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5. Kapitel
ОглавлениеBetr.: Bernd Ziegenhals.
Anlage zum psychiatrischen Gutachten. Abschrift des Tonbandes 3/2.
Locker assoziierende Selbstdarstellung des Probanden. Vom Autor überarbeitet.
Immer wenn ich mich zu Ihnen setze, um Ihnen das zu erzählen, was mich bewegt, habe ich das Bild eines riesigen Staudamms vor mir. Ich will so viel sagen, so viel erklären, so viel offenbaren, aber meine schnelle Ermüdung und mein Unvermögen, Gedanken und Gefühle präzise in Worte zu fassen, lassen vom Aufgestauten nur wenig abfließen. Dazu kommt, dass mir eine schöne Formulierung mitunter mehr wert ist als eine Aussage, die mich zugleich entlasten und innerlich befreien könnte.
Ein paar Bücher hat man mir wohlwollenderweise gelassen, und ich habe heute Morgen gerade eine Zeile von Francois Villon entdeckt, die mir als eine hübsche Einleitung erscheint: Nur wer im Wohlstand lebt, hat’s gut auf dieser Welt!
Damit hat er mir aus der Seele gesprochen. Aber nun zur Sache. Kolczyk hatte keinen Tag mit seiner Überweisung gezögert, und kaum hatte ich mir ein Konto bei der Berliner Bank einrichten lassen, da zierte auch schon die Zahl 6000,00 die Spalte für den Guthabensaldo. Ein Anblick, der mich berauschte. Das war Geld, damit konnte man ein neues Leben beginnen oder wenigstens das alte auf einer höheren Ebene fortsetzen.
Nachdem ich mir einen Anzug, Schuhe und ein paar Hemden gekauft und zur Feier des neuen Lebensabschnitts einen Friseur aufgesucht hatte, war ich etwa eine Woche lang in Berlin umhergezogen, um nach einer Wohnung zu suchen. Schließlich hatte ich mir bei Muttchen Braatz in der Grunewaldstraße zwei Zimmer mit Küche und Bad gemietet.
Die Grunewaldstraße führt in leichtem Bogen vom alten Steglitzer Rathaus zum Botanischen Garten hinauf und wird von zwei bis dreistöckigen, meist recht ansehnlichen Villen gesäumt. Wer hier wohnt, darf getrost die Nase etwas höher tragen.
Ich schlief jeden Morgen bis neun, halb zehn. Dann polterte Mr. John A. Cloward aus Boston, der mit mir die zweite Etage bewohnte, die ausgetretene Treppe hinunter und wurde unten von Muttchen Braatz begrüßt.
„Vorsicht, Herr Klowart, um Gottes willen: Vorsicht!“, kreischte die alte Dame. Sie konnte kein Englisch und sprach den Namen des ehrbaren Journalisten so aus, dass ich ihm automatisch die Reinigung unserer gemeinsamen Toilette übertrug.
Nach dem Erwachen blieb ich stets ein paar Minuten auf dem Bettrand sitzen und blickte befriedigt aus dem Fenster. Keine abgeblätterten Fassaden mehr, keine rohen Ziegel, keine schmutzigen Fensterscheiben mehr, hinter denen aufgeschwemmte Gesichter auf Sensationen lauerten, dafür weiße Birkenstämme und anmutige Lärchen, Tannen wie aus einem Bilderbuch und dahinter rostrote Dächer, Wolken und Himmel und Meisen, die aufs Fensterbrett flogen. Mit anderen Worten – die perfekten Kulissen für ein glückliches Leben.
Dann frühstückte ich – ein Frühstück wie aus einem Werbespot für die Produkte deutscher Lande: ein Ei, ein Brötchen mit Honig, eine Schrippe mit fingerdickem Schinken, zwei Tassen Kaffee, ein Glas Orangensaft und zum Abschluss die erste Zigarette. Vor einer Woche wäre ich noch froh gewesen, wenn mir Opa Melzer einen zerfließenden Harzer Käse geschenkt oder Miezi mich zu einem Stück Knäckebrot eingeladen hätte.
So genoss ich also mein neues Leben und war so zufrieden wie ein kleiner Geschäftsmann, der durch eigener Hände Arbeit zu einigem Wohlstand gekommen war.
Es war an einem Donnerstag, als mich Muttchen Braatz unten in der ersten Etage abfing. Sie stand an der Treppe und hielt mir ihren schwarzen Krückstock wie einen Schrankenbalken vor die Nase. Zumindest von der Figur her war die alte Dame ein Original. An sich war sie klein und zierlich, hatte aber einen ungeheuren Bauch. Sie erinnerte mich an das Apfelmännchen, das Opa Melzer voriges Jahr zu Weihnachten für Miezi und mich gebastelt hatte: ein großer roter Apfel mit Streichholzärmchen und Streichholzbeinchen und einer bemalten Nuss als Kopf.
„Schon ausgeschlafen, Herr Ziegenhals?“
„Hm ... Was man so ausschlafen nennt ...“ Mich fröstelte; ich schloss den Knopf meines Hemdes und rieb mir die Hände.
Sie schmunzelte. „Es friert im wärmsten Rock der Säufer und der ...“
„So schlimm war’s nun auch wieder nicht!“ Ich fixierte sie mit brennenden Augen. „Elf schon?“
„Ja, man soll’s nicht für möglich halten.“ Nun sah sie mich doch missbilligend an. „Sie führen ein Leben wie Gott in Frankreich.“
„Ja, wenn man glücklicher Erbe ist.“ Ich hatte ihr erzählt, dass mein Onkel mir ein hübsches Sümmchen hinterlassen hatte. „Aber um Sie zu beruhigen: Nächste Woche fange ich an zu studieren ...“
„Wird ja auch langsam Zeit ...“ Sie überlegte einen Augenblick. „Haben Sie übrigens schon meinen Piepsi gesehen?“
„Nein, aber ...“ Ich strebte zur Tür, denn ich hatte keine Lust, in meinem verkaterten Zustand einen weiteren Spross der aufstrebenden Familie Braatz kennenzulernen, sechs schon besichtigte Enkelkinder mit mehr oder minder putzigen Kosenamen reichten mir.
„Er ist erst zwei Monate alt und kann schon sprechen!“
Sie war ganz aus dem Häuschen. „Kommen Sie, kommen Sie, er sitzt gerade auf der Gardinenstange!“
Ich gab nach, um das Braatz'sche Wunderkind zu besichtigen. Zu meiner Überraschung war Piepsi kein rosiges Baby, sondern ein bläulicher Wellensittich. Auf den schrillen Pfiff der alten Dame hin kam er heruntergeflogen und ließ sich auf ihrem ausgestreckten Zeigefinger nieder. Sie küsste sein glänzendes Gefieder. „Ist er nicht ein goldiges Geschöpf?“
Nachdem das goldige Geschöpf mehrere weiße Kleckse im Zimmer verteilt hatte, wurde es in ein altertümliches Bauer gesperrt, das auf der polierten Platte des Nähtischs stand.
Das Zimmer von Muttchen Braatz war ein wahres Museum, nur roch es hier nicht so gut wie dort.
„Können Sie Mensch ärgere dich nicht spielen?“, fragte sie ein wenig verschämt, aber trotzdem in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
„Ja ...“ Diese Fähigkeit ließ sich nun wirklich nicht leugnen – trotz meines Brummschädels. Außerdem faszinierte mich ihr Gesicht, und ich hatte wirklich den Wunsch zu bleiben. Sie hätte den großen alten Damen des deutschen Theaters jederzeit Konkurrenz machen können. Sie war zugleich gütig und herzlos, milde und herrschsüchtig, freigebig und geizig, ehrlich und verschlagen, weise und verbohrt. Und das alles spiegelte sich in ihrem bleichen, runden Gesicht, in dem die herabhängenden Hamsterbäckchen ebenso auffielen wie die veilchenblauen Augen und die für ihr Alter, vierundsiebzig war sie, immer noch verblüffend roten Lippen.
„Dann setzen Sie sich man ...“ Sie nahm Brett, Würfelbecher und Steine vom Büfett.
„Gern ...“ Irgendwie war ich froh, dass sie mich zum Spielen einlud. Man sah es mir also nicht an, dass ich ein schmutziger Erpresser, ein Verbrecher war.
„Ich setze 50 Pfennig ein, für den Sieger ...“, erklärte sie kichernd.
Wir spielten anderthalb Stunden lang, und sie mogelte so geschickt, dass sie von vier Runden drei gewann. Hocherfreut ließ sie ihren Fünfziger ins Portemonnaie zurückgleiten.
„Bubenanlegen spielte ich noch lieber als Mensch ärgere dich nicht ... Oh, es klingelt!“ Sie drückte mich auf meinen Stuhl zurück und eilte stöhnend zur Tür. „Ah, Mathias, mein Junge!“
Wie jeden Mittag war ihr ältester Enkel erschienen, um ihr die Zeitung und einige Lebensmittel zu bringen. Sie fragte ihn kurz über die häuslichen Vorkommnisse aus, schenkte ihm dann eine Mark und entließ ihn schließlich mit einem feuchten Küsschen.
Wieder im Zimmer legte sie die Zeitung auf den Nähtisch und griff zu ihrem vergoldeten Lorgnon. „Da haben sie doch wieder einen Satelliten hoch geschossen ... Was Menschengeist so vermag! Und hier, nein, das ist ja schrecklich ...“
„Was ist denn passiert ...?“
„Frauenmord in Kreuzberg!“, las sie stockend. „Heute früh gegen sieben Uhr wurde im Keller des Hauses Naunynstraße 137 die 32jährige Prostituierte Marianne Ihlow tot aufgefunden. Ersten Ermittlungen zufolge ist sie erwürgt worden. Nach Auskunft der Kriminalpolizei muss das Verbrechen gestern Abend gegen zweiundzwanzig Uhr verübt worden sein. Ein Mieter, der in den Keller gegangen war, um sein Fahrrad ... Mein Gott, was haben Sie denn?“
Ich war aufgesprungen. Miezi, die Miezi von nebenan, meine Miezi! Das durfte doch nicht wahr sein! Ermordet, mein Gott!
Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, wurde mir noch viel flauer im Magen. Ich stand jetzt neben der alten Dame und überflog den Bericht. Natürlich, sie hatten den Mörder noch nicht gefunden. Im selben Augenblick wurde mir klar, dass ich mit Sicherheit auch zum Kreis der Tatverdächtigen gehören musste. Auch das noch! Sie würden mich unter die Lupe nehmen, mich ausquetschen, stundenlang. Sie haben also intime Beziehungen zu der Ermordeten unterhalten ... Nun geben Sie doch endlich zu, dass Sie sich Geld von Miezi geborgt hatten, viel Geld, und dass Sie das Mädchen ermordet haben, als sie es zurückverlangte.
„Kannten Sie denn die ... die ...“ Sie brachte das Wort nicht über die Lippen.
„Ja, ich hab mal im selben Haus mit ihr gewohnt.“ Es hatte keinen Zweck, das abzustreiten.
Sie musterte mich mit einem misstrauischen Blick, unterließ aber die spitzen Bemerkungen, die ihr bestimmt auf der Zunge lagen. Ich bemühte mich um ein Vertrauen erweckendes Lächeln. Offenbar überlegte sie fieberhaft, ob sie die Polizei benachrichtigen sollte oder nicht. Es war ein beklemmendes Gefühl, für einen Mörder gehalten zu werden, das heißt, so weit waren Muttchen Braatz’ Gedanken noch gar nicht gegangen, sonst wäre sie nicht so ruhig sitzen geblieben. Mit ein paar hastigen Worten, an die ich mich heute nicht mehr erinnern kann, verabschiedete ich mich von ihr und zog die Tür hinter mir zu.
Oben in meinem Zimmer stürzte ich erst einmal einen doppelten Whisky hinunter. Es dauerte Minuten, bis ich wieder aktionsfähig war.
Ich griff zum Telefon – glücklicherweise hatte mir mein Vorgänger seinen Anschluss überlassen – und wählte die Nummer 7 69 01.
„Freie Universität Berlin ...“
„Bitte Herrn Dr. Kolczyk ...“
Es vergingen zehn, fünfzehn Sekunden, dann hörte ich seine klare, vielleicht etwas zu helle Stimme.
„Ja, Kolczyk ...“
„Hier Ziegenhals. Guten Tag. Haben Sie schon die Nachtdepescbe gelesen?“
„Nein. Wieso?“
„Miezi Ihlow ist ermordet worden, das Mädchen, das in der Naunynstraße neben mir gewohnt hat ...“
Das muss ich Kolczyk zugestehen, der Bursche schaltete enorm schnell. Er stellte keine Rückfragen, sondern setzte seinen Denkapparat in Bewegung, und zwar so lange, dass ich unruhig nachfragte: „Hallo, sind Sie noch da ...?“
„Ja, natürlich! Das ist eine höchst fatale Sache. Haben Sie wenigstens ein Alibi?“
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. „Ja, sicher ...“ Aber so sicher war ich da nicht.
„Hm ...“ Viel schien ihm nicht einzufallen.
„Die Polizei wird todsicher bei mir auftauchen – im Haus weiß doch jeder, wie wir zueinander gestanden haben, ich meine, dass sie mir ab und zu mit Geld ausgeholfen hat. Wenn die von meinem Konto und meinem neuen Reichtum Wind kriegen, dann ist es Sense für mich. Wenn ich Glück habe, glauben sie mir, ich hätte Miezi das Geld geklaut – viel wahrscheinlicher aber werden sie sich einbilden, sie habe mir das Geld geborgt und es plötzlich zurückhaben wollen, als ich weggezogen bin! Sie hatte ja auch ’ne ganze Menge Ersparnisse. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu sagen, dass ich das Geld von Ihnen habe!“
Ich hörte, wie Kolczyk schluckte. „Das ist doch Wahnsinn!“
„Soll ich vielleicht sagen, ich hätte’s auf der Straße gefunden oder im Lotto gewonnen?“ Ich verstellte meine Stimme und schnarrte wie ein preußischer Leutnant. „Na bravo, Ziegenhals, dann zeigen Sie uns doch mal den Lottoschein!“
„Ja, ja, das sehe ich ein, dass das nicht geht ...“
„Na bitte! Wir müssen uns jetzt unbedingt darüber einig werden, was wir der Polizei erzählen. Ja, ganz richtig – wir. Wie wär’s mit Folgendem?“ Ich habe früher bei Ihnen studiert, und Sie halten mich für einen klugen Kopf, darum haben Sie mir kürzlich Geld geborgt. Sie können nicht zulassen, dass ein viel versprechender junger Mann wie ich als Obersekretär in der Städtischen Friedhofsverwaltung landet. Leisten können Sie sich’s ja, den Mäzen zu spielen. Außerdem bezahlen Sie mich dafür, dass ich Ihnen das Material für Ihr neues Buch zusammentrage, sagen wir ... äh ... Kriminalität als gesellschaftliches Phänomen. Ich bin also quasi Ihr Privatsekretär ... Was meinen Sie, können wir’s so machen?“
„Es bleibt mir wohl nichts weiter übrig. Wenn Sie hängen, das heißt, lebenslänglich bekommen, dann werden Sie ja schon dafür sorgen, dass ich mitgehangen werde. Crescit animus, quoties cocpti magnitudinem attendit!“ Sein Lachen klang ziemlich verkrampft.
„Da kann ich Ihnen leider nicht folgen ...“
„Es wächst der Mut mit jedem Blicke auf des Unternehmens Größe – Seneca!“ Kolczyk legte auf.
Dass er auf jeglichen Abschiedsritus verzichtete, wunderte mich nicht weiter. Hätte er vielleicht sagen sollen „Vielen Dank für Ihren Anruf“ oder „Nett, dass Sie sich wieder mal an mich erinnert haben?“
Langsam ließ ich den Hörer auf die Gabel sinken und stieß die Luft aus der Lunge. Wenigstens hatte sich Kolczyk nicht auf die Hinterbeine gestellt und Schwierigkeiten gemacht. Natürlich ahnte ich in diesem Augenblick noch nicht, weshalb er mir derart schnell entgegengekommen war.
Miezi, arme Miezi! Ich schluckte eine Spalt-Tablette, warf mich auf meine taubengraue Liege und starrte gegen die Decke. Was mochte man in den Sekunden des Todeskampfes fühlen und denken? Wer war der Mörder? Warum hatte er es getan? War es nicht vielleicht die beste Lösung für sie?
Plötzlich stockte mir der Atem: Sollte ich selber Miezis Mörder sein? Was stand in der Zeitung? Sie musste gegen zweiundzwanzig Uhr ermordet worden sein. zweiundzwanzig Uhr ... Wo war ich gegen zweiundzwanzig Uhr? Das wusste ich beim besten Willen nicht mehr. Bis kurz nach neun hatte ich im Iglu gesessen, einer im Eskimo-Look eingerichteten Bar. Aber dann? Aus – ein schwarzes Loch in meinem Gedächtnis. Ich hatte mich volllaufen lassen, regelrecht volllaufen lassen. Schon im Iglu hatte ich an sich genug gehabt, da war ich an der Theke lang hingeschlagen. Doch dann hatte ich meine Tour weiter fortgesetzt, völlig high. Irgendwann musste ich mich mit irgendjemandem geschlagen haben. Am Morgen waren meine Hände zerkratzt, Fingernägel waren abgebrochen, mein Hemd war zerrissen. Aufgewacht war ich auf einem Hinterhof, keine hundert Meter von meiner alten Behausung entfernt, und dann mit einer Taxe nach Hause gefahren. Ich wusste, dass ich im Bett aggressiv sein konnte, dass ich schon früher im betrunkenen Zustand einiges mit ihr angestellt hatte. Was war in dieser Nacht passiert?
Ich begann zu schwitzen, ich glaube, ich hatte Fieber. Vielleicht hatte ich sie auch aus Mitleid getötet oder aus einem unbewussten Schuldgefühl heraus? Vielleicht hatte ich sie geliebt? Ich hatte das Empfinden, als müsste mir jeden Augenblick der Schädel platzen, als würden alle Erregungskreise meines Großhirns pausenlos irre Impulse aussenden. Wenn das so weiterging, dann musste ich über kurz oder lang in der Klapsmühle landen.
Ich sprang auf und lief im Zimmer umher. Wer konnte sie wirklich getötet haben? Ruhlsdorf, Drognitz, Prötzel? Nein, der auf keinen Fall. Am allerwenigsten Karl-Heinz Prötzel. Der war ja extra aus Hongkong, oder weiß der Kuckuck woher, zurückgekommen, um sich mit Miezi zusammenzutun. Ich hatte ihm gar nicht schnell genug ausziehen können, die Szene stand mir immer noch vor Augen.
Ich hatte gerade den letzten Pappkarton verschnürt, da klopfte es.
„Ja, immer rein, wenn’s kein Schneider is!“ Ich dachte, es sei Opa Melzer.
Aber in der Tür stand Kalli Prötzel, und zwar in voller Schönheit. Er trug eine schwarze Lederjacke und erinnerte mich an einen hungrigen Gorilla.
„Der Olle hat mir jesagt, dette ausziehst, stimmt det?“
„Ja, siehste ja!“
„Man jut, sonst hätt ick dir Beene gemacht! Ich will nämlich hier rin.“
„Wolln wir noch ’n Bier trinken?“ Ich gab mich demütig, wie immer, wenn ich es mit körperlich Überlegenen zu tun habe.
„Nee!“
Ich nahm meinen Karton und den kleinen Koffer, in dem ich früher immer meine Fußballsachen herumgeschleppt hatte, und drückte mich an ihm vorbei.
„Viel Glück dann auch!“, sagte ich noch.
Er stieß mir die Faust ins Kreuz. „Los, schieb ab, komm jut in de Urne!“
Unten auf der Straße war mir dann eingefallen, dass ich einen Teil meiner Manuskripte vergessen hatte. Sie lagen im Bettkasten meiner altertümlichen Couch. Mir war nichts weiter übrig geblieben, als noch einmal in den dritten Stock hinaufzusteigen und zu klingeln, Prötzel hatte geöffnet und mich nach einem kurzen Wortwechsel mit einem kräftigen Leberhaken die Treppe hinuntergeworfen.
„Du hast hier nischt mehr zu suchen, merk dir det!“
Ja, Prötzel schied aus, Miezi war ja das einzige Betriebskapital, das er besaß. Und die anderen Stammkunden? Ruhlsdorf hätte nie die Kraft gehabt, die recht robuste Miezi zu erwürgen, und Drognitz war zwar ein infantiler Muskelprotz, konnte aber keiner Fliege was zuleide tun.
Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass es nur einer gewesen sein konnte, den Miezi von der Heißen Ecke her kannte. Die Leute da mussten auf alle Fälle was wissen! Ohne mich weiter zu besinnen, stürzte ich auf die Straße hinunter und schwang mich in meinen schwarzen Mercedes 190 D. Der war zwar schon fünf Jahre alt, machte aber immer noch was her.
Irgendwie fühlte ich mich jetzt als Detektiv, fühlte ich mich berufen, Miezis Mörder zur Strecke zu bringen. Damit konnte ich vorübergehend vergessen, dass ich selbst einer der Tatverdächtigen war, und wenn es mir wirklich gelang, der Kripo den Mörder ans Messer zu liefern, dann war ich selber aus dem Schneider. Ich wollte dem Kerl ans Leder, aus ganz egoistischen Gründen; aber dann wollte ich Miezi auch ... ja: Ich wollte sie rächen.
Mit voller Pulle raste ich die Grunewaldstraße hinunter, erst die auf Rot springende Ampel am Hermann-Ehlers-Platz stoppte mich.
Allmählich, als es die Schloss-, die Rhein- und die Hauptstraße hinunterging und ich alle naselang anhalten musste, kam ich dann glücklicherweise wieder zur Besinnung. Natürlich war es Wahnsinn, jetzt zur Naunynstraße zu fahren und sich nach Miezi und ihren letzten Bekanntschaften zu erkundigen. Wenn einer von der Kripo in der Heißen Ecke saß und mich erkannte, dann konnte ich mich auf einen längeren Aufenthalt im Untersuchungsgefängnis gefasst machen. Ein Mörder kehrt immer wieder zum Tatort zurück!
Ich bremste jäh. Meine Ängste, ich könnte selber der Mörder sein, wurden wieder wach. Es war zum Heulen! Ich war so durchgedreht, dass ich am Innsbrucker Platz beim Einbiegen in den Kreisverkehr einem BVG-Bus der Linie 83 ein paar Gramm gelbe Farbe abschrammte. Wir fuhren sofort an den Rinnstein heran, und der Fahrer machte einen Heidenspektakel, unterließ es dann aber zu meiner großen Erleichterung, einen Funkwagen zu rufen.
Ich ließ meinen Mercedes stehen, wo er gerade stand, und suchte mir ein Restaurant, um erst mal einen Happen zu essen und bei einem Glas Bier mein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.
Das Steak, das ich mir bestellt hatte, war gut, das Bier dafür weniger. Meine Erregung war langsam abgeklungen, aber dafür kam ich mir jetzt furchtbar hilflos und verlassen vor. Ich hatte keinen Menschen mehr, mit dem ich sprechen konnte, dem ich etwas gestehen konnte, der mich verstand. Miezi war tot, zu meinen früheren Freunden konnte ich nicht mehr zurück. Dadurch, dass ich nun ein Bankkonto besaß und obendrein noch in eine piekfeine Gegend gezogen war, hatte ich mich aus ihrer Clique herauskatapultiert. Ich war regelrecht entwurzelt.
Ich zahlte, verließ das Restaurant, setzte mich wieder in meinen Wagen, gab Gas und fuhr ziellos durch die Straßen. Ich hatte Zeit, ich hatte Geld, und trotzdem hätte ich vor Verzweiflung gegen den nächsten Baum rasen können. Gegessen hatte ich, und jetzt am frühen Nachmittag hatte ich noch keine Lust, mich zu betrinken. Ob ich mal versuchte, irgendwo LSD oder Hasch aufzutreiben? Nein, das ging nicht; da hätte ich mich bloß bei den Bullen verdächtig gemacht. Vielleicht ein Mädchen? Das half immer ... Nein, jetzt nach Miezis Tod würde ich nichts zustande bringen. Herrgott, was dann?
Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen, meine Finger zitterten, meine Lippen waren zerrissen, in meiner linken Körperhälfte spürte ich einen ziehenden Schmerz.
Inzwischen war ich kreuz und quer durch Berlin gefahren. Wahrscheinlich wäre das noch stundenlang so weiter gegangen, wenn ich nicht urplötzlich ein Schild mit der Aufschrift Eppinger Straße gesehen hätte. Das war doch Kolczyks Adresse! Ich schreckte hoch.
Mal sehen, wie der wohnt, mal sehen, was der für ’n Haus hat!
Eppinger Straße 81, nach wenigen Sekunden hielt ich in der Nähe einer weiß gekalkten, zweistöckigen Villa. Das Schönste an ihr war der steile Giebel. Ein Haus wie aus einem Märchenbuch, fehlte nur der Rauch, der aus dem Schornstein quillt. Dafür war eines der blumengeschmückten Fenster erleuchtet, eine Stehlampe verbreitete ein mattes Licht. Zu sehen war niemand; sicherlich saß Kolczyk mit seiner Familie zusammen am Kamin und trank Tee. Ich hatte den Geruch dieses Zimmers in der Nase, ich spürte die Wärme, ich hörte die Stimme, doch ich saß draußen vor der Tür, war unerwünscht, wurde gehasst.
Und wenn ich einfach hineinging und mich zu ihnen setzte? Guten Tag! Ich bin ein Schüler von Herrn Dr. Kolczyk und er hat mich zu einer Besprechung gebeten. Ein aufmunterndes Lächeln von Seiten seiner Frau. Nett, dass Sie gekommen sind, treten Sie doch bitte näher! Doch meine Hemmungen waren einfach zu groß.
Das alles wurmte mich mächtig. Hemmungen – einem Mann wie Kolczyk gegenüber? Schließlich hatte ich ihn in der Hand und konnte mir nehmen, was mir gefiel. Schon stieß ich die Wagentür auf, doch wieder ließ mein Verstand rote Lämpchen aufleuchten. Wenn Kolczyk durchdrehte und alles aufflog? Hausfriedensbruch, eine Schlägerei, ein mit Blaulicht heranrasender Funkwagen ... Nein, nein! Ich konnte nicht riskieren, im nächsten Moment in Handschellen abgeführt zu werden.
Sekunden später erschien Kolczyk in der Tür, groß, hager, aristokratisch, aufrecht und stolz. Ein schmales, schönes Gesicht, dunkles, leicht gewelltes kurzes Haar, eine scharf geschnittene Nase, ein ausgeprägtes Kinn. Wie hatte ich mir nur solch einen Gegner aussuchen können!
Verdammt, ich war ja total übergeschnappt; das hier war kein Held, das war nur ein mieser kleiner Professor, ach was, noch nicht einmal Professor, sondern bloß ein popeliger Privatdozent, ein Fachidiot, der ein bisschen was geerbt hatte!
In meiner Erregung hatte ich gar nicht gemerkt, dass inzwischen eine weitere Person auf dem Schauplatz erschienen war. Von der Gartentür her kam ein schlankes, zierliches Mädchen auf das Haus zu. Sie trug eine Jacke aus Lammveloursleder, einen kurzen Schottenrock und dunkle Stiefel. Ein zartes, ein zerbrechliches, ein anmutiges Geschöpf.
Jetzt hatte sie den wartenden Kolczyk erreicht. Er beugte sich etwas zu ihr herab, sie küsste ihn. In ihren Bewegungen war eine Harmonie, die mich faszinierte.
Seine Frau? Kaum, dazu war sie wohl zu jung, sie konnte nicht viel älter als zwanzig sein. Seine Geliebte? Nein, dann hätte er sie nicht in aller Öffentlichkeit geküsst. Eine Studentin? Unsinn! Vielleicht seine Tochter? Dazu war sie wiederum zu alt. Seine Schwester? Wer hat schon eine Schwester, die zwanzig Jahre jünger ist.
Ich wartete fast zwei Stunden, fasziniert und von dem brennenden Wunsch erfüllt, das geheimnisvolle Mädchen noch einmal zu sehen, aber es ließ sich nicht mehr blicken.
Schließlich, es war schon nach achtzehn Uhr und längst dunkel geworden, wendete ich und fuhr nach Hause. Plötzlich hatte ich wieder Mut, plötzlich wollte ich wieder kämpfen.
„Na, endlich! Ich dachte schon, Sie hätten sich abgesetzt.“
In meiner Wohnung wartete Oberkommissar Rannow. Er machte ein ziemlich finsteres Gesicht.