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7. Kapitel

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Betr.: Bernd Ziegenhals.

Anlage zum psychiatrischen Gutachten. Abschrift des Tonbandes 3/3.

Locker assoziierende Selbstdarstellung des Probanden. Vom Autor überarbeitet.

Ich führte das Leben eines Rentners, ohne aber mit meinen knapp sechsundzwanzig Jahren dessen Bedürfnis nach Ruhe und Frieden zu verspüren. Im Gegenteil, alles in mir schrie nach ‚action‘. Doch was sollte ich tun? Ich hatte nun wahrhaftig keine Lust, mich in irgendein Büro sperren zu lassen oder als Vertreter die Häuser abzuklappern. Und in eine Fabrik, wo es nach Schmieröl stinkt, wo man wie ein Affe vor seiner Maschine hockt, bekamen mich keine zehn Pferde mehr. Manchmal spielte ich mit dem Gedanken, einen Laden aufzumachen. Aber womit sollte ich handeln? Vielleicht mit Heringen, Pappschachteln oder Hosenknöpfen? Ich hatte von keiner Branche und keiner Ware genügend Ahnung, und für einen zweiten Mann reichte mein Startkapital nicht aus. Außerdem bekam ich jeden Monat meine 1000 Mark, ohne auch nur einen Finger krumm zu machen.

So stromerte ich Tag für Tag in Berlin herum, hockte stundenlang in Spielsalons, Ausstellungshallen, Restaurants und Kinos herum und las dann, wenn ich nach Hause kam, meterweise Taschenbücher.

Doch das Nichtstun wurde langweilig, und die Ziellosigkeit meines Daseins machte mich krank. Ich litt zunehmend unter Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Schwindelgefühlen, und meine Angst und Spannungszustände verstärkten sich beinahe von Tag zu Tag. Ich bildete mir steif und fest ein, dass Kolczyk zu einem vernichtenden Schlag gegen mich ausholen würde.

Muttchen Braatz hörte mich jede Nacht, wenn ich ruhelos in meinem Schlafzimmer umherwanderte, und am Morgen ermahnte sie mich dann immer:

„Sie sollten sich bald eine Arbeit suchen, Herr Ziegenhals. Dieses faule Leben tut nicht gut.“

Aber es sollte noch schlimmer kommen. Es war an einem Dienstagabend, und ich kam gerade vom Ku’damm, wo ich in der Nähe der Gedächtniskirche ein Rumpsteak gegessen hatte. Während der Fahrt ging mir so allerhand im Kopf herum. Von Mr. Cloward, der Politologie und Soziologie studierte, hatte ich gehört, dass Kolczyk am Sonnabend aus New York zurückgekommen war, und diese Nachricht versetzte mich in größte Verwirrung. Aus Kriminalromanen, Illustrierten und wissenschaftlichen Reports wusste ich, dass es kein großes Kunststück ist, drüben in Amerika einen professionellen Killer aufzutreiben. Mit dem Geld, das Kolczyk besaß, hätte er sich eine ganze Armee leisten können. Und irgendwie war ich sicher, glaubte ich instinktiv zu spüren, dass er diesen Weg gehen würde, um mich loszuwerden. Ich hielt ihn für einen eiskalten Karrieremacher und zweifelte keinen Augenblick daran, dass er meinen Tod beschlossen hatte. Je höher er stieg, desto gefährlicher wurde ich für ihn. So sah ich mich in dutzenden von Albträumen sterben, sah scharenweise Gangster heranschleichen, die mich erschossen, erwürgten, vergifteten, ertränkten, zerschmetterten und zerquetschten. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann musste ich völlig durchdrehen. Meine Fantasie war Kolczyks bester Verbündeter.

Ich bremste jäh. Um ein Haar wäre ich einem feuerroten VW in die Seite gerast. Wieder einmal hatte ich die Vorfahrt nicht beachtet. Ich riss mich zusammen und fuhr im Schleichtempo über den Breitenbachplatz.

Aber nicht nur Kolczyk beunruhigte mich; auch Rannow hatte ich zu fürchten. Er hatte beim Verhör durchblicken lassen, dass ich sein Tatverdächtiger Nummer eins war. Offenbar fehlte ihm nur noch ein handfestes Motiv, um mich festnehmen zu lassen. Mein Alibi war ziemlich wacklig. Der Ober und die Bardamen im Iglu konnten sich nicht mehr so recht an mich erinnern. Zum Glück behauptete niemand, mich zur Tatzeit in der Naunynstraße oder in der Heißen Ecke gesehen zu haben. Aber das könnte sich unter Umständen bald ändern – es gab schließlich genügend Leute, die noch ein Hühnchen mit mir zu rupfen hatten.

Da ich in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung keinen Parkplatz mehr fand, musste ich den Mercedes in der ziemlich stillen Schmitt-Ott-Straße abstellen. Aber es war ein trockener, nicht zu kalter Abend, sodass mich die hundert Meter Fußmarsch nicht weiter störten.

