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4. Kapitel

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ZWISCHENSPIEL MIT EINEM MORD

Es war ein trüber Tag, feiner Sprühregen ließ Steine, Blätter und Busse glänzen, und sogar in den sparsamsten Büros brannte mittags noch Licht. Die große Stadt roch irgendwie nach Katzendreck. Die Menschen waren mürrisch und niesten, träumten von warmen Betten und Sonnenstränden und dachten an die Friedhofsbesuche, die nun wieder fällig waren. Wie lange würde es noch dauern, bis man ihre eigenen Namen in die wartenden Steine meißelte?

Miezi, in den Akten zuständiger Behörden als die Prostituierte Marianne Ihlow geführt, überquerte die breite Hasenheide und passierte den Eingang zum Park. In einem leichten Bogen stieg sie zum dunklen Denkmal des Turnvaters Jahn hinauf. Ein paar Kinder, die Ranzen auf dem Rücken, versuchten die Inschriften auf dem Sockel zu entziffern. Zwei schwarz gekleidete Muttchen priesen die Tugenden ihrer längst verstorbenen Ehemänner. Ein rüstiger Rentner, der seine tägliche Runde durch den weiten Park drehte, blieb oben an der Brüstung stehen und sah träumend zu, wie Miezis Knie bei jedem Schritt den Saum des beigefarbenen Lammfellmantels teilten.

Das Mädchen bemerkte ihn nicht. An diesem Tag war alles anders als sonst. Ziegenhals war zwar schon ein paar Tage fort, aber erst jetzt kam ihr zu Bewusstsein, was das für sie bedeutete. Mit seinen Späßen hatte er das Leben erträglich gemacht; hatte nie auf sie herabgesehen – und wenn er mit ihr geschlafen hatte, dann nur, weil sie eine junge und nett aussehende Frau war ... gemeinsam hatten sie über die bürgerlichen und ehrbaren Frauen gelacht, die jeden Morgen in stickige Büros rannten oder ihre schniefnasigen Kinder für den Schulgang herrichteten. Das war nun alles vorbei.

Miezi stieg auf gewundenen Wegen zur Rixdorfer Höhe hinauf, um zu sehen, ob drüben in Tempelhof schon wieder Flugzeuge aufstiegen. Ihr Körper kam ihr plötzlich schwer und unförmig vor, in den braunen Stiefeln schien Blei zu stecken. Sie war 32 Jahre alt, die Hälfte ihres Lebens konnte schon vorüber sein. Was sollte sie mit den verbleibenden Jahren anfangen? Sie hatte die Männer, die zu ihr kamen, bis oben hin satt. Sie waren brutal und verachteten sie. Und nun war Ziegenhals fort und mit ihm der letzte Rest von Heiterkeit.

Sie erreichte die Anhöhe und wandte sich nach Süden, wo sich der Nebel lichtete und das weite Flugfeld freigab. Eine silberne Boeing 727 verschwand in der Waschküche über Neukölln. Ganz hinten kroch ein kurzer S-Bahn-Zug zum Bahnhof Hermannstraße. Ein aufgeplusterter Spatz hüpfte in ihre Nähe und blickte mit flinken Knopfaugen erwartungsvoll zu ihr herauf. Doch sie hatte keine Brotkrümel bei sich.

Was mochte aus Ziegenhals werden? Sie stellte sich vor, wie er in einigen Jahren in einer hübschen kleinen Wohnung saß, eine hübsche Frau im Arm hielt und auf einen blonden Sohn hinunterblickte, der auf dem bunt gemusterten Teppich mit einer elektrischen Eisenbahn spielte. Bilder und Szenen aus einer friedlichen und sorglosen Welt. Die elegische Stimmung hatte sie mitgerissen, ließ sie alles grau in grau sehen.

Und wenn sie nun wieder arbeiten ging, wieder Relais justierte und Kupferdrähte an Messinglaschen lötete, wenn sie sich woanders ein Zimmer nahm, wenn sie Ziegenhals bat, ihr zu helfen? Er war ja auch von seinem alten Leben losgekommen, wenn sie auch nicht wusste, wie.

