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Die Zeit nach Haider
ОглавлениеWir bedauerten alle sehr, dass Erhard Haider uns mit seiner Susi verließ. Dieser Abschied erfolgte etwa um die Zeit, als ich mich mit meinem Steißproblem gerade zu Hause in Bürgel herumdrückte. Auch das Klavier im Speisesaal stand nun unbenutzt herum, denn Susi war ja nun nicht mehr da, um darauf zu spielen. Ihr Spiel hatte bei mir den Wunsch aufkommen lassen, das Klavierspielen selbst zu erlernen.
Als unser Betreuer fungiere vorläufig der Steffel. Er trug fast nur enge Hosen, zu denen er Kniestrümpfe oder auch Trachtenstrümpfe trug. Während Haider mit uns Hitlerjugenddienst abhielt, geschah auf dieser Strecke nun nichts mehr. Auch die Abende, wo uns Haider zum Singen zusammen holte und wir auch neue Lieder lernten, fielen nun aus. Steffel machte das alles nicht. Saßen wir bei Haider gesittet bei Tisch und sprachen während und nach dem Essen im gedämpften Ton, ging es bei Steffel recht turbulent zu.
Der Höhepunkt fand aber zwischen Hüsing und mir statt. Es war nach einem Abendessen im Speisesaal. Es war so laut, dass man kaum noch sein eigenes Wort verstehen konnte. Hüsing, der nun auf dem Platz des Stubenältesten saß, nämlich an der vorderen Stirnseite des ersten Tisches, fuchtelte mit seiner Leuchtpistole herum. Ich hatte meinen Platz wie üblich als erster links neben dem Stubenältesten, also nun Hüsing. In dem Lärm hielt mir Hüsing seine Leuchtpistole mit dem Lauf unter das Kinn und fragte: „Soll ich dich erschießen?“ Im gleichen Moment drückte er ab und ein Schuss hallte durch den Speisesaal. Ich sprang vor Angst auf und warf fast die Bank um, auf deren hinterem Ende Steffel saß. Mein Mund und meine Augen waren wie mit Sand beworfen und ich spuckte und schrie und rieb mir die Augen. Nach dem Schuss war schlagartig Ruhe eingetreten. Hüsing und Steffel kamen zu mir, während ich neben dem Tisch nun herum spuckte. Ich bemerkte bald, dass mir nichts weiter passiert war. Mein Kinn schmerzte zwar etwas, doch es war noch vorhanden. Nach und nach konnte ich wieder sehen, obwohl es mir schien, als hätte ich eine Schaufel voll feinen Sand in die Augen bekommen. Auf die besorgten Fragen von Steffel und Hüsing konnte ich abwinken und beruhigte sie, dass nichts weiter passiert sei. Ich vermute, dass der Leuchtsatz der Patrone ein Blindgänger war, sonst wäre ich nicht so ungeschoren davongekommen. Hüsing suchte nun nach allen möglichen Entschuldigungen, doch ich konnte nur fordern, dass er solchen Unsinn nicht noch einmal vollführen möge. Das versicherte er natürlich.
Mit Steffel ging es noch einige Wochen so weiter. In unsere Stube, in der durch den Auszug von Robert Kleingünter ein Bett und ein Spind frei geworden waren, zog ein anderer ein: Hans Plachetka aus Breslau. Er kam einfach aus einer anderen Stube zu uns und legte sich in das freie Bett. Den Spind räumte er vorerst noch nicht ein. Hans Plachetka verstand es, unter dem Vorwand, zum Schuhmacher zu müssen, sich Ausgang zu verschaffen. Er erfand auch noch andere Gründe, in die Stadt zu kommen. Steffel ließ ihn gehen. Als wir aufmucken wollten, kam ein neuer Heimleiter.
Der neue Heimleiter war Lehrausbilder Peschke. Der stammte zufällig auch aus Breslau. So bekam Plachetka die Oberhand und zog entgültig bei uns ein. Bei Haider gab es derartige Ausnahmen in der Regel nicht. Wer bei ihm in die Stadt wollte, musste das konkret nachweisen. Mit Plachetka hatte sich aber ein Zuträger in unsere Stube eingenistet.
Zunächst hatten wir unseren Spaß mit Plachetka. Nachdem wir gemerkt hatten, dass er im Schlaf zu sprechen begann, fragte Hüsing ihn abends, wenn er schlief, aus. Wenn Plachetka nicht gleich antwortete, führte ihn Hüsing mit ruhiger Stimme geduldig zu dem Thema, das uns interessierte. Dabei entdeckten wir, dass Plachetka mitunter großkotzige Vorstellungen hatte. So träumte er uns vor, dass er mit Hitler zusammengetroffen sei, in verschiedenen Varianten und an anderen Tagen. Er faselte von Vorbeimärschen und grüßte dabei mit dem Hitlergruß, wobei er, auf dem Rücken im Bett liegend, den Arm zum Gruß anhob. Ab und zu wurde er munter. Dabei schmatzte er, als würde er etwas essen. Hüsing wartete dann, bis Plachetka wieder eingeschlafen war. Für unseren Spaß büßten wir aber einen Teil unsere Nachtruhe ein.
Mit Peschke wehte nun ein neuer Wind im Heim. Es war kein scharfer Wind, aber ein unguter. Bei Haider waren wir alle gleich. Der neue Heimleiter war hinterlistig und unaufrichtig. Peschke war zuvor schon ab und zu im Heim. Daher kannten wir schon etwas seine Unaufrichtigkeit. Nun hatte er uns in der Hand. Ich kann nicht sagen, was in dem damaligen zweiten und dritten Lehrjahr vorgefallen war. Peschke dirigierte die meisten von ihnen in Privatquartiere. So nach und nach erfolgte auch in unserem Lehrjahr eine Aussonderung.
Als Peschke das Heim übernommen hatte, gab er an, uns etwas schönes anzutun. Er weckte uns früh mit Musik. Dazu hatte er in jeder Stube Lautsprecher installieren lassen. Er besaß aber nur eine Schallplatte und so ertönte jeden zweiten Tag das gleiche Lied. Wir, in unserer Stube, hatten den Einbau der Lautsprecher nicht bemerkt. Um so erschrockener waren wir, als an dem betreffenden Morgen die Musik ertönte. Nach der Musik erklang Peschkes schleimige Stimme, als er zweimal rief: „Aufstehen!“
Als erstes Lied erklang das Lied der Legion Condor, wie die Einheit genannt wurde, die in Spanien die faschistischen Truppen des General Franko bei der Niederschlagung der frei gewählten Volksfront unterstützten. Im Text hieß es: „Wir flogen jenseits der Grenzen, mit Bomben gegen den Feind … “ Das zweite Lied: „Michel horch‘ der Seewind pfeift. Horch und spitz die Ohren. Wer nicht jetzt in‘s Ruder greift, hat das Spiel verloren … “ – Mit diesen zwei Liedern holte uns Peschke jeden Morgen aus dem Bett.
Das wurde uns allmählich lästig und wir meckerten. Auch andere Sachen, die Peschke anstellte, gefielen uns nicht. Aufgefallen war uns natürlich, dass Plachetka noch öfter am Abend Ausgang bekam als vorher. Wollten andere, zum Teil auch dringend, in die Stadt, schien das unmöglich zu sein. Das Leben im Heim war verändert und es herrschte eine unruhige Stimmung. Waren Haiders wie Eltern für uns, gab es nun ein Gefühl der Leere. Peschke hatte inzwischen einigen Lehrlingen das Betreten des Heimes verboten. Zum Abendessen war es inzwischen schon wieder recht hell, da kam einer dieser Lehrlinge in den Speisesaal und wollte zu einem anderen Lehrling. Das wollte Peschke nicht zulassen und packte den „Eindringling“ am Kragen vorn an der Brust und bugsierte ihn bis zur Tür, die gleich neben dem Kücheneingang lag. Also in direkter Nähe meines Platzes. Peschke zwang den Gepackten mit dem Rücken zur Tür. Der hielt sich aber nun links uns rechts mit den Händen am Türrahmen fest und rief: „Kamerad Peschke, wenn ihnen ihr Leben lieb ist, lassen sie mich los. Ich trete ihnen sonst sämtliche Rippen ein!“ Auf das Gejohle, was aus dem Speisesaal erklang, gab Peschke dann wohl nach. Der an der Tür stehende Lehrling rief noch etwas in den Saal und ging. Nun war die Stimmung im Heim noch weiter angeheizt.
In unserer Stube hatte es im Frühjahr einen weiteren Neuling gegeben. Der Lehrling Franke aus Blankenhain war ausgeschieden. Er wollte Graveur werden. An die wurden sehr hohe Anforderungen gestellt. Das mussten Künstler sein, sollten sie doch später in der Lage sein, feinste Bilder auf die Waffen zu gravieren.
In Frankes freies Bett zog ein neuer: Wilhelm Höfert aus Kühlsheim im Badischen, also ein Schwabe. Er hatte vor, Maschinenbauer zu werden. Bei ihm ging es wohl auch um die Fortsetzung einer begonnenen Lehre. Er war ebenfalls älter als wir, die noch im ersten Lehrjahr waren.