Ich hatte gerade meinen Wagen abgeschlossen und mich zur Grunewaldstraße umgewandt, als hinter mir eine Gartentür quietschte. Ich fuhr herum ... Aus einer Toreinfahrt stürzte ein untersetzter, dunkelhäutiger Mann auf mich zu, ein Sizilianer vielleicht oder ein Jordanier; in der rechten Hand hielt er einen länglichen Gegenstand, offenbar einen Totschläger ... Kolczyks Killer!

Es dauerte einige Sekunden, aber ich konnte mich noch rechtzeitig aus meiner Erstarrung lösen. Wie von Sinnen rannte ich zur Grunewaldstraße hinüber, wo wenigstens ein schwacher Autoverkehr herrschte. Der Mann folgte mir und schrie etwas hinter mir her.

Am ganzen Körper fliegend, erreichte ich die Gartentür, stieß sie auf und hetzte auf das Haus zu. Dort baumelte eine lichtstarke Laterne. Eine bessere Zielscheibe konnte sich der Mann gar nicht wünschen. Mit zitternden Fingern schloss ich die Haustür auf und verschwand im Flur. Von meinem Verfolger war nichts mehr zu sehen.

Ich lief die Treppe hinauf und warf mich keuchend auf meine Liege. Es dauerte zehn Minuten, bis ich wieder normal atmen konnte. Ich stand auf und goss mir einen Weinbrand ein.

Dann stellte ich das Radio an, setzte mich in meinen Korbsessel und schloss die Augen. Langsam flaute meine Erregung wieder ab. Ich wurde müde. Schließlich hatte ich in den letzten Nächten kaum geschlafen; die Angst hatte mich wach gehalten ...

Ich schreckte hoch, als sie im SFB die Zehn-Uhr-Nachrichten ansagten. Ich stand auf und wollte zur Toilette gehen.

Im gleichen Augenblick ging auch Mr. Clowards Tür auf. Im Türrahmen stand der Mann, der mich verfolgt hatte ... Ich schrie gellend; dann wurde es um mich herum neblig und dunkel.

Ich kam erst wieder zu mir, als mir Muttchen Braatz Baldriantee einzuflößen versuchte. „Sie machen schon Sachen, Herr Ziegenhals – ich muss schon sagen!“

Es stellte sich heraus, dass der vermeintliche Killer Lai Wadhwani hieß, aus Bombay kam und einer von Mr. Clowards vielen Freunden war. Er hatte Clowards Adresse nicht mehr genau im Kopf gehabt und war mir lediglich gefolgt, um sich bei mir nach dem Amerikaner zu erkundigen. Der Totschläger erwies sich als harmloser Regenschirm ... Ich lachte zwar mit den anderen mit, war aber zutiefst erschüttert, wie weit es schon mit mir gekommen war.

Natürlich konnte ich auch in dieser Nacht nicht schlafen. Ich verfluchte den Augenblick, in dem ich Kolczyks Plagiat entdeckt hatte.

Am nächsten Morgen setzte ich mich in das Wartezimmer von Dr. Sievers, einem Praktiker, dessen Schild ich in der Nähe von Kolczyks Villa entdeckt hatte. Er konstatierte fortgeschrittene Funktionsstörungen im vegetativen System.

„Ganz klar, die Reizschwelle in der Formatio reticularis liegt bei Ihnen viel zu niedrig. Dieses übergeordnete Steuerungszentrum des gesamten Vegetativums reagiert bei Ihnen schon auf jeden Bagatellreiz mit außerordentlicher Heftigkeit. Ich gebe Ihnen ein Beruhigungsmittel mit ...“

Ich bedankte mich für sein Ärztemuster und ließ mir von seiner Gehilfin ein paar Kubikzentimeter Blut abzapfen.

Noch im Auto schluckte ich die erste der rosafarbenen Pillen. Doch ehe sie ihre Wirkung tun konnte, traf mich der nächste Schock.

Als ich in mein Zimmer kam, entdeckte ich auf dem flachen Couchtisch einen länglichen Briefumschlag, der zwar meine Anschrift, aber keinen Absender trug. Mir schwante schon nichts Gutes, als ich ihn aufriss. Mit feucht gewordenen Fingern zog ich die Fotokopie eines amtlich aussehenden Schriftstücks heraus ... Englischer Text? Nanu! Erregt überflog ich die Zeilen.

Sie haben ja den Brief zu den Akten genommen, in dem Charles Emery an Eides statt erklärt hat, Kolczyk habe ihm die Arbeit mit dem Titel ‚Social Change in Pattons Landing> geschrieben. Siegel, Unterschrift – alles vorhanden. Kolczyk hatte also im Endeffekt nur seine eigene Arbeit übersetzt ... Können Sie sich vorstellen, wie mir zumute war?

Aus, dachte ich, alles ist aus! Ich hatte verloren, ich war endgültig gescheitert. Das Leben hatte keinen Sinn mehr ...

In den nächsten Minuten handelte ich wie unter einem inneren Zwang; alles, was ich tat, war schon irgendwann einmal programmiert worden. Vor einiger Zeit hatte ich einen Film gesehen, in dem sich ein Mann im Auto vergiften wollte. Ich stürzte auf den Flur hinaus. In der kleinen Kammer lag ein alter Gartenschlauch. Ich riss ihn heraus, lief zum Wagen hinunter, fuhr los.

Ich fuhr wie ein Roboter. Es dauerte keine Viertelstunde, dann hatte ich den Grunewald erreicht. Ich hielt an einer einsamen Stelle – wo es war, kann ich nicht mehr genau sagen, wahrscheinlich in der Nähe von Paulsborn.

Ich sprang hinaus. Nur keine Zeit mehr verlieren, nur nicht weich werden! Der Auspuffstutzen war heiß; ich verbrannte mir die Finger, aber es gelang mir, den Schlauch darüber zu schieben. Das andere Ende klemmte ich im daumenbreit geöffneten Fenster fest. Schon saß ich wieder auf dem Vordersitz, zog die Tür hinter mir zu und machte mich daran, die Öffnung zu verstopfen ... Zehn Minuten noch, dann musste alles ausgestanden sein.

Doch plötzlich riss der Lochstreifen, der mein Verhalten gesteuert hatte.

Ich erwachte wie aus einer Hypnose. Mir war, als würde Kolczyk vor mir auftauchen, grinsend und triumphierend, als Sieger. Und diesen Sieg gönnte ich ihm nicht. Wenn ich jetzt starb, dann sollte auch er sterben, den gesellschaftlichen Tod sterben!

Fieberhaft suchte ich nach einem Kugelschreiber, nach einem Stück Papier. Aber ich hatte nichts bei mir.

„Dann kann ich also auch noch nicht sterben“, sagte ich laut.

Allmählich hatte wohl auch das Sedativum zu wirken begonnen; jedenfalls klang meine Erregung so weit ab, dass ich wieder denken konnte. Und mit der Assoziation Kolczyk und Tod kam mir schlagartig die Erkenntnis, dass die Erklärung dieses Emery auch eine raffinierte Fälschung sein konnte: Womöglich war der Mann schon längst tot und konnte sich nicht mehr wehren? Oder Kolczyk hatte das alles einfach ganz ohne Emerys Wissen eingefädelt – wer wollte das wissen?

Ich wollte es wissen!

Ich riss den Schlauch vom Auspuff, warf ihn ins Gebüsch, wendete und raste den Hüttenweg entlang, bis ich auf die Clayallee stieß. Keine fünf Minuten später hatte ich die Universitätsbibliothek in der Garystraße erreicht. Unmittelbar gegenüber, in der Hittorfstraße, fand ich auch ohne längeres Suchen einen Parkplatz. Ich schloss den Wagen ab und lief ins erste Stockwerk hinauf, wo, wie ich wusste, im Durchgang zum Henry-Ford-Bau ein dicker Wälzer mit den Anschriften aller amerikanischen Verlage stand.

Es dauerte auch nicht lange, dann hatte ich Ort und Telefonnummer der Duke University Press gefunden. Ein schneller Blick in meine Brieftasche zeigte mir, dass ich über 150 Mark bei mir hatte. Das langte garantiert für ein kurzes Gespräch nach North Carolina.

In höchster Spannung, aber eher beschwingt als deprimiert fuhr ich zum Postamt am S-Bahnhof Lichterfelde West. Der junge Beamte dort sah mich etwas erstaunt an, sagte aber nichts. Und keine zwanzig Minuten später hatte ich die Duke University in Durham, North Carolina, an der Strippe.

„Please, give me Mr. Charles Emery!“, sagte ich und war ziemlich sicher, dass ich mich ungeschickt ausdrückte.

Aber die Telefonistin kapierte, was ich wollte, und verband mich mit dem Personalbüro, wenn ich recht verstand. Und dann, nachdem ich meinen Wunsch vorgebracht hatte, sagte eine Männerstimme:

„I can’t help you, I’m afraid. Mr. Emery died last year.“

Emery war tot. Im vergangenen Jahr gestorben ...

„Hello ...?“, quäkte der Hörer. „Is there anytbing else.

Ich legte wortlos auf.

Kolczyk hatte geblufft ... Ich achtete nicht darauf, was mir der Beamte auf meinen blauen Hunderter herausgab; ich sah nur, dass zwei Groschen beim Wechselgeld dabei waren, und stürzte wieder in die Zelle. Erst wählte ich die Nummer der Universität, 76 90, dann Kolczyks Apparat.

„Ja, Kolczyk ...“

„Meinen herzlichsten Glückwunsch, Herr Dr. Kolczyk! Sie sind der erste Mensch, der Tote dazu bringen kann, Erklärungen abzugeben ... Haben Sie Charles Emery wenigstens ein paar Blumen aufs Grab gelegt?“

Er schien nach Luft zu schnappen, blieb aber beherrscht. „Nein, die spare ich mir für Ihre Beerdigung auf.“

„Da müssen Sie sich schon was Besseres einfallen lassen!“

„Ach, wissen Sie, Ziegenhals – es gibt auch hier in Berlin genügend Leute, die für Geld alles tun ...“

„Dann bin ich ja wohl im Gefängnis am besten aufgehoben. Vielleicht treffen wir uns mal beim Rundgang auf dem Hof ...“

Mörder kennen keine Grenzen

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