Doch als sie dann zum Columbiadamm hinunterstieg, um vom U-Bahnhof Boddinstraße aus nach Hause zu fahren, bekam sie Angst vor ihrem eigenen Mut. Sie sah die Kolleginnen hinter ihrem Rücken tuscheln, sah sich als Freiwild für jeden lüsternen Mann, sah sich verspottet und gemieden. So eine, nee!

Sie bummelte durch die grauen Geschäftsstraßen, suchte sich in einem Kaufhaus ein hellgrünes und ein malvenfarbenes Unterkleid aus und berechnete schon wieder deren Wirkung auf ihre Verehrer. Mit einem Mal war die gedrückte Stimmung verflogen, als habe sie eine kleine Flasche Sekt getrunken. Sie beschloss, eine Curry-Wurst zu essen und sich dann um achtzen Uhr im Kino einen Western anzusehen. Nach der Vorstellung konnte sie dann Babsy abholen und sehen, wie die Konjunkturlage war.

In der Nähe des Kinos fand sie eine hölzerne Imbissstube mit ein paar fleckigen Barhockern. Sie rutschte auf den ersten besten hinauf, winkte dem knollennasigen Inhaber und bestellte eine Curry-Wurst.

„Scharf?“

„Nee, mittel. Und ’n kleines Helles!“

Hinten in der Ecke hantierte ein Jüngling in einer weinroten Lederjacke an einem Spielautomaten. Nach ein paar Sekunden fiel ihr ein, dass er schon mal bei ihr gewesen war. Doch jetzt mied er ihren Blick, offenbar gehörte das rundliche Mädchen vor der Musikbox zu ihm, und er schämte sich.

Miezi lief das Wasser im Mund zusammen, sie hatte mächtigen Hunger. Fast riss sie dem Mann mit der Knollennase den Pappteller aus der Hand. Schon hatte sie den ersten Bissen aufgespießt.

„Na, Miezi, schmeckt’s?“

Sie fuhr herum, fast glitt sie vom Barhocker. „Ach – du bistet! Opa Melzer hat ma schon erzählt, dass de wieda im Lande bist.“

„Da staunste, wa?“ Der Mann, bei dessen Anblick sie zusammengezuckt war, schlug ihr lachend aufs Hinterteil. „Mensch, mach den Mund zu, sonst kommt ’ne Flieje rinn! Meister, ’nen doppelten Korn, aber ’nen kalten, wenn’s jeht!“

Miezi starrte auf den länglichen Pappteller und kratzte mit ihrem hölzernen Pieker den Tomaten-Ketschup zusammen.

„Wo warste denn die janze Zeit üba?“, fragte sie schließlich.

„Na, weg!“ Der Mann grinste und stürzte den kühlen Klaren hinunter. Er war etwas jünger als sie und hatte gelocktes rötliches Haar. Er hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Mitglied einer Gang, die auf ihren Motorrädern die Stadt unsicher gemacht hatte, Sparringspartner in einer kleinen Boxschule, Helfer in einem Zirkus, Mitglied einer Einbrecherbande, die sich auf Nerze spezialisiert hatte, Zuhälter von Babsy und Miezi, Ladearbeiter bei der AEG, Busschaffner bei der BVG und schließlich Matrose auf einem verrosteten griechischen Frachter. Zwischendurch hatte er sich in den Zellen von Plötzensee und Tegel erholt und weitergebildet.

„Warst wohl wieda in Tejel, wa?“, wollte Miezi wissen.

„Nee, in Kapstadt, Bombay und Hongkong!“

„Biste mehr jefahren oder haste mehr jesessen?“

„Frag doch nich so dämlich!“ Er warf zwei Münzen auf die blaue Resopalplatte. „Stimmt so! Komm, jehn wa!“

Er zog Miezi aus der warmen Imbissstube und legte draußen den Arm um ihre Schulter. Er war etwas kleiner als sie, untersetzt und stämmig, so dass sie figürlich gar nicht zueinander passten. Auf seinem dunklen Anorak spielten Lichtreflexe.

„Was willste denn nu machen?“

„Wir tun uns wieda zusammen! Dein Ziegenhals is ja nu weg ...“

Miezi blieb stehen und sah ihn an. Scheinwerfer streiften sie, über ihnen rumpelte die Hochbahn, gelbe Taxenschilder leuchteten auf, Ampeln sprangen von Rot auf Gelb und Grün, Menschen hasteten vorbei, mit Gesichtern wie Masken, von bunten Plattenhüllen lächelten langmähnige Stars, ein Kofferradio plärrte, die Straße drehte sich, drehte sich immer schneller, sie saß in einem Karussell. Von irgendwoher kam eine heisere Stimme, die ihr fremd war.

„Ick mach nich mehr mit, ick hab die Neese voll!“

„Wohl varückt jeworden, wa?“

„Nee, aba jeheilt! Ick komm schon durch, ick brauch dir nich!“

„Du hast ja ’ne Macke!“ Der Mann schlug sich gegen die Stirn, blieb aber beherrscht. Er wirbelte Miezi herum und nahm sie in die Arme. „Ick komm noch mit zu dir ruff und dann bequatschen wa allet!“

„Kommt nich in die Tüte!“ Sie versuchte sich loszumachen.

„Ick hab ma so uff dir jefreut, keene kannet so wie du! Eene Mal wenigstens, ja ...?“

„Lass mich los!“

„Du kommst mit!“

„Ick schreie gleich!“

„Nu sei doch vernünftich, ick zahle ooch dafür!“

„Hau ab, du stinkst mir zu sehr!“ Miezi riss sich los und lief über die Fahrbahn. Reifen quietschten, ein grauer Opel geriet ins Schleudern, der Mann sprang auf den Bürgersteig zurück.

Miezi flüchtete sich in den schwach erleuchteten Kassenraum des Kinos und spähte vorsichtig durch die Scheibe. Aber der Mann verfolgte sie nicht. Aufatmend löste sie sich eine Karte für die fünfzehnte Reihe und verschwand im abgedunkelten Zuschauerraum, in dem kaum mehr als ein Dutzend Leute die Werbespots verfolgten. Sie ließ sich neben einem älteren Ehepaar nieder und kramte in ihrer Tasche nach einem Kaugummi. Am liebsten hätte sie geheult.

Der Schreck saß ihr noch immer in den Gliedern, und vom Kulturfilm und von der Wochenschau bekam sie kaum etwas mit. Was nun? Sie fühlte sich unendlich hilflos.

Dann flimmerte der Hauptfilm über die breite Leinwand. Sie wusste nicht einmal den Titel. Aber die Handlung riss sie schließlich mit. Eine vorgeschobene Präriestadt war unter die Herrschaft einer kleinen Banditenclique geraten und wurde von ihr tyrannisiert und ausgebeutet. Nur Tim, ein junger und natürlich gut aussehender Farmer, hatte den Mut, es mit den Bösewichtern aufzunehmen. Schließlich streckte er im letzten Showdown den Anführer der Banditen nieder und befreite die dankbare Stadt. Aber ohne die Hilfe der schönen Maggy hätte er es natürlich nie geschafft.

Als das Licht anging, hatte Miezi sich wieder beruhigt. Geld war kein Problem, das hatte sie. Sie würde am nächster Morgen nach Hannover fliegen und sich dort eine kleine Wohnung nehmen. Bestimmt würde sie irgendwo als Serviererin ankommen. Von Minute zu Minute schrumpften die Hindernisse zusammen, die eben noch himmelhoch gewesen waren.

Auf dem Nachhauseweg traf sie Babsy, die auf dem Weg zu ihrem Revier war. Miezi erklärte ihr kurz, dass sie ihre Tage früher als erwartet bekommen habe, und stieg dann die zwei Stufen zur Heißen Ecke hinauf, um noch schnell ein Bier zu trinken. Die Curry-Wurst von vorhin hatte Durst gemacht.

Kaum hatte sie hinten an der Toilettentür Platz genommen, als auch schon Rulle Ruhlsdorf neben ihr saß.

„Is dir ’ne Laus üba de Leba jeloofen?“, wollte Rulle sogleich wissen. „Du kiekst ja wie ’n Auto.“

„Dat jeht dir ’n feuchten Kehricht an.“ Miezi leerte ihr Tulpenglas zur Hälfte. Sie mochte den spillrigen Ruhlsdorf nicht, er roch wie ein Pferd und war von einer fürchterlichen Ausdauer. Außerdem hatte er eine Hasenscharte.

„Wenn de auf Tour bist, könn wa jehn, ick kann ma kaum noch halten.“

„Nee, heute is nischt.“

„Hastet wohl nich mehr nötich, wa? Na schön, jibt ja ooch noch andere!“

Ruhlsdorf schwirrte ab. An der Theke traf er mit seinem Freund Jünne Drognitz zusammen. Er deutete auf Miezi und flüsterte Drognitz etwas ins Ohr. Der bullige Drognitz nickte nur kurz. Wenig später zahlten sie und verließen die Heiße Ecke.

Miezi blieb noch eine Weile sitzen, erst gegen zweiundzwanzig Uhr trat sie auf die menschenleere Naunynstraße hinaus. Es hatte angefangen zu regnen, von Nordosten her blies ein kalter Wind durch die Straßen, in den meisten Fenstern waren die Lichter verloschen, hin und wieder hastete ein vermummter Fußgänger an ihr vorbei, vor einem Seifengeschäft wurde eine Autotür zugeschlagen. Miezi zog ihren Schal fester um den Hals und beschleunigte ihre Schritte. Die Würfel waren gefallen, und sie war eigentlich froh darüber. Es würde schon klappen, und wenn nicht, dann konnte sie ja jederzeit wieder zum Strich zurück. Aber sie war ganz sicher, dass sie es diesmal schaffte. Sie pfiff vor sich hin.

Wenig später stand sie vor ihrer Haustür. Sie öffnete ihre Tasche und suchte nach dem Schlüssel. Über ihr in den niedrigen Wolken dröhnte eine Düsenmaschine, gegenüber flackerte noch ein Fernsehapparat, im dritten Stockwerk feierten sie Geburtstag und sangen bei offenem Fenster Verse vom Sanitätsgefreiten Neumann.

Miezi kannte die Leute und beschloss, mitzufeiern. Es war ihr letzter Abend hier in Berlin, ihr letzter Abend als Nutte, und das musste begossen werden.

In dem Moment fiel ihr ein, dass sie um zweiundzwanzig Uhr dreißig mit diesem Dr. Kolczyk am Görlitzer Bahnhof, an der Hochbahn, verabredet war. Er wollte was über Ziegenhals hören, richtig. Na, über den konnte sie stundenlang reden. Verrat hin, Verrat her, die Piepen kamen ihr jetzt sehr gelegen. Außerdem – wer hatte denn wen verraten? Schließlich hatte Ziegenhals sie sitzen lassen. „Ick jehe“, murmelte sie. „Klar jehe ick hin!“ Aber vorher wollte sie noch schnell nach oben, die Toilette aufsuchen und sich ein bisschen waschen. Sicherheitshalber. Der wäre kein schlechter Schlussstrich gewesen. Vielleicht war er auch ein neuer Anfang, wenn sie ihn richtig anfasste.

Sie hatte die massive Tür hinter sich verschlossen und tastete nach dem Lichtschalter, der sich etwas weiter hinten befand. Das rote Glimmlämpchen, das ihn markierte, war der einzige Orientierungspunkt, den sie besaß. Doch sie hatte diesen Flur schon einige tausend Mal durchquert. Gleich hinter dem Lichtschalter führte die Treppe nach oben. Es roch nach nassem Holz, feuchtem Mörtel und Kohlrüben. Die Tür zum Hof stand offen und eine eklige Kälte fuhr herein. Miezi blieb einen Augenblick stehen, um zu niesen.

In dieser Sekunde flammte irgendwo im Hinterhaus eine Lampe auf, und durch ein schmales Fenster über der Tür fiel ein wenig Licht in den hohen Flur. Miezi, die gerade die Hand zum Schalter führte, prallte zurück. Auf einem schmalen Treppenpodest, einen halben Meter über ihr, kauerte ein Mann. Sie erkannte es an der Hose, sie roch es irgendwie. Doch ehe sie noch den Mund aufgerissen hatte, um zu schreien, war er wie eine riesige Fledermaus auf sie herabgestürzt. Miezi wurde zu Boden gerissen, eine raue Hand verschloss ihren Mund. Ihr war, als würde ein Panzer über sie hinwegrollen. Mein Gott, das muss doch ein Irrtum sein! Sie fühlte noch, wie ihr Rock zerfetzt wurde.

Mörder kennen keine Grenzen

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