht sympathisch fand. Fr trug einen grauen Anzug, der vor fünf Jahren bei Müller-Wipperfürth oder C & A kaum mehr als hundert Mark gekostet haben konnte, einen leichten Rollkragenpullover und ein Paar ausgetretene schwarze Schuhe. Er lächelte so schüchtern wie ein Lehrling, der mit der attraktiven Frau des Chefs allein im Salon geblieben ist. Zum Friseur hätte er auch mal gehen können. Ich hielt ihn für einen mädchenlosen, möglicherweise homoerotischen Jüngling, der elegische und unverkäufliche Gedichte schrieb und womöglich einer Sekte angehörte, die sich der Errettung des Geistigen und des Harmonischen im Menschen verschrieben hatte. Aber irgendwie mag ich solche Leute. Wahrscheinlich deswegen, weil ich mir in ihrer Nähe immer männlich, erfolgreich, weise und überlegen vorkomme.
„Ist denn jetzt Sprechstunde?“, fragte ich Beate.
„Mal sehen ...“ Sie ordnete ihre frisch gebleichten Haare, blinzelte dem jungen Mann aufmunternd zu und studierte dann die am Schrank hängende Liste, in der die Sprechstunden aller am Institut beschäftigten Dozenten und Assistenten eingetragen waren. „Hm ... Der Raum drüben ist frei ...“
Wir gingen hinüber in das kleine Sprechzimmer, dessen blassgraue Wände durch zwei glasbedeckte Miró-Drucke verschönt wurden. Ein karger Raum, der irgendwie an eine Theaterkulisse erinnerte. Ich setzte mich hinter den Schreibtisch, wohl wissend, dass ich mir damit schon eine gewisse Überlegenheit verschaffte, während mein Besucher, der bisher außer einem mehr gehauchten guten Morgen noch nichts gesagt hatte, mir gegenüber in einem lila bezogenen Sessel Platz nahm. Er schlug die Beine übereinander, und ich konnte deutlich sehen, wie unter seiner rechten Schuhsohle ein großer Flatschen lehmgelben Hundekots klebte. Eine leichte Übelkeit erfasste mich.
„Womit kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich, wobei ich mich bemühte, weder einen herablassenden noch zu betont wohlwollenden Ton anzuschlagen.
„Ja, ich ...“ Er sprach leise, fast so, als fürchte er sich vor seiner eigenen Stimme. Er war sehr nervös. Er spielte mit seinen Fingern, schnippte mit den Nägeln und zerbiss seine Unterlippe.
Um ihn nicht noch mehr zu irritieren, blätterte ich in einer herumliegenden Liste, in der die Teilnehmer aller meiner Seminare und Übungen schön säuberlich verzeichnet waren.
„Habe ich Ihren Namen schon notiert ...?“
Mein seltsamer Besucher blickte mich mit etwas zusammengekniffenen Augen an. Dabei war es in diesem Raum alles andere als gleißend hell. Sekundenlang bewegte er die Lippen, ohne aber einen Ton herauszubringen. Er schien sich irgendwie unschlüssig zu sein.
Schließlich würgte er hervor: „Ich heiße Bernd Ziegenhals ...“
Ich hatte Mühe, ein Lächeln zu verbergen.
„Ziegenhals ist ein kleiner Ort im Süden von Berlin“, erklärte mir mein Besucher, als wollte er für seinen merkwürdigen Namen um Verzeihung bitten. „In der DDR, am Großen Zug ... das ist eine Art See ...“
„Ich weiß“, lächelte ich. „Früher haben wir immer Ausflüge von Zeuthen nach Ziegenhals gemacht ...“
Wir schwiegen beide, irgendwie wurde die Szene bedrückend und unwirklich. Ich musterte Ziegenhals, als sollte ich sein Gesicht fünf Minuten später im Verlauf eines psychologischen Tests möglichst genau auf ein DIN-A4-Blatt nachzeichnen. Zuerst dachte ich, dass er gar keinen dünnen Ziegenhals hatte, sondern eher als stiernackig zu bezeichnen war. Sein Gesicht war breit, slawisch, robust. Sein ungepflegtes dunkles Haar und seine wilden Koteletten verliehen ihm etwas Löwenhaftes, während ihn der schlaffe Schnauzbart eher wie einen melancholischen Bernhardiner wirken ließ. Meine Assoziationen waren eindeutig: Gangster, Clochard, Pflastermaler, asoziales Element, Trunkenbold, LSD-Schlucker, Protestsänger, Radaubruder. Trotz dieser negativen Beurteilung bewunderte ich ihn irgendwie. Vielleicht weil ich selber sauber und adrett, pünktlich und zuverlässig, strebsam und erfolgreich, treu und ehrlich war.
„Tja, ich weiß nicht ...“, druckste Ziegenhals herum. „Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um ... Sehen Sie, Herr Doktor, ich ...“
Hier brach er ab, weil Beatchen mir eine Coca brachte. Ich stellte die Flasche aufs Fensterbrett, verfolgte kurz eine Boeing 727 der PAN AM, die in Richtung Tempelhof zog, und konzentrierte mich dann wieder auf Ziegenhals.
Erst jetzt fiel mir auf, dass er ein akzentfreies Hochdeutsch sprach. Diese Tatsache stand in einem auffälligen Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung. Aber das war ja hier in Dahlem nichts Neues.
In ihrem Schreibzimmer hörte Fräulein Blau Radio DDR. Eine weiche Stimme sang von den Zeigern einer Bahnhofsuhr, die sich „drehn drehn drehn“.
„Vielleicht können wir zur Sache kommen ...“, sagte ich, die gebotene Chance nutzend, und blickte kurz auf meine Armbanduhr.
„Angefangen hat es wohl 1951!“, sagte Ziegenhals plötzlich. Seine Stimme war wie verwandelt, ich spürte direkt, dass er sich innerlich einen Ruck gegeben hatte.
„Ich verstehe nicht ...“
„Ich mache das nicht gerne, aber mir bleibt nichts weiter übrig“, fuhr Ziegenhals fort, wieder etwas zaghafter.
„Nun kommen Sie doch endlich zum Thema!“, drängte ich ärgerlich. Ich vermutete in Ziegenhals einen verschrobenen Linken, der mir auf diese Art seinen Glauben nahe bringen wollte. 1951 – was war da alles gewesen? Ich überlegte, um wirksam kontern zu können. Frieden von San Francisco mit Japan, Korea-Krieg, Bildung der Montan-Union in Luxemburg – worauf wollte Ziegenhals hinaus?
„Ein Freund von mir studiert Soziologie“, begann Ziegenhals erneut und zündete sich eine Gauloise an. Umständlich ließ er die Streichholzschachtel in seinem schäbigen Jackett verschwinden und warf das Streichholz neben den Aschenbecher auf den Tisch. Es rauchte noch einige Sekunden. Typisch, dachte ich. Draußen hämmerte Beate auf ihre Schreibmaschine ein. Eine wärmebedürftige Mücke zwängte sich ins Zimmer und umschwirrte Ziegenhals. Er griff sie mit seiner linken Hand, zerdrückte sie und wischte sie am Hosenbein ab.
„Sie nicht?“, fragte ich ziemlich ratlos.
„Nein, seit einiger Zeit nicht mehr ... Aber gelegentlich helfe ich einem Freund von mir ...“
Er stotterte keineswegs, er sprach nur etwas schleppend. Seine blassblauen Augen blickten glanzlos und traurig.
„Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll ...“, murmelte Ziegenhals.
Mein Gott, was wollte denn dieser verklemmte Mensch bei mir? Ich war schon versucht, ihn einfach hinauszuwerfen.
„Möchten Sie vielleicht meine Übung besuchen?“, fragte ich ungeduldig.
„Ja ... Das heißt, nein ...“
„Dann dreht es sich also um Ihren Freund“, fragte ich recht mürrisch, weil es mich irritierte, dass er sich ungeniert ein langes schwarzes Haar aus seiner relativ kleinen und scharf geschnittenen Nase riss.
Ziegenhals blickte aus dem Fenster und verzog die Stirn zu einem hässlichen Waschbrett. „Ja, schon ... Er hat den Sommer in Amerika verbracht ... Ein Stipendium an der Duke University in Durham, North Carolina ...“
Ich lächelte – und ahnte noch immer nichts. „Da bin ich auch mal ein Jahr gewesen – März 1950 bis Februar 1951 ...“
„Na sehen Sie!“ Irgendwie schien er erleichtert zu sein. „Mein Freund hat ... ja, er hat sich die Fotokopien eines längeren Aufsatzes, eines kleinen Buches mitgebracht ... Einer Arbeit aus dem Jahre 1949 ... Der Autor heißt Charles Emery!“ Den letzten Satz hatte er herausgestoßen, als hätte er beim Verspeisen eines Honigbrots auf eine Wespe gebissen.
Ich starrte ihn an, gelähmt, im Innersten getroffen. Es schien mir, als wäre ich eine der hölzernen Figuren, die man auf den Rummelplätzen findet und die nach hinten klappen, wenn man mit dem Ball eine ganz bestimmte Stelle trifft. Und Ziegenhals hatte diese Stelle getroffen! Ich sah Särge, Urnen, Kränze, Stricke, vorbeirasende Bahnen, weinende Frauen, höhnische Freunde, barsche Richter, sah mich nackt Spießruten laufen, sah feuchte Gefängniszellen.
Jetzt war Ziegenhals Herr der Lage; ja, er schien sich direkt an meinem Entsetzen zu weiden.
„Charles Emery hat eine Arbeit mit dem Titel ‚Social Change in Pattons Landing> verfasst, und Sie, Herr Kolczyk, haben diese Arbeit hier an der EU unter dem Titel ‚Ein amerikanisches Dorf im Spannungsfeld industrieller Entwicklung> als Dissertation vorgelegt – wortwörtlich übersetzt!“ Ziegenhals holte Luft. „Ein Zufall ... Vor mir hat es kein Mensch gemerkt, und nach mir wird es keiner mehr merken – aber ich habe es gemerkt!“
Ich kannte den Text der Promotions-Ordnung auswendig. „Der Doktorgrad kann nach Maßgabe des Gesetzes über die Führung akademischer Grade ... entzogen werden, wenn sich herausstellt, dass er durch Täuschung erworben ist ...“ Aber das war ja nicht das Schlimmste, das Schlimmste war der Skandal, der folgen würde.
Was denkt man in solchen Minuten? Erschreckend wenig in erschreckend kindlicher Art und Weise. Aus, aus, alles aus! Und dann will man wieder Kind sein, will die Gewissheit haben, dass alles nicht so schlimm ist und Vater oder Mutter die Sache schon wieder gerade biegen werden. Bis du heiratest, ist alles vorbei! Bei mir setzte der Prozess der Regression überraschend schnell ein. Ich biss mir, was ich als Kind oft getan hatte, die Haut um den rechten Daumen herum so weit ab, dass es blutete. Das konnte doch nicht wahr sein, das durfte doch nicht wahr sein! Also war es auch nicht wahr ...
Ich sah Reinhild vor mir, die ich einmal geliebt hatte und deretwegen alles so gekommen war. Wäre ich ihr doch nie begegnet, dachte ich, hätte ich mich doch bloß rechtzeitig von ihr getrennt! Mein Gott, warum musste man denn noch zwanzig Jahre später für etwas büßen, das man aus Liebe und aus Mitleid getan hatte!
Wir waren aus Amerika zurückgekommen, und es war uns immer schlechter gegangen. Mitte 1951 war Reinhild dann ganz plötzlich erkrankt, aus einer Lungenentzündung war eine schwere Tbc geworden, und ich hatte mich gezwungen gesehen, mein Studium so schnell wie möglich zu beenden, um Geld zu verdienen und Reinhild einen längeren Sanatoriumsaufenthalt ermöglichen zu können. In meiner Not, und um nicht alles zu verlieren, hatte ich schließlich schweren Herzens die fragliche Arbeit aus dem Amerikanischen übersetzt und als eigene Dissertation abgeliefert ...
Reinhild war wieder gesund geworden, indes, wir verstanden uns schon lange nicht mehr, und nun sollte ich einen so entsetzlichen hohen Preis für mein damaliges Handeln zahlen.
Nein, das durfte nicht sein!
Ziegenhals hörte auf, mich zu mustern, offenbar wollte er verhindern, dass ich wütend wurde und eine Kurzschlusshandlung beging. Er sah den dunkelgrünen dtv Atlas zur Biologie auf meinem Schreibtisch liegen, zog ihn zu sich herüber, schlug kurz im Register nach und las dann mit der monoton sachlichen Stimme eines Nachrichtensprechers.
„Parasitismus – in Klammern: Schmarotzertum ... Ein Lebewesen zehrt vom anderen, wobei dieses nicht oder erst nach geraumer Zeit getötet wird. Diese Art des Zusammenlebens tritt in vielen Formen auf ...“
Langsam zwang ich mich dazu, das zu tun, was allgemein mit „den Tatsachen ins Auge sehen“ bezeichnet wird. Hatte ich zuerst die Realität verdrängen wollen, so ging ich nun zur Taktik des bedrohten Käfers über, ich wollte nichts weiter als Zeit gewinnen. Ich war ein hoch intelligenter Mensch – mein Gott, sollte es da keine Möglichkeit geben, diesen schmutzigen Parasiten loszuwerden!
Plötzlich fand ich diese Szene lustig, direkt vergnüglich. Mein eigenes Unglück erheiterte mich. Wenn das hier alles zu einem Theaterstück gehörte, dachte ich mir, was würde der Autor dann tun, wenn er mich als positiven Helden vorgesehen hätte? Rasen, schnaufen, toben, drohen durfte ich auf gar keinen Fall. Ich musste gelassen bleiben, weise und gelassen ... Was würde es mir schon ausmachen, ein paar tausend Mark zu zahlen. Und oft entwickelte sich ja zwischen dem Parasiten und dem Wirt eine Art Symbiose, und vielleicht konnte ich mich auch mit diesem dreimal verfluchten Ziegenhals irgendwie arrangieren. Leben und leben lassen! Offenbar war er intelligent genug, um zu begreifen, dass er in seinen Forderungen nur bis zu einer bestimmten Grenze gehen konnte, wenn er seinen Plan nicht gefährden wollte. Wenn er zu hoch spielte, musste er ja damit rechnen, dass ich aufgab und zur Polizei lief.
„Was verlangen Sie denn?“
„Ich freue mich, dass Sie vernünftig geblieben sind. Das erleichtert vieles ...“
„Das könnte sich ändern ...“
Er lächelte. „Damit rechne ich natürlich.“
„Haben Sie das wirklich nötig, Herr Ziegenhals?
„Lassen wir die Moral, Sie sind ja sonst immer so stolz auf die Logik und die Rationalität in Ihrem Denken. Vielleicht können Sie mich verstehen ... Versetzen Sie sich mal in meine Lage, üben Sie sich mal in der Introspektion ... Sie merken schon, dass ich mich in Ihrem Kauderwelsch – Pardon: Ihrer Terminologie ein wenig auskenne. Ich bin zum Parasiten geboren. Ohne Ihr Geld würde ich zeitlebens ein armes Schwein bleiben, das sich sein täglich Brot mit seiner Hände Arbeit verdienen müsste. Eine herrliche Phrase! Ich habe aber weder Veranlagung noch Lust dazu. Ich hasse Chefs und Autoritätspersonen, ich gehe eher zugrunde, als dass ich Befehlsempfänger werde. Ich habe jedoch, das werden Sie verstehen, keine Lust, zugrunde zu gehen. Und ich habe auch keine Lust, Tag für Tag als so genannter Selbstständiger zu schuften, Curry-Würste oder Hosenträger zu verkaufen. Ich habe eben, um es mit Ihren Worten zu sagen, die mittelständischen Werte nicht genügend internalisiert ... Aber auf der anderen Seite will ich das Leben in vollen Zügen genießen!“
Langsam begriff ich, dass Ziegenhals ein viel gefährlicherer Gegner war, als ich im ersten Augenblick angenommen hatte. Das Gefühl der Überlegenheit, das mich trotz meiner ungünstigen Lage noch immer nicht verlassen hatte, wich einer Welle von Angst und Resignation. Dieser Mensch würde mir ein Leben lang folgen, und nun hatte ich neben dem physischen Tod noch einen anderen zu fürchten, den gesellschaftlichen. Und der war schlimmer, weil nach ihm statt der Ruhe eine wirkliche Hölle kam. Schlagartig war ich mir bewusst, dass ich diesem Mann von nun an auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Plötzlich spürte ich Hass in mir aufsteigen, einen wilden, primitiven Hass. Alles in mir schrie: Schlag ihn tot, schaff ihn beiseite, bring ihn um!
„Ich hasse Sie genauso wie Sie mich“, sagte Ziegenhals beschwörend. „Und das muss sich ja schließlich einmal neutralisieren.“
Ich fiel auf meinen Stuhl zurück, mein Blutdruck musste die Zweihundertgrenze erreicht haben, meine Gallenblase schmerzte, als hätte man mir einen Nagel hineingetrieben. Meine Hände krampften sich um die Tischplatte.
Ziegenhals rührte sich nicht. Er wusste genau, dass das der entscheidende Augenblick war. Wenn mir jetzt die Nerven durchgingen und ich ihn hinauswarf und zum Telefon griff, dann hatten wir beide verloren.
Schon revoltierte mein Darm, der übliche Durchfall, wenn ich mich aufrege. Ich sprang auf, Ziegenhals rutschte mit seinem Sessel nach hinten an die Wand. Unwillkürlich duckte er sich. Er war bleich geworden.
Doch ich stürzte an ihm vorbei, riss die Tür auf und lief den Flur hinunter. Zum Glück stand die Toilette, die dem Lehrpersonal vorbehalten ist, sperrangelweit offen.
Dieser Zwischenfall gab mir Zeit, mich wieder zu sammeln.
Als ich mir dann mit eiskaltem Wasser das Gesicht abwusch, war ich wieder um einige Grade zuversichtlicher. All the world’s a stage and the men and women merely players ... Nun gut, dann würde ich eben eine neue Rolle spielen, die des Erpressten. Und wer sagte denn, dass ich es war, der die Partie schließlich verlor?
Als ich in mein Büro zurückging, hoffte ich dennoch im Stillen, dass Ziegenhals verschwunden sein möge. Warum konnte es denn kein Traum sein?
Aber er saß noch da, breit und selbstgefällig wie ein Buddha. Er wusste, dass er gewonnen hatte. Ich blieb am Fenster stehen und blickte den Mädchen hinterher, hohe bunte Stiefel und kurze Röcke, ein Bild, das mich immer wieder faszinierte, berauschte, erregte. Das war schön. Und es würde auch noch schön sein, wenn ich Herrn Ziegenhals gelegentlich einen mehr oder minder großen Betrag zu überweisen hatte.
„Was verlangen Sie?“, fragte ich scharf, schnauzte ihn beinahe an wie einen Bittsteller.
„5000 Mark sofort ... Sozusagen die Eintrittsgebühren in unsere Symbiose ... Und dann 1000 Mark monatlich, pünktlich auf ein Konto, das ich Ihnen noch nennen werde. Kleine Fische für Sie ...“
Ich schluckte und presste meine Hand auf die Gallengegend. Aber auch in der linken Seite verspürte ich heftige Stiche. Ich verfluchte ihn, alles in mir empörte sich. Ich musste mich gegen die Wand lehnen. Das Gefühl der Ohnmacht mischte sich mit einem ins Unendliche wachsenden Hass. Ich schwöre dir, dass ich dich zur Strecke bringe, dass ich dich fertig mache! Du wirst noch einmal alles bereuen, du wirst diesen Tag noch verfluchen!
Ich sah ihn vor dem Richter stehen, sah seinen Kopf in einer Schlinge stecken, sah ein Dutzend Messer in seinen Körper dringen, sah ihn in meinem Würgegriff röcheln. Und diese Bilder halfen mir, ließen mich die Fassung behalten, das Gesicht wahren. Kommt Zeit, kommt Rat. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Noch ist Polen nicht verloren. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Ich konnte nur noch in stereotypen Formeln denken. Aber sie waren tröstlich. So hatte ich dann die Kraft, mich zu beugen.
„Einverstanden ... Und wie lange soll das so gehen?“ „Bis Ihr Ehrgeiz erkaltet ist und Sie zur Polizei gehen könnten ...“
„Das kann bis zum Jahre zweitausend dauern!“
„Na und ...?“
„Bis dahin, mein Lieber, wird aber einer von uns beiden auf der Strecke geblieben sein! Darauf können Sie Gift nehmen